LXXII. Lítill, Trítill und die Vögel.

[283] Árn. II S. 446–9. Nach mündlicher Erzählung im Kjalarnessþing.


Ein Bauernpaar hatte drei Söhne. Die beiden ältesten waren ihre Lieblinge, während der jüngste von den Eltern und Brüdern allenthalben zurückgesetzt wurde. Wie die Söhne erwachsen waren, sagte der älteste, er wolle hinaus in die Welt ziehen, um sich Reichtum und Ehre zu erwerben. Die Eltern[283] sind es zufrieden und statten ihn reichlich mit allem Reiseproviant aus. Nach langer Wanderung kommt er zu einem Hügel, an dem er Rast macht für eine Mahlzeit. Wie er es sich gerade gut schmecken lässt, tritt ein Männlein zu ihm und bittet ihn um einen Bissen. Entrüstet weis? er den Bettler fort. Bei der nächsten Mahlzeit kommt ein noch winzigeres Männlein herangetrippelt und spricht die gleiche Bitte aus. Aber auch für ihn hat der Bauernsohn nichts übrig. In einer Waldlichtung macht er zum dritten Male Halt und zehrt von seinen Vorräten. Jetzt kommt eine hungrige Vogelschar bettelnd auf ihn zu, die jedoch gleichfalls mit Scheltworten fortgejagt wird. Wie der Bauernbursche weitergeht, gelangt er schliesslich an eine grosse Höhle. Da niemand in ihr zu entdecken ist, so beschliesst er zu warten, bis der Besitzer derselben heimkehrt. Gegen Abend tritt eine ungeheure Riesin in die Höhle. Sie will den Burschen bei sich aufnehmen, wenn er am anderen Tage die ihm zugewiesene Arbeit leisten könne. Er soll nun bis zum Abend die Höhle reinigen. Wenn er damit nicht fertig werden kann, soll er getötet werden. Nach dem Weggange der Riesin gibt er sich an die Arbeit. Doch sowie der Spaten den Boden berührt, bleibt er dort hängen und ist nicht mehr von der Stelle zu bewegen. Als am Abend die Riesin heimkehrt, hat er natürlich die ihm aufgetragene Arbeit nicht ausrichten können, und so wird er nun von der Unholdin gleich erschlagen. – – Nicht besser ergeht es dem zweiten Bauernsohne, der auf seiner Wanderung die gleichen Begegnungen hat, und der dann schliesslich auch zu der Riesin gelangt. – Nun macht sich nach einiger Zeit auch der jüngste auf den Weg, von den Eltern zur Wanderschaft aber nur mit recht bescheidenen Mitteln ausgestattet. Er gelangt zu dem ersten Ruheplatze seiner Brüder und meint, hier wolle auch er sein Mahl verzehren. Wie das Männlein zu ihm kommt und um einen Bissen bettelt, teilt er mit ihm, was er hat. Beim Weggehen sagt ihm der Kleine, er solle ihn rufen, wenn er in Not sei – er heisse Lítill. Das zweite winzige Männlein, das er gleichfalls an seinem Mahle teilnehmen lässt, bietet auch seine Hilfe an – es nennt sich Trítill. Zur dritten Rast kommt bettelnd die hungrige Vogelschar. Ihnen streut[284] er Brotkrumen hin. Diese picken sie auf und zwitschern beim Fortfliegen ihm zu, sie zu rufen, wenn er sie brauchen könne. Nun kommt er zur Höhle der Riesin. Hier sieht er die Leichen seiner Brüder an der Decke hängen, beschliesst aber trotzdem, dort zu bleiben. Als er am andern Morgen die Höhle reinigen soll und die Hacke am Boden festhängt, ruft er Trítill zu Hilfe. Sogleich ist das winzige Männlein da. Es sagt nur »Hacke, hacke du, und Schaufel, schaufle du«, und dann bewegen sich die beiden von selbst und haben in kurzer Zeit die ganze Höhle gereinigt. Am Abend ist die Riesin sehr erstaunt, das Werk getan zu sehen, und misstrauisch sagt sie: »Bursche, Bursche, du bist dabei nicht allein im Spiele. Doch ich wills hingehen lassen.« – Am folgenden Tage soll er alle Federn aus dem Bette der Riesin herausnehmen und vor der Höhle in die Sonne legen. Aber er muss sehen, dass am Abend auch nicht ein einziges Federchen fehlt, sonst ist ihm der Tod gewiss. Wie der Bursche nun alle Federn draussen liegen hat, erhebt sich auf einmal ein Wirbelwind, der sie nach allen Richtungen zerstreut. Verzweifelt ruft er Lítill, Trítill und die ganze Vogelschar zur Hilfe. Sogleich sind sie auch alle bei ihm und verrichten die aufgetragene Arbeit. Aus den drei Bettkissen nehmen die kleinen Männlein dann je eine Feder heraus, binden sie zusammen und geben sie ihrem Schützling. Wenn die Riesin diese vermissen sollte, dann möge er sie in ihre Nase stecken – dann würde sie still sein. – Als Arbeit des dritten Tages wird ihm aufgetragen, aus den fünfzig Ochsen der Riesin den von ihr gewünschten auszusuchen, ihn zu töten, sein Eingeweide zu kochen, die Haut zu scheren und aus den Hörnern Löffel zu schnitzen. Wenn er mit der Arbeit bis zum Abend nicht fertig wird, kostet es ihm das Leben. Wenn er aber alles zu stände bringt, dann darf er am folgenden Tage hingehen, wohin er will und darf sich ausserdem aus dem Besitztume der Riesin drei beliebige Dinge zur Belohnung aussuchen. – – – Wie der Bursche Lítill und Trítill zur Hilfe herbeiruft, bringen diese schon gleich einen riesigen Ochsen mit und begeben sich wacker ans Werk. Nachdem die Arbeit vollendet ist, fragt er noch seine kleinen, hilfreichen Freunde, welche drei Dinge er sich[285] zur Belohnung aussuchen solle. Sie raten ihm, sich erstens das zu wünschen, was über dem Bette der Riesin sich befinde. Ferner die Kiste, die neben ihrem Bette stände und drittens das, was unter den Höhlenwänden wäre. – – – Am folgenden Morgen trifft er denn auch nach dem Rate seiner kleinen Freunde die Wahl. Über dem Bette befindet sich aber eine gestohlene Königstochter, über die ihr Vater hatte bekannt machen lassen, dass ihr Wiederbringer sie heiraten dürfe. Die Kiste neben dem Bette ist bis oben voll von Gold und Kostbarkeiten, und hinten unter den Höhlenwänden ist ein völlig seetüchtiges Schiff, das nach Wunsch an jeden beliebigen Ort fährt. – Die Riesin liefert ihm nun treu ihrem Worte alles von ihm Gewählte aus und geht dann wie gewöhnlich in den Wald. Er aber fährt auf seinem Schiffe mit der Prinzessin und seinen Schätzen zum Königreiche, heiratet dort die durch ihn gerettete Braut und wird später König.

Dass durch seine Freundlichkeit gegen unscheinbare Personen (meist gegen ein altes Männlein oder Frauchen) der Dummling Rat und Hilfe bekommt und alle Gefahren siegreich besteht, findet sich auch in vielen anderen Märchen erzählt, z.B. bei Grimm in der »goldenen Gans« (64 I S. 258 ff.) oder im »Wasser des Lebens« (97 II S. 47 ff.), bei Asbj. in »Røderæv og Askeladden« (76 II S. 65 ff.) oder in »Guldslottet, som hang i Luften« (72 II S. 45 ff.) etc. Diese Märchen weichen jedoch in der Ausführung des Themas zu sehr von der isländischen Erzählung ab, um ein ihnen allen gemeinsames Märchen voraussetzen zu können.

Ähnlich wie hier der Dummling nach dem Rate der Männlein drei Federn beiseite legen soll, um sie nachher der Riesin zur Beruhigung in die Nase zu stecken, verfährt der Held eines deutschen Märchens (Grimm 193 »der Trommler« II S. 314 ff). Er soll einen Fischteich mit einem Fingerhut ausschöpfen und alle Fische nach ihrer Grösse nebeneinander legen. Auf den Rat der Prinzessin, die ihm bei der Arbeit hilft, legt er einen Fisch beiseite und wirft ihn später der alten Hexe, die ihn vermisst, ins Gesicht. In der gleichen Weise verfährt er mit einem Aste, den er zu diesem Zwecke gleichfalls beiseite gelegt hatte.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 283-286.
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