LXXIV. Der Schafhirte und die Riesin.

[290] Árn. I. S. 200–3.


Einem Bauern auf Silfrúnarstaðir im Skagafjörður verschwindet zwei Weihnachtsabende nacheinander ein Schafhirte, ohne dass er weiss, was aus ihnen geworden ist. Da niemand nun bei ihm die Schafe hüten will, geht er zu einer Witwe, die viele Kinder hat, und bittet sie, ihren ältesten Sohn Sigurður, der gerade vierzehn Jahre alt ist, ihm als Schafhirte zu überlassen. Nach langem Zögern ist die Witwe endlich einverstanden. Wie am Weihnachtsabend Sigurður gegen Dunkelwerden die Schafe heimtreiben will, kommt zu ihm eine unheimlich aussehende Riesin. Sie begrüsst ihn mit Namen und erklärt, ihn in ihren Sack stecken zu wollen. Sigurður meint,[290] er sei so klein und mager, dass die Riesin von ihm nichts haben würde. Er wolle ihr lieber sein einziges Eigentum, ein Schaf und ein Lamm, zum Geschenk machen. Die Riesin ist damit zufrieden, wirft die Tiere auf ihre Schultern und geht fort. – Wie Sigurður am Abend unversehrt heimkehrt, ist der Bauer ganz glücklich darüber. Der Knabe sagt nichts von seinem Erlebnis und behauptet auch später dem Bauern gegenüber, das Lamm hätten die Füchse gefressen und das Schaf sei abgestürzt. Im folgenden Jahre kauft sich wiederum Sigurður am Weihnachtsabend von der Riesin mit den Schafen los, die der Bauer ihm geschenkt hatte, und auch im dritten Jahre bietet er ihr an seiner Stelle sein Vieh an. Doch nun nimmt zu den Schafen die Riesin auch noch den Hirten mit und trägt ihn in ihre Höhle. Dort muss Sigurður die Tiere töten und ihre Haut scheren. Dann soll er eine Axt schärfen, damit sie ihm den Kopf abhauen könne. Auch das tut der Bursche, und dann entblösst er auch noch auf ihr Geheiss den Hals, ohne irgendwie vor dem Tode Furcht zu zeigen. Da erklärt die Riesin, sie habe gar nicht im Sinn, ihn zu töten. Er würde als ein vom Glücke begünstigter Mann ein langes Leben führen. Sie habe mit Willen dafür gesorgt, dass er bei dem Bauern Schafhirte geworden wäre, und nun wolle sie ihm auch sagen, was er tun müsse, um sein Glück zu machen. – – – Nach den Anweisungen der Riesin lernt Sigurður nun zwei Jahre lang bei einem tüchtigen, von der Riesin ihm bezeichneten Schmiede dessen Handwerk. Dann geht er mit allerhand seltenen Waren und Flittersachen nach Miklabæ in Oslandshlíð zu einem ihm gleichfalls schon angegebenen Propste. Die beiden älteren Mädchen, die sehr eitel und oberflächlich sind, kaufen ihm allerhand nutzlosen Tand ab, die jüngste Tochter des Hauses, namens Margrét, lässt sich aber zum Kaufe nicht verlocken. Diese bittet nun Sigurður nach dem Rate der Riesin, ihm doch bis vor das Gehöft das Geleite zu geben. Wie sie draussen sind, schenkt er ihr ein Tuch, einen Gürtel und einen Ring, drei Zaubergaben von der Riesin, die in ihrem Herzen Liebe zu dem Jüngling erwecken. Nach seinem Fortgange wird sie von solcher Sehnsucht ergriffen, dass der Vater wider Willen Sigurður zuerst[291] als Schmied zu sich nehmen und dann die Heirat zugeben muss. Kurze Zeit nachher erscheint die Riesin dem Jüngling im Traum, und nun weiss er nach ihren früheren Reden, dass sie gestorben ist. Er macht sich gleich, begleitet von dem Propste, in seine alte Heimat auf. Sein erster Dienstherr, der Bauer, freut sich über seine Verlobung und erklärt, er wolle ihn, da er kinderlos sei, zum Erben einsetzen. Alle drei Männer machen sich nun auf zur Höhle der Riesin. Ihrem Wunsche entsprechend wird sie nach alter Sitte in einem Hügel beigesetzt, Sigurður aber ist der Erbe all' ihrer Reichtümer. – – –

Die bei Árn. vorhergehende Erzählung (Árn. I S. 197–200) hat im grossen und ganzen den gleichen Inhalt. Der Held, ein achtzehnjähriger junger Bursche, heisst Ketill. Am Weihnachtsabend kommt eine Riesin und bittet ihn um ein Schaf zum Weihnachtsfeste. Er gibt ihr sein einziges Eigentum von der Herde, ein Mutterschaf. Die Riesin nimmt es, aber packt zugleich auch Ketill und trägt ihn in ihre Höhle. Hier behandelt sie den jungen Burschen freundlich und sagt, sie wolle ihm seine Gutherzigkeit lohnen. Die beiden früheren Hirten hätten sie auf ihre Bitte um einen Weihnachtsbraten immer mit rauhen Worten fortgejagt, und darum seien sie von ihr getötet worden. Sie würde jetzt in einem Monat sterben. Dann solle er ihre Leiche in einen Wasserfall werfen und über alle ihre Besitztümer frei verfügen. Nach dem Tode seines Bauern, der bald erfolgen würde, solle er dessen Gehöft an sich bringen und hierauf um die Tochter des Pfarrers auf Hafsteinsstaðir freien. Wenn er einen Zaubergürtel, den sie ihm nun geben wolle, dem Mädchen anlegen würde, so würde sie gleich Liebe zu ihm empfinden. – Alles trifft nun nach den Weisungen der Riesin ein, und Ketill wird ein vom Glück gesegneter Mann. –

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 290-292.
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