LXXV. Die Pfarrerstöchter und die Geächteten.

[292] Árn. II S. 202–4. Nach dem Manuskripte von Þorvarður Ólafsson.


Ein Geistlicher im Nordlande hatte drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. Der letztere unterstützt einen ihm befreundeten Schiffskapitän, den er im Südlande beim Fischen kennen gelernt hatte, in seiner Werbung um Sigríður, die älteste Tochter des Geistlichen. Er setzt es dann trotz der Abneigung seiner Schwester und der Eltern auch durch, dass der Kapitän das Mädchen zugesagt bekommt und mit ihm südwärts in seine Heimat reist. Unterwegs überfällt die beiden so dichter Nebel, dass Sigríður den Kapitän aus den Augen verliert. Und doch scheint ihr immer ein Mann vor ihr her zu reiten. Endlich wendet sich dieser zu ihr, nimmt sie vom Pferde, tragt sie in ein Gehöft und dann in ein Zimmer, in dem nur ein Tisch und ein Bett sich befinden. Hierauf geht er weg. Nach einer Weile kommt ein Mädchen zu ihr, bringt ihr zu essen und lässt sie in dem Bette sich niederlegen. Es dauert lange, bis Sigríður einschlafen kann. Endlich fällt sie in Halbschlummer, erwacht dann aber sogleich wieder und findet neben sich einen Mann im Bette. Empört stösst sie ihn fort, worauf er das Zimmer verlässt. Hierauf erscheinen ihr allerhand grässliche Gesichter, so dass sie sich fürchtet. Ein Knabe tritt jetzt herein, tröstet sie und gibt ihr ein Buch, das sie auf die Brust legen solle. Sowie sie das tut, verschwinden die sie ängstigenden Gesichter. Am folgenden Tage bringt ihr das Mädchen wieder schweigend etwas zu essen, und wie sie in der Nacht erwacht, findet sie wiederum einen Mann in ihrem Bette. Da dieser einen Arm um sie geschlungen hat, um sie festzuhalten, greift sie in ihre Tasche nach ihrem Messer und will ihn stechen. Nun verlässt wiederum der Mann das Zimmer, und der Knabe kommt, um sie zu warnen. Wenn sie weiter so hart gegen seinen Bruder sei, so würde sie das mit dem Leben büssen müssen. In der dritten Nacht duldet Sigríður deshalb, dass der Mann neben ihr im Bette die Nacht zubringt. Am Morgen darauf tritt ein Mann in rotem Gewände zu ihr ins Zimmer. Er sagt, dass auf seine Veranlassung Sigríður dorthin gekommen sei, denn er habe[293] sie sich zur Frau gewählt. Er sei der Vorsteher einer Talgenossenschaft von Geächteten und wohne in dem Gehöfte zusammen mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwester. Nun führt der Kote Sigríður in ein anderes Zimmer und steckt ihr dort einen Goldring an den Finger. Von diesem Augenblick an erwacht in dem Herzen des Mädchens Zuneigung zu dem Geächteten, so dass sie mit ihrem Schicksale ganz zufrieden ist. Nach einiger Zeit fragt sie ihr Gatte, ob sie nicht den Wunsch hätte, ein mal einen Blick auf ihre Verwandten daheim zu werfen. Da Sigríður es bejaht, geht er mit ihr zu einem alleinstehenden Hause. Drinnen ist ein Brunnen, und wie sie über diesen einen Spiegel hält, sieht sie daheim ihre Eltern und Freunde und im Südlande ihre Schwester Helga. Diese wird gerade von ihrem Gatten, dem Kapitän, der nach dem Verschwinden Sigríðurs die zweite Tochter des Geistlichen geheiratet hatte, in roher Weise misshandelt. Da Sigríður hierüber sehr betrübt ist, geht der Bruder ihres Mannes für kurze Zeit fort und kehrt dann mit ihrer Schwester Helga wieder zurück. Nun holt Sigríður auch noch ihre Eltern und den Bruder, die noch ledigen Geschwisterpaare heiraten einander, und alle führen in dem Tale ein glückliches Leben. – – –

Diese Erzählung, sowie die folgende, die ebenso wie viele andere isländische Erzählungen von Geächteten davon handeln, dass ein Mädchen durch irgend welche Zauberkünste in die Gewalt eines Geächteten gerät und dessen Frau wird, haben so viele märchenhafte Motive aufzuweisen, dass sie als Märchen ganz gut gelten dürfen. In der vorliegenden Erzählung kommt Sigríður durch hervorgezauberte Nebel in die Gewalt des Geächteten. Die Gesichter, die sie quälen und die durch ein Buch gebannt werden können, kann ich sonst nicht belegen. Der Ring, der Liebe erweckt, entspricht dem Ringe oder dem Gürtel des vorhergehenden Märchens. – Ebenso wie Sigríður durch einen Spiegel, den sie über einen Brunnen hält, alles sehen kann, was im Elternhause sich zuträgt, so vermag auch der Kaiser durch einen goldenen Spiegel, den ein Zauberer ihm gibt, von der Untreue seiner Frau daheim sich zu überzeugen (Gering LXXVII »Das Wachsbild« S. 139 ff.).

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 292-294.
Lizenz:
Kategorien: