XCIX. Das Gastgeschenk der Jungfrau Maria.

[356] Lbs. 538. 4 to.


Ein Bauernpaar wohnt mit seiner einzigen Tochter in einer Hütte. Einst wollen die beiden Alten zur Jungfrau Maria wallfahrten. Die Frau will ihr einen Butterklumpen, einen Flicklappen und einen Mehlsack zum Geschenke mitbringen, der Mann ein Bindfadenstück, einen Hammer und eine Ledersohle. Ehe sie weggehen, verschliessen sie ihre einzige Tochter in die Vorratskammer und verstecken den Schlüssel unter dem Feuerplatze. Wie sie ein Stück weit[356] gegangen sind, begegnen sie dem ihnen unliebsamen Freier der Tochter. Die Alte sagt zu ihm triumphierend: »Jetzt kannst du nicht zu unserer Tochter, denn wir haben sie in der Vorratskammer eingeschlossen und den Schlüssel unter dem Feuerplatz verborgen.« Das lässt sich der junge Mann nicht zweimal sagen. Er eilt sogleich zur Geliebten und nutzt die Abwesenheit der Eltern gründlich aus. Die beiden Alten ziehen nun weiter, bis sie an einen Lehmplatz kommen, in dem grosse Sprünge sich befinden. Da sagt die Frau: »Es erbarmt Einen zu sehen, was die Erde hier leidet. Der Jungfrau Maria wird es wohl gleich sein, ob man ihr Gutes tut oder den Armen.« Und damit schmiert sie die Butter in die Sprünge. Später kommen sie in einen Wald, wo sie viele kleine Holzstücke finden. Darauf sagt die Alte dasselbe und näht alle Flicklappen um die Holzstücke. Nachdem sie wieder eine Weile gewandert sind, kommen sie an einen Fluss, den sie schon von weitem brausen hören. »Ach Gott«, sagt die Frau, »was muss der Hunger haben, dass er so jammert. Der Jungfrau Maria wird es wohl gleich sein, ob man ihr Gutes tut oder den Armen.« Und damit wirft sie alles Mehl in den Fluss, und als er noch nicht stille ist, veranlasst sie den Mann, auch noch die Ledersohle nachzuwerfen. – Jetzt kommen sie auf der Wallfahrt wieder durch einen Wald. Die Mücken werden sehr lästig, ja, eine setzt sich sogar der Frau auf die Nase. Wie der Bauer das sieht, ärgert er sich darüber und haut mit dem Hammer zu, so dass von dem Schlag die Alte in Ohnmacht fällt. Nun bekommt der Mann einen Schrecken und läuft eilends fort. Er kommt an eine grosse Kinderherde, wo ihm eine rote junge Kuh hier besonders in die Augen sticht. Er befestigt das Bindfadenstück an ihren Hörnern und führt sie mit sich fort. Beim Weiterwandern überlegt er so: »Die Kuh bringe ich dem Könige. Dieser ist darüber so erfreut, dass er mir erlaubt, unter seinen Kostbarkeiten auszusuchen, was ich will. Ich wähle mir dann seine Tochter zur Frau, und diese wird mir einen Sohn gebären. Wenn ich den dann einmal auf den Knien habe, wird er mich nass machen, und dann werde ich aufspringen und mich schütteln.« Wie der Bauer[357] so weit gekommen ist in seinen Phantasieen, steht alles so lebhaft vor ihm, dass er sich schon jetzt so schüttelt, dass seine steife Felljacke knistert. Die Kuh, die sehr scheu ist, erschrickt und zieht ihn fort. Gerade sind sie auf einer schmalen Felsenklippe, und von hier purzeln sie beide in die Tiefe. Der Sturz schadet jedoch weder dem Alten, noch der Kuh. Unten findet er seine Frau wieder, und nun ziehen die beiden Alten mit der Kuh vergnügt nach Hause und halten das Tier für ein Gastgeschenk der Jungfrau Maria.

Zu diesem Schwank kann ich keine Parallele angeben. Nur einzelne Züge aus diesem Märchen finden sich auch in andern Märchen wieder. Das Catherlieschen des deutschen Märchens (Grimm 59 »Der Frieder und das Catherlieschen« I, S. 225 ff.) hat gleichfalls Mitleid mit dem zerrissenen Erdreich und bestreicht es deshalb mit der mitgenommenen Butter. –

Dass ein Mensch an irgend ein Besitztum Zukunftshoffnungen knüpft und sich so sehr in diese angenehme Träume vertieft, so dass er irgend eine für sein Besitztum verhängnisvolle Bewegung macht, wird schon im Pantschatantra erzählt (Benf. II, S. 345/6). Ein Brahmane knüpft an seinen Topf voll Reisbrei schöne Zukunftspläne. Er sieht sich reich geworden, verheiratet und als Vater eines kleinen Sohnes. Da die Mutter nicht auf das Kind achtet, so gibt er ihm einen väterlichen Fusstritt. Er trifft jedoch den Reistopf und ist durch das Zerbrechen des Topfes um alle seine Zukunftshoffnungen betrogen. –

In ähnlicher Weise träumt in 1001 Nacht ein Büsser (5. Bd. XV, S. 117 ff.). Er prügelt in Gedanken schon seinen Sohn, für den Fall, dass er ihm dereinst nicht gehorchen wolle, trifft jedoch mit dem Stocke nur seinen Butterkrug.

Im deutschen Märchen (Grimm 164 »Der faule Heinz« II, S. 230 ff.) wird von dem faulen Ehepaare, das sich über ein Kind, das nur in Zukunftsträumen existiert, zankt, der Honigtopf entzweigeschlagen.

Und im wälschtyroler Märchen (Schneller 47 »Die Bruthenne« S. 130) wird die Bruthenne, mit deren Eiern das Ehepaar solche Hoffnungen verbindet, durch das Zerbrechen der Bettstatt erdrückt.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 356-358.
Lizenz:
Kategorien: