IV. Die zur Riesin verzauberte Königstochter.

[13] Maurer 312–14 nach einem Manuskripte aus der Arnamagnaeana. (A.M. 602 4 to.)


Ein König trauert mit seinem Sohne Sigurður lange dem Tode seiner Gattin nach. Wie er einst auf der Jagd ist, zieht eine schwere Wolke herauf. Diese kommt rasch auf ihn zu, und aus ihr tritt eine schöne Frau, die sich Himinbjörg nennt. Dem Könige gefällt die Fremde so gut, dass er sie heiratet Sigurður kann sich jedoch noch immer nicht über den Tod seiner Mutter trösten und liegt Tag und Nacht auf ihrem Grabe. Einmal ist er dort eingeschlafen. Da sieht er mit zornigem Antlitz im Traum seine verstorbene Mutter auf sich zukommen. Sie schilt ihn, dass er Tag und Nacht auf ihrem Grabe liege und ihr lästig falle. Darum lege sie den Fluch auf ihn, dass er keine Kühe mehr finden solle, bis er eine Königstochter erlöst habe, die in die Gestalt einer Riesin verzaubert sei. Da Sigurður sich nicht zu raten weiss, sucht er Hilfe bei seiner Stiefmutter Himinbjörg. Diese weist ihn an ihre Schwester Blákápa, gibt ihm ein Knäuel, das ihm den Weg zeigt und rät ihm dringend, allen denen Gutes zu tun, denen er unterwegs begegnen sollte. Zuerst sieht Sigurður auf der Reise, wie 49 Raben einen einzigen Raben angreifen, um ihn aus seinem Loch zu vertreiben. Schnell haut er so viele Löcher, wie Raben sind, in den Felsen und setzt den schon halbtoten Raben gleich in das erste Loch. Darauf bieten ihm die Raben dankbar ihre Hilfe an, wenn er ihrer bedürfe. Das gleiche Erlebnis hat er dann mit 50 Möven und weiter mit 50 Tauben. Endlich kommt er zur Schwester der Stiefmutter Blákápa. Diese erzählt ihm, dass ein Riesenkönig in der Nähe eine Tochter namens Ingigérdr gehabt habe. Nach dem Tode seiner ersten Frau habe er sich mit einer Unholdin verheiratet, und diese habe auf die Königstochter mit ihren achtzehn dienenden Jungfrauen den Fluch gelegt, dass sie alle zu Unholdinnen werden, den Vater ermorden und das Reich zerstören sollten. Um die Prinzessin zu entzaubern, muss Sigurður drei Aufgaben lösen. Zuerst muss er ein Brettspiel von zwei Zwergen holen. Um dies zu können, gibt ihm Blákápa eine Tarnkappe. Als[14] zweite Aufgabe soll er die fünfte Säule unter dem Glasdache in einer bestimmten Königshalle umwerfen. Durch einen Schlag mit ihrem Stabe öffnet ihm Blákápa die Halle. Dann leiht sie ihm Handschuhe, die ihn so stark machen, dass er die Säulen herauszureissen vermag, obgleich er vorher nicht einmal im stände war, sie zu bewegen. – Die dritte Arbeit besteht darin, dass er einen Ochsen schlachtet, dessen Blut über das Tischtuch der Riesin laufen lässt, darauf das Tuch wäscht, die Hörner glättet und die Haut gerbt. Alles dieses bringt Sigurður mit Hilfe seiner dankbaren Vögel zustande. Sowie die Riesin auch diese Arbeit vollendet sieht, fällt sie mit all den Ihrigen in Ohnmacht und erhält ihre frühere Gestalt wieder. Zugleich werden auch alle die Vögel, die Verwandte der Königstochter waren, zu Menschen umgewandelt. Nun machen sich alle zusammen auf zum Königreiche von Sigurðurs Vater. Sie kommen gerade noch zur rechten Zeit, um Himinbjörg vom Scheiterhaufen zu befreien, da man ihr die Schuld am Verschwinden des Königssohnes beigemessen hatte.

Bemerkenswert in diesem Märchen ist die Art, wie der verwitwete König zu seiner zweiten Gattin gelangt. In allen übrigen isländischen Märchen wird sonst immer erzählt, dass die Boten des Königs oder dieser selbst bei der Brautschau durch Nebel an irgend eine einsame Insel verschlagen werden, wo sie dann meist eine Frau oder mehrere Frauen antreffen, die sich für verfolgte Königinnen ausgeben. Oder aber es tritt zum Könige, der am Grabhügel seiner Gattin sitzt, ein schönes Weib und erklärt, vor kurzem einen ähnlichen Verlust erlitten zu haben. Hier in diesem Märchen wird nun die zweite Frau in einer Wolke zum Könige getragen, gleichsam als wenn sie dadurch von Anfang an als ein höheres Wesen gekennzeichnet werden sollte. Dem entspricht dann auch die Hilfe, die sie mit ihrer Schwester dem Königssohne zu gewähren vermag.

