LXI. Der Heidenkönig und sein Sohn.

[248] Nach dem Manuskripte Steingrímur Thorsteinssons.


Die Tochter eines sehr reichen Geistlichen wird von einem Manne, der sich Gestur nennt, aufgefordert, an einem bestimmten[248] Tage in die weit entfernte Schlosskirche zu kommen. Ihr Bruder, der fern vom Hause auf einer Schule ist, wolle sie dort treffen. Sie wohnt dem Gottesdienste bei, kann aber den Bruder nirgends sehen. Gestur kommt zu ihr und sagt, ihr Bruder sei durch einen Freund abgehalten worden. Er wolle sie jetzt zu ihm führen. Wie sie draussen ans Seegestade kommen, sieht sie ihren Bruder auf einem Boote am Mäste festgebunden, eine Speiseschüssel zu seinen Füssen. Sie soll nun dem Gestur versprechen, ihn zu heiraten. Da sie sich weigert, wird sie zu ihrem Bruder aufs ruderlose Boot gesetzt und ins Meer hinausgestossen. Bald treibt die Strömung sie weit vom Lande fort hilflos aufs Meer hinaus, bis sie endlich in einem fremden Königreiche landen und bei einem Kaufmanne Aufnahme finden. – – – Der König hier war noch heidnisch und opferte täglich seinen Göttern. Er hatte einen Sohn und eine Tochter. Sobald die Kinder nur gehen konnten, mussten sie täglich mit ihm zum Tempel. Wie sie älter wurden, fragten sie den Vater, wer denn Sonne, Mond und Sterne gemacht habe. Der Vater sagte: »meine Götter«, doch die Kinder wollten das nicht glauben. Die Götzen ständen ja da so unbeweglich und hätten nicht einmal die Macht, sich von der Stelle zu rühren. – Nun wird der Königssohn so krank, dass kein Arzt ihn heilen kann. Der König opfert alle möglichen Tiere seinen Göttern, schliesslich will er sogar die eigene Tochter im Tempel verbrennen lassen, damit sein Sohn wenigstens wieder gesund werde. Die Königskinder beten in Verzweiflung zum unbekannten Schöpfer der Gestirne, und dreimal wird jetzt auf wunderbare Weise der Scheiterhaufen, auf dem die Prinzessin steht, wieder ausgelöscht, so dass der König sie schliesslich am Leben lässt. – Endlich kommt nun ein Arzt und sagt, dass die Krankheit des Prinzen nichts weiter als glühende Liebe zu einem Mädchen sei. Nun werden alle Jungfrauen des Landes vor den Königssohn geführt, doch keine ist die richtige. Der König hört jetzt, dass ein Mädchen von seltener Schönheit mit ihrem Bruder im ruderlosen Boote ans Land getrieben sei. Er lässt nun auch dieses holen, und sowie der Prinz die Jungfrau erblickt, wird er gleich wieder gesund und erklärt, das sei das Mädchen, das ihm im Traume[249] erschienen sei. Die beiden Geschwisterpaare befreunden sich nun innig miteinander. Sie finden einst am Strande ein drittes Geschwisterpaar, Königskinder aus ihrer eigenen Heimat, die Gestur gleichfalls in einem ruderlosen Boote ins Meer hinausgestossen hatte, und nun fahren sie alle sechs zusammen heim zum Geistlichen. Hier werden zuerst die heidnischen Königskinder getauft, dann wird eine glänzende Hochzeit gehalten. Gestur aber wird aus dem Lande vertrieben.

Dieses Märchen ist ziemlich unklar. Hier wie in den folgenden Märchen handelt es sich hauptsächlich darum, zu erzählen, wie die Herrscher eines heidnischen Landes vom Christentume Kunde bekommen und zu dem neuen Glauben sich bekehren.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 248-250.
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