49. Die drei Räthsel.
(I tre indovinelli.)

[132] In alten Zeiten war ein König und eine Königin, die hatten einen einzigen Sohn, welcher noch klein, aber recht verständig und guten Herzens war. Da trug es sich zu, dass ein anderer König sie mit Krieg überzog und das Unglück wollte, dass die Feinde selbst die Hauptstadt des Reiches einnahmen und den König und die Königin gefangen hinweg führten. Der kleine Prinz aber fand im Getümmel Gelegenheit zu entfliehen. »Wenn ich mich auch wegführen lasse«,[132] dachte er sich, »so bin und bleib' ich Gefangener und kann meine Aeltern nicht befreien; wenn ich aber fliehe, wird es mir vielleicht doch noch möglich ihnen einmal Rettung bringen zu können.« Er kam zu einem ehmaligen Unterthan seines Vaters, der kannte den Knaben nicht, aber er nahm ihn auf, weil er ihm gefiel und erzog ihn, als wäre er sein rechter Sohn gewesen.

Als der Prinz zu einem schönen Jüngling herangewachsen war, liess es ihm keine Ruhe mehr und er dachte Tag und Nacht an seine armen Aeltern, von denen er freilich nicht wusste, ob sie noch lebten und wie es ihnen in der Gefangenschaft etwa ergehen möchte. Er bat daher seinen Ziehvater, dass er ihm erlaube in die Welt zu gehen, um sein Glück zu suchen. Ungern erlaubte es dieser und gab dem Jüngling seinen Segen und ein Reisegeld dazu.

Der Prinz zog lange in der Welt umher, aber mit all seinen Plänen, die er aussann, wollte es nicht vorwärts kommen. Endlich war auch sein Geld zu Ende und er war arm, wie eine Kirchenmaus; auch seine Kleider sahen nicht am besten aus. So kam er eines Abends auf eine Anhöhe, da lag ganz nahe eine grosse Stadt vor ihm; darin wurde mit allen Glocken geläutet und die Musik scholl weit hinaus. Nun sagte der Prinz zu sich: »Da muss wol ein grosses Fest gefeiert werden, aller Beschreibung nach ist dies die Hauptstadt des feindlichen Königs und sind dort meine armen Aeltern, wenn sie noch leben. Aber heute mag ich nicht mehr hinein gehen, ich will's auf morgen lassen und vor der Stadt übernachten.« Und er ging bis zu einem kleinen Hänschen vor dem Stadtthore und klopfte an; da kam eine freundliche Alte heraus, die nach seinem Begehren fragte. »Gute Frau«, sagte er, »gebt einem armen Wanderer Herberge für die Nacht.« »Ich bin selbst gar arm«, erwiederte sie, »allein das wenige, was ich habe, will ich gern mit Euch theilen, denn Ihr scheint mir ein ordentlicher Mensch.« Sie hiess ihn eintreten und bereitete das Abendessen, nämlich eine »pinza« d.i. eine Art Brod, das unter glühender Asche gebacken wird; auch bereitete sie ihm ein reinliches Lager auf Stroh, damit er gut ruhe.

Nach dem Abendessen sagte er: »Liebe Frau, was ist das für eine grosse Stadt, zu der ich gekommen bin?« »Das ist die Hauptstadt unseres mächtigen Königs«, erwiederte sie. »Anfangs war sein Reich nur klein, da unternahm er gegen einen andern König einen Krieg, führte ihn und seine Gemalin in die Gefangenschaft und nahm ihm sein ganzes Reich, so dass das seinige nun wol drei oder viermal[133] grösser geworden ist, als es vorher war.« »Und lebt der gefangene König noch?« fragte der Jüngling und sein Herz klopfte so laut, dass es die Alte schier hätte hören können. »Ja wol«, sagte sie, »der arme König und die arme Königin sie leben beide, sie werden auch gut gehalten, nur dass sie in einem Palaste eingesperrt sind und immer über ihren Sohn weinen.« »Und wo ist denn ihr Sohn?« fragte er mit erleichtertem Herzen. »Ja, wenn sie das wüssten!« antwortete die Alte; »sie meinen, er sei wol damals umgekommen, als ihre Stadt von unserem Könige eingenommen wurde.« – »Und warum haben sie denn heute so geläutet und Musik gemacht?« »Ja, das ist«, erwiederte die Alte, »weil unser König nur eine einzige Tochter hat, die will sich vermälen und Hochzeit halten, sie ist die Erbin des ganzen Reiches und hat der Freier eine ganze Menge.« »Hat sie schon gewählt?« fragte der Prinz weiter. »Nein«, sagte die Alte; »die Sache verhält sich so. Sie gibt jedem, der um sie freien will, drei Räthsel auf und der erste, der sie löst, soll ihr Gemal sein und König werden. Morgen ist der erste Tag; da darf sich ihr jeder ehrliche Mann vorstellen, nur ein Bettler oder ein Landstreicher darf es nicht sein, sonst ist jeder zugelassen.« »So will ich doch auch hingehen und mir's ansehen«, sagte der Jüngling, »ruft mich morgen recht früh!«

