LXXVI. Sigríđur Eyafjarđarsól.

[294] Árn. II S. 204–12. Nach der Erzählung einer alten Frau im Eyafjörður.


Ein reiches Bauernpaar auf Möðrufell im Eyafjörður hat eine einzige Tochter, Sigríður genannt, die wegen ihrer Schönheit den Zunamen Eyafjarðarsól (die Sonne des Eyafjörður) erhält. Viele Freier kommen zu dem Vater, doch dieser will sie keinem geben. – – – An einem Weihnachtsabend bleibt Sigríður allein zu Hause, um das Haus zu bewachen, während alle übrigen Bewohner zur Kirche gegangen sind. Vorher hat der Bauer noch auf das sorgältigste alle Türen geschlossen und sich von seiner Tochter, die er nur sehr ungern allein daheim lässt, das feste Versprechen geben lassen, keinem Menschen in der Nacht zu öffnen. Bis Mitternacht bleibt alles ruhig. Dann wird draussen heftig an die Türe geklopft, und ein Mann verlangt Einlass. Sigríður antwortet nicht und bleibt ruhig sitzen. Wie das dritte Mal das Klopfen, das nun fast das Haus erschüttert, ohne Erfolg bleibt, geht der Fremde um das Gehöft herum und klopft an das Fenster des Zimmers an, in dem Sigríður die Nacht mit Lesen zubringt. Sie blickt auf und sieht am Fenster ein so schönes Männergesicht, wie sie noch nie vorher in ihrem Leben gesehen hat. Der Fremde bittet sie, für einen Augenblick zu ihm herauszukommen. Doch Sigríður schlägt es ihm ab. Nun bittet er wenigstens um einen Trunk. Aber auch den will das Mädchen ihm nicht geben, sondern verweist ihn auf den Bach, der nicht weit vom Gehöfte fliesst. Als alles vergeblich ist, geht der Fremde fort und sagt zum Abschied, es könne noch die Zeit kommen, wo auch ihr Herz eben solchen Schmerz empfinden würde wie das seinige an diesem Abend. – – Am andern Morgen kommt der Vater mit den übrigen heim. Da er aus den Mienen seiner Tochter ersieht, dass diese, wie er fürchtete, in der einsamen Nacht ein Erlebnis hatte, lässt er sich alles von ihr erzählen. – – Im folgenden Jahre wird gerade am Weihnachtsabende die Mutter krank, so dass ausser Sigríður auch noch ihre Eltern zu Hause bleiben. Um Mitternacht wird wieder heftig an die Türe geklopft. Der Bauer geht hinaus und bleibt so lange draussen, dass die Frauen schon in grosser Angst um ihn[295] sind. Endlich kommt er wieder herein, und sagt seiner Tochter, sie solle sich so schnell wie möglich fertig machen, denn nun sei der ihr zugedachte Freier gekommen. Auf ihre Frage, wer das denn sei, erklärt er, das würde sie schon früh genug erfahren. Sie möge sich nur eilen und schnell noch von ihrer Mutter Abschied nehmen – der Freier wolle nicht lange warten. Wie Sigríður vor das Haus tritt, sieht sie drei Männer, die mehr Unholden wie Menschen gleichen, draussen auf dem freien Platze stehen. Sie wird nun auf ihr schon gesatteltes Reitpferd gesetzt, und fort geht's in die mondhelle Winternacht hinein. Ohne anzuhalten reiten sie drei Tage schweigend vorwärts, bis sie an einen engen Pfad gelangen, der sehr steil bergauf geht. Nun kommt der hässlichste von den drei Unholden zu Sigríður, hebt sie aus dem Sattel und fordert sie kurz auf, dem Pferde nachzugehen. Wie sie oben auf dem Gipfel des Berges angelangt sind, wirft derselbe Mann sie wieder unsanft auf ihr Pferd. Dann reiten sie in ein schönes Tal hinunter, das von einem Bache durchflössen wird. Nach einer Weile kommen sie an einer grossen Herde von Pferden vorbei. Der Unhold ruft Sigríður an, ob sie den Besitzer dieser Herde nicht gern heiraten möchte. Doch Sigríður entgegnet »Liebe ist besser als Reichtum«. Die gleiche Frage und Antwort wiederholt sich beim Anblick einer prächtigen Rinder- und Schafherde. Endlich kommen sie zu einem grossen und ansehnlichen Bauern gute. Nicht weit vom Hause sieht Sigríður zu ihrer Freude eine kleine Kirche stehen, und auf ihre Bitte erlaubt ihr der Unhold, dort, einzutreten und solange sie will im Gebete dort zu verweilen. Nachdem sie gebetet hat, fällt sie in Schlaf. Da scheint ihr im Traum, als wenn eine blaugekleidete Frau dem Boden des Kirchenchores entsteige und auf sie zutrete. Diese begrüsst das Mädchen mit ihrem Namen und erzählt ihr, dass dieser Unhold infolge einer auf ihm liegenden Verzauberung schon sie und eine andere Frau in der Hochzeitsnacht getötet hätte, da sie drei Fragen nicht hätten beantworten können. Jetzt wisse sie, welche Antworten notwendig gewesen wären, und sie wolle diese jetzt Sigríður sagen, damit sie vor dem gleichen Schicksale bewahrt würde. Denn sie gönne ihr von Herzen Glück. Nun sagt[296] die Fremde ihr mehrmals die Fragen und die Antworten, bis dass Sigríður sie genau im Gedächtnis hat. Dann verschwindet sie, doch Sigríður glaubt beim Erwachen ihre Gestalt noch eben zu sehen. – Das Mädchen wiederholt sich noch mehrmals die Fragen und die Antworten, dann verlässt sie die Kirche. In der Haustür wird sie von einem freundlichen und schönen jungen Mädchen, der Schwester der drei Unholde, willkommen geheissen. Nach einem halben Monate wird die Hochzeit gefeiert. Ein Priester und einige andere Leute kommen, ein grosses Festmahl wird gehalten, doch am Ende desselben gehen alle Gäste so schnell wie möglich von dannen, denn der Bräutigam ist mit seinen beiden Brüdern total betranken und geberdet sich so bösartig wie der schlimmste Unhold. Spät in der Nacht kommt er zu Sigríður ins Brautgemach, setzt sich zu ihr auf den Bettrand und legt ihr drei Fragen vor. Wie sie diese sofort richtig beantwortet, fällt er ohnmächtig zu Boden und ist nun ebenso wie seine Brüder wieder zu einem schönen jungen Manne verwandelt. Von allen Seiten kommen nun auch Leute herbei, während vorher ausser den Geschwistern niemand im Hause zu sein schien. – Sigríður ist nun mit ihrer Heirat ganz einverstanden. Nach einem Jahre bekommt sie ein Töchterchen, das ihr völlig aus dem Gesicht geschnitten ist. Wie das Kind drei Jahre alt ist, sitzt sie einmal allein mit ihm draussen vor dem Hause, da alle übrigen zur Heuernte auf den Wiesen sich befinden. Da reitet ein Fremder aufs Gehöft und bittet um einen Trunk. Sigríður geht hinein und holt ihm Milch. Er trinkt den Becher aus, und Sigríður geht noch einmal ins Haus, um ihn aufs neue zu füllen. Wie sie wieder herauskommt, ist der Fremde verschwunden, ebenso aber auch ihr Kind. Drei Tage wird das Mädchen nun nach allen Richtungen hin gesucht, doch es ist und bleibt spurlos verschwunden. Schwer leidet die unglückliche Mutter unter diesem Verlust, und nie gewinnt sie ihre frühere Heiterkeit zurück. So vergehen zwölf Jahre. Auf einmal erwacht in ihrem Herzen ein ihr unerklärliches Verlangen, ihren Mann, der in jedem Jahre für einige Zeit zur Kaufstadt ging, dorthin einmal zu begleiten. Da sie glaubt, dass dies irgend etwas zu bedeuten habe, rafft sie sich zur[297] Reise auf. Kurz vorher, ehe sie nun zur Stadt kommen, werden sie von einem Regenschauer überfallen. Sigríður findet auf die Bitte ihres Mannes in einem fremden Hause solange Aufnahme. Drinnen trifft sie einen Kaufmann, mit dem sie in ein Gespräch kommt. Dieser Fremde, dessen Gesicht ihr sehr bekannt vorkam, erinnert sie an die Weihnachtsnacht, in der sie vor einem Unbekannten die Türe geschlossen gehalten habe. Er sei der junge Mann gewesen, und er habe damals in der Nacht die Absicht gehabt, sie aus ihrem Elternhause fortzuführen, um sie zu heiraten. Da ihm dies nicht geglückt sei, so habe er ihr später ihr einziges Kind fortgenommen, teils, um aus Rache auch ihr Herz zu verwunden, teils um ihr Abbild stets vor Augen zu haben. Aber nun suche er für diese Tat ihre Verzeihung. Er führe ihr jetzt die Tochter, die zu einer lieblichen Jungfrau herangewachsen sei, wieder zu und bitte sie zugleich, ihm dieselbe nach einigen Jahren zur Ehe zu geben. Sigríður erfährt nun, dass das liebliche Mädchen, das in der Begleitung des Fremden sich befindet, ihr eigenes Kind ist. Sie drückt es voll Stolz und Freude an ihr Herz und verzeiht gern das ihr zugefügte Leid. Nach einigen Jahren wird dann eine fröhliche Hochzeit gefeiert.

Der erste Teil dieser Erzählung bis zur Erlösung durch die richtige Beantwortung der drei Fragen hat vollständigen Märchencharakter. Da die Freier jedesmal in der Weihnachtsnacht kamen, ist zu vermuten, dass sie ursprünglich Elben und nicht Geächtete waren. Hiermit stimmt auch eine Anmerkung Árnasons (II S. 212), dass nämlich in einigen Gegenden Islands die seltsamen Freier Sigríðurs ausdrücklich als Elben bezeichnet würden. Die Erzählung ist überhaupt etwas lückenhaft, denn durch nichts wird motiviert, weshalb der Vater Sigríðurs sein einziges Kind solchen Unholden verheiratet, und weshalb solch ein Fluch auf die drei Brüder gelegt worden war. –

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 294-298.
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