CXVI. Der allwissende Bauernbursche.

[408] Lbs. 536 4 to. Von Páll Pálsson in Árkvörn nach der Erzählung der alten Frau Guðriður Eyolfsdóttír 1863/4 niedergeschrieben.


Ein Bauernpaar hatte einen Sohn namens Kresent oder, wie die Eltern ihn nannten, Kres. Wie er erwachsen ist, zieht er aus, um sich Ehre und Reichtum zu erwerben. Er kommt in ein Königreich und wohnt hier bei einem Bürger. Einst sieht er die wunderschöne Königstochter Ingibjörg und wird von Liebe zu ihr ergriffen. Von dieser Zeit an geht er schweigend und wie im Traume umher. Sein Wirt fragt ihn, weshalb er so in sich gekehrt sei. Kresent sagt, das käme daher, weil er so viel mehr wie andere erfahre und wisse. Daheim sei er von allen ein Weiser und Wahrsager genannt worden. Der Wirt hat nun schleunigst nichts anderes zu tun, als dem Könige mitzuteilen, welch ein bedeutender Gast in das Königreich gekommen sei. Der König ist hocherfreut und ladet sogleich Kresent zu sich an den Hof als Wintergast. Eines Tages will der König die Wahrsagekunst des Kresent erproben. Er trägt ihm auf zu sagen, ob das Kind, das die Königin erwarte, ein Knabe oder ein Mädchen sei. Kresent ist über diese Frage in grosser Verlegenheit und bittet sich drei Tage Bedenkzeit aus. Als er nach dieser Zeit nun antworten soll, ist er so klug eigentlich wie vorher, sagt aber schliesslich aus reiner Verzweiflung, er müsse fast vermuten, dass die Königin Zwillinge bekomme. Denn wenn sie in die Halle hineinginge, so schiene ihm das Kind ein Knabe, wenn, sie aber hinausginge, so schiene es ihm ein Mädchen zu sein. Nach einiger Zeit gebiert die Königin wirklich einen Knaben und ein Mädchen, und nun steht Kresent beim Könige in hohem Ansehn. Einst hat der König eine grosse Gesellschaft geladen. Zu[408] diesem Feste hatte er seinem neuen Koch befohlen, ein Gericht zu bereiten, das niemand kennt. Neugierig fragen sich die Gäste, was das wohl sein könne. Der König hat seine Freude an ihrem Staunen und verkündet, er wolle ein prächtiges Obergewand und einen Goldring demjenigen schenken, der den Namen dieses Gerichts errate. Kresent, der natürlich den Namen ebensowenig kennt, sagt halblaut vor sich hin: »Nun weiss nicht einmal Kres, was er sagen soll.« Das Gericht hiess aber Kres, und wie der König das hört, meint er, eigentlich habe er seinen Wahrsager von dem Erraten dieses Gerichts ausgeschlossen. Denn es sei bei seiner Weisheit ja doch selbstverständlich, dass er den Namen wisse. Aber zum Zeichen seiner Anerkennung wolle er ihm doch die verheissene Belohnung geben. – – – Nun wird dem König sein höchstes Kleinod, ein kostbarer Ring, gestohlen. Nirgends ist er wieder zu finden, und auch vom Diebe ist keine Spur zu entdecken. Der König ist furchtbar traurig, erinnert sich aber zu guter Zeit seines trefflichen Wahrsagers und lässt Kresent zu sich kommen. Er trägt ihm auf, den Ring wiederzuschaffen und ihm auch Näheres vom Diebe zu sagen. Drei Tage hindurch wolle er ihm Bedenkzeit geben und ihn in dieser Zeit in ein Haus, wohlversehen mit gutem Essen und Trinken, einsperren. Wenn er nach dieser Frist ihm den Ring ausliefern könne, so wolle er ihm seine Tochter Ingibjörg zur Frau und dazu das halbe Königreich geben – nach seinem Tode solle er dann König werden. Könne er ihm jedoch nichts sagen, so liesse er ihn töten, denn dann sei seine ganze Wahrsagekunst nichts wert. – Nun wird Kresent in ein Haus eingeschlossen. Hier sitzt er nun sehr betrübt, denn er hat natürlich keine Ahnung, wo der Ring sein könnte. Da ihm nun der Tod gewiss scheint, so will er wenigstens in den drei Tagen das Leben noch etwas geniessen. Er lässt sich also die leckern Speisen gut schmecken und betrinkt sich gründlich. Angeheitert sitzt er am Abend auf einem Sofa an der Türe und überlegt sich, wie viel Tage er noch zu leben habe. So sagt er im Rausche unaufhörlich, bald laut, bald leise: »Nun sind es drei, nun sind es drei!« – Es ist aber hier zu sagen, dass drei Höflinge den Ring gestohlen hatten. Wie diese erfahren, dass der berühmte Wahrsager[409] Kresent in ein Haus eingeschlossen sei, um den Ring und die Diebe wieder ausfindig zu machen, bekommen sie einen grossen Schrecken. Sie schleichen sich abends an die Türe und hören, wie Kresent bald laut, bald leise vor sich hin sagt; »Nun sind es drei, nun sind es drei!« Sie sind nun gewiss, dass Kresent schon geraten habe, dass drei Diebe den Ring stahlen und kommen darüber in nicht geringe Verzweiflung. Am folgenden Abend überzählt Kresent im Rausch wieder seine Tage und sagt in einem fort: »Der erste ist vorbei, nun sind es nur noch zwei usw.« Auch dies hören die Höflinge und sind ganz sicher, dass der Wahrsager die Person des einen schon kenne. Am folgenden Abend sagt Kresent: »Der zweite ist vorbei, der dritte kommt an die Reih.« Nun folgt der letzte Abend. Kresent sitzt wieder angeheitert auf seinem Sofa und sagt in einem fort: »Nun sind alle drei, der dritte auch vorbei.« Wie die lauschenden Höflinge das hören, sind sie ganz überzeugt, dass nun der Wahrsager sie alle drei entdeckt habe. Da sie keinen andern Weg zur Rettung sehen, so beschliessen sie, dem weisen Manne lieber alles zu gestehen und ihn um Hilfe su bitten. Sie klopfen also an die Türe und flehen dringend um Einlass. Kresent glaubt jedoch in seiner Trunkenheit, dass die Häscher des Königs ihn zum Richtplatze führen wollen. Er beschliesst, sein Leben tapfer zu verteidigen und hält ängstlich die Türe geschlossen. Nun rufen die Höflinge ihm in ihrer Verzweiflung zu, sie wollten ja alles gestehen. Den Ring hätten sie auch gleich mitgebracht. Zweifelnd öffnet Kresent die Türe. Sogleich stürzen die drei zu seinen Füssen, halten den Ring in die Höhe und bitten in den rührendsten Tönen um seine Vergebung. Kresent fasst sich schnell. Er hält ihnen erst eine kleine Moralpredigt, dann verspricht er, ihnen noch einmal zu helfen. Nun müssen sie ihm den besten Ochsen des Königs herbeiholen, und diesem gibt er den Ring, in Futter eingewickelt, zu verschlucken. Einem Sklaven des Königs lässt er heimlich viel Geld geben. Dann verschafft er ihm die Gelegenheit zu entlaufen, so dass niemand seiner mehr habhaft werden kann. Am folgenden Morgen erwartet er dann mit Seelenruhe die Häscher. Vor den König geführt erklärt er ihm, dass er den Ring selbst ihm zwar nicht bringe, dass[410] er aber infolge seiner Weisheit entdeckt habe, wo er zu finden und wie der Diebstahl geschehen sei. Ein Sklave des Königs habe den Ring gestohlen. Wie nun die Nachricht sich verbreitete, dass er, der Wahrsager, innerhalb drei Tagen den Dieb ausfindig machen würde, habe dieser eine furchtbare Angst bekommen. Er habe den Ring, in Futter gewickelt, dem besten Ochsen des Königs zu verschlucken gegeben, er selbst aber sei entlaufen. – Der König verwundert sich sehr über diese Rede. Halb zweifelnd lässt er den bezeichneten Ochsen schlachten – und siehe da, in seinem Magen findet sich der Ring! Da nun auch niemand mehr des entlaufenen Sklaven habhaft werden kann, so scheinen die Aussagen des Wahrsagers glänzend bewahrheitet. Kresent wird der Gemahl der schönen Ingibjörg und erbt nachher das ganze Königreich.

Am meisten Übereinstimmung mit unserer isländischen Erzählung zeigt das norwegische Märchen (Asbj. 82, »Kulbrænderen« S. 101 ff.). Ein Kohlenbrenner setzt sich in den Besitz einer Pfarrerkleidung und zieht mit den übrigen Theologen des Landes an den Hof des Königs. Hier behauptet er, durch seine Weisheit einen gestohlenen Ring wiederschaffen zu können. Da jedoch die Zeit vergeht, ohne dass er sein Versprechen einlöst, verliert schliesslich der König die Geduld und gibt ihm nur noch drei Tage Frist, die er von aller Welt abgeschieden verbringen soll. Die drei Diener, die ihm nacheinander an diesen drei Tagen das Essen bringen, sind die Diebe. Sie glauben sich von ihm erkannt, da er, wie der erste Diener hinausgeht, zu sich sagt: »Das war der erste« usw. Sie gestehen ihm nun die Wahrheit, er gibt den Ring einem Schweine zu fressen und sagt dann dem Könige, in diesem Schweine würde der vermisste Ring zu finden sein. – Bei späterer Gelegenheit errät er durch Zufall, dass in einer verdeckten Schüssel ein Krebs ist. Die dritte Probe seiner Kunst soll er bei der Königin ablegen. Er soll voraussagen, ob sie mit einem Prinzen oder mit einer Prinzessin niederkommen werde. In der Verlegenheit behauptet er, wenn sie ihm entgegen käme, glaube er, dass es ein Prinz sei, wenn sie von ihm ginge, hielte er das Kind für eine Prinzessin. Nun bekommt die Königin tatsächlich Zwillinge, so dass sein Ruhm als Wahrsager für immer befestigt ist.[411]

Bei Cosquin (60, »Le sorcier« II S. 187 ff.) und bei Grimm (98, »Doktor Allwissend« II S. 52 ff.) braucht der Bauer als vorgeblicher Wahrsager nur zwei Proben seiner Kunst abzulegen. Er entdeckt zuerst durch das böse Gewissen der Schuldigen, die seine harmlosen Reden auf sich beziehen, die Diebe (im lothringischen Märchen gibt er den gestohlenen Ring einem Hahn zu fressen), dann ist ihm gleichfalls der Zufall beim Erraten einer verdeckten Schüssel günstig.

In einem schleswig-holsteinschen Märchen (Müllenh. XXV, »Dree to Bett« S. 464/5) wird von einer reichen Frau erzählt, die nach dem Dorfgerede allwissend war. Drei junge Leute wollen sehen, was daran wahr ist und beschliessen, sie einmal am Abend zu beobachten. Wie der erste vom Fenster aus ins Zimmer sieht, gähnt gerade die Alte beim Spinnen und sagt nach ihrer Gewohnheit: »Oha! dat weer een.« Darauf läuft der erste weg und erzählt sein Erlebnis den andern beiden. Die wollen es jedoch nicht glauben, und so schleicht sich der zweite jetzt ans Fenster. Beim zweiten Gähnen der spinnenden Frau glaubt er bei ihrer Rede: »Oha! dat weren twee!« er sei gleichfalls entdeckt und läuft weg. Noch schlimmer ergeht es dem dritten, der aus dem Ausspruch der Frau: »Dat weren dree, nu käm ick« den Schluss zieht, die zauberkundige Alte wollte auf ihn los, während sie in Wahrheit ihrer Gewohnheit entsprechend nach dem dritten Gähnen zu Bett geht. Seit dieser Zeit glaubt das ganze Dorf steif und fest an die besondere Begabung dieser Frau.

In der Erzählung aus der Wetterau von dem Fuhrmann mit dem Kalbe, die ich in Verbindung mit Nr. CIII hier besprochen habe, heisst es weiter, dass dieser Fuhrmann nach seiner heimlichen Flucht aus dem Bauernhofe, wo er glaubte, mit einem Kalbe niedergekommen zu sein, schliesslich zu einem Kloster gelangte. Hier machen ihn die Mönche durch List zu ihrem Pförtner. Nach einiger Zeit ist er des Mönchslebens leid und entflieht. Der weitere Verlauf dieses Schwankes stimmt dann mit einer Erzählung im »Wendunmuth« (I S. 160) überein, nur dass dort der Held kein Fuhrmann, sondern ein armer Köhler ist. Beide sind der Ansicht, dass eine gute Mahlzeit des Henkens wert sei und melden sich deshalb bei dem Herzoge[412] bezw. Fürsten, um das verlorene Gut (in der wetterauischen Erzählung ein Trauring, im Wendunmuth ein ganzer Schatz von Kleinodien) wieder zu beschaffen. In den beiden Schwänken – wie in all den hierhin gehörigen Erzählungen – beziehen die diebischen Bedienten ihre zufälligen Reden auf sich und bringen das Gestohlene ihnen zurück.

Zu diesem Schwanke, der in den Erzählungen Europas und des Orients nachzuweisen ist, ist Benfey »Orient und Occident« I S. 374 ff. zu vergleichen, ferner auch Cosquins Anmerkungen, die zu Benfeys Arbeit, die aus dem Jahre 1861 stammt, neuere Nachträge enthalten.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 408-413.
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