Dass Tote in ihrem Grabe durch die Trauer ihrer Angehörigen sich belästigt fühlen, ist, wie Maurer (S. 313) hervorhebt, ein in germanischen Sagen oft wiederkehrender Zug. Auch Grimm (109/II S. 91) erzählt von dem Kinde, das in seinem Sarge nicht schlafen kann, da sein Totenhemdchen von den Tränen der Mutter immer ganz durchnässt sei. In den Anmerkungen[15] (III S. 198) macht er noch auf das dänische Volkslied vom Ritter Aage und der Jungfrau Else, sowie auf Helgakviða Hundingsbana II Str. 45 (Bugge, S. 199) aufmerksam.

Die Verfluchung, dass der Betreffende keine Ruhe mehr finden solle, bis er eine ihm auferlegte Aufgabe gelöst habe, findet sich noch in verschiedenen anderen isländischen Märchen, so z.B. im Märchen vom »Pferde Gullfaxi«, den »hilfreichen Tieren« etc. Dass die eigene Mutter einen Fluch auf ihr Kind legt, wird ebenfalls in noch anderen isländischen Märchen erzählt. Im Märchen von »der guten Stiefmutter« hat die Tochter drei Aufgaben zu lösen, die ihr von der sterbenden Mutter auferlegt wurden. In Kísa wird die Tochter von der Mutter in eine Katze verwandelt, weil sie der Wahrheit gemäss die Krankheit der Mutter für tödlich erklärte.

Für das wunderbare Knäuel, das den Weg zeigt, gibt Köhler (Kl. Schr. S. 407) ein reiches Literaturverzeichnis. Ich füge nur noch Maurer (S. 99) und Hahn (II S. 67) hinzu. Ausserdem werden wir diesem Knäuel vielfach noch gerade in den isländischen Märchen begegnen, so z.B. im Märchen »vom verlorenen Goldschuh, dem Pferde Gullfaxi, den hilfreichen Tieren« etc.

Dass der Held Tieren aus der Verlegenheit oder aus der Not hilft, und diese sich dafür später dankbar erweisen, ist ein Zug, der wohl in den Märchen fast aller Völker sich findet Benfey (I S. 194 ff.) bringt hierzu eine reiche Literatur, ebenso auch Köhler bei der Besprechung der verschiedenen Märchensammlungen (Kl. Schr. S. 57. 110. 176. 348. 397. 398. 559). Es handelt sich meist entweder darum, dass die Tiere von einem Menschen aus einem Brunnen, einer Höhle etc. gezogen werden, oder aber, dass er ihnen hilft, eine Beute gerecht zu verteilen, oder dass er bei der Jagd ihr Leben schont, oder ihre Jungen beschützt hat, oder den Tieren zu fressen gibt. Dass der Held den Raben, Möven und Tauben so viele Nester macht, dass sie alle eins besitzen und sich nicht mehr zu zanken brauchen, ist mir nur in diesem isländischen Märchen begegnet. Bemerkenswert ist auch, dass nachher diese Tiere wieder zu Menschen werden, denn in den isländischen Märchen, wie auch den Volkssagen treten die Tiere viel mehr in den Hintergrund wie in den Märchen und Sagen der übrigen Völker.[16]

Das Schachbrett, das geholt werden soll, kommt noch viele Male in einem isländischen Märchen vor, z.B. in einer Variante des Märchens »von den drei Kostbarkeiten des Königs.« Hier muss es der Held einer Anzahl Mohren durch Schlauheit abzugewinnen suchen.

Die Tarnkappe und die Handschuhe, die ihm Blákápa gibt, sind beide schon seit alten Zeiten in der germanischen Sage heimisch. Einer Kappe, einem Mantel oder Steine, die unsichtbar machen, werden wir noch verschiedentlich in unseren Märchen begegnen, der Handschuh, der dem Träger besondere Kraft verleiht, ist im Märchen Rauðiboli zu einer ganzen Rüstung geworden. Maurer (S. 314) erinnert auch an die eisernen Handschuhe Pór's (Gylfag. c. 21, S. 90) oder an die anderen, die er der Riesin Griðr entlehnte (Skáldskaparm. c. 18, S. 284–6).

Die dritte Arbeit, den Ochsen zu schlachten, die Hörner zu glätten, die Haut zu gerben etc. wird in dem Märchen »Litill, Tritill und die Vögel« dem Dummling gleichfalls als letzte Probe von einer Riesin aufgetragen. Auch hier bringt der Held alles nur durch die Hilfe von zwei dankbaren Zwergen und Vögeln zu stande.

Dass der Stiefmutter die Schuld an dem Verschwinden des Königssohnes beigemessen wird, und dass dieser nur gerade noch rechtzeitig kommt, um sie vor dem Scheiterhaufen zu retten, wird in allen isländischen Märchen, in denen eine gute Stiefmutter eine Rolle spielt, immer wieder erzählt, z.B. im »Pferd Gullfaxi, den hilfreichen Tieren« etc. –

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 13-17.
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