Am nächsten Morgen weckte ihn die Alte früh und half ihm seine Kleider vom Staube reinigen und machte auch einige Nadelstiche, wo es nöthig war, so dass er aussah, wol wie ein armer, aber doch wie ein ordentlicher Mensch. »Nun könnt Ihr wol auch versuchen«, sagte sie schalkhaft, »um die stolze Prinzessin zu werben und wenn Ihr glücklich seid, vergesst das arme Mütterchen nicht!«

Der arme Prinz ging nun in die Stadt und als er zur Königsburg kam, sah er viele stolze Prinzen und Ritter, von denen meinte ein jeder, er werde die Räthsel lösen und Gemal der schönen Prinzessin werden. Aber so viele es versuchten, keiner konnte die Räthsel richtig lösen und sie zogen einer nach dem andern beschämt und still von dannen. Endlich liess sich auch unser armer Prinz von den Dienern, welche höhnisch über ihn lachten, der Prinzessin vorstellen. Sie sah ihn fast verächtlich an und sagte: »Auch Ihr wagt es um mich zu werben; seid Ihr denn auch ein Ritter?« Da erwiederte er: »Gnädigste Prinzessin, ich bin zwar nur ein armer Mann; da Ihr aber einmal einen Mann von Geist und Verstand wollt, so halt' ich mich nicht für schlechter als die übrigen.« Da sagte sie wieder: »Nun, Ihr könnt es versuchen, aber wenn Ihr es nicht errathet, so[134] lass' ich Euch das Haupt abschlagen und Euch zu Füssen legen. Wollt Ihr noch?« »Ja«, erwiederte er. »Nun wol«, sagte die Prinzessin, »hört denn. Was ist da, was die ganze Erde erfreut und es allen gleich macht und keinem einen Vorzug gibt?« Und er erwiederte: »Das ist die Sonne, die erleuchtet und erwärmt alles, die Höhen und die Tiefen, die Erde und das Meer, das Thier und die Pflanze, den Armen und den Reichen, den König und den Bettler!«

Da zuckte ein bittersüsses Lächeln um die Lippen der Jungfrau und sie sagte: »Wol, das erste habt Ihr errathen und ich kann es Euch nicht bestreiten. Aber was ist das: es ist ein Baum, der ist auf der einen Seite schön und freudenvoll, auf der andern aber traurig und trübe; auch hat er viele Blätter, die sind auf der einen Seite hell und licht, auf der andern aber schwarz und dunkel.« Und er antwortete: »Dieser Baum ist das Jahr, das hat eine Seite, die ist schön und freudenvoll und die ist der Sommer; die andere aber ist der Winter, der ist traurig und trübe. Und seine vielen Blätter sind Tag und Nacht, der Tag ist hell und licht, die Nacht aber schwarz und dunkel.«

Als die Prinzessin dies hörte, fuhr sie zusammen und neigte das Haupt, als ob sie traurig wäre; bald aber erhob sie es wieder, blickte ihn stolz an und sagte: »Wolan, zwei Räthsel habt Ihr gelöst, nun merkt auf das dritte. Wer ist die Mutter, welche, nachdem sie ihre Kinder geboren und genährt hat, sie wieder in ihren Schooss aufnimmt?« Und er erwiederte: »Diese Mutter ist die Erde, die Menschen sind aus ihr geboren, sie werden von ihr genährt und wenn sie sterben, so kehren sie wieder in ihren Schooss zurück!«

Da ging ein lautes Gemurmel durch den ganzen Saal; die Prinzessin aber war blass geworden und in ihren Divan zurückgesunken. Ihr königlicher Vater ging auf sie zu, hob sie auf und legte ihre Hand in die des armen Prinzen. »Dieser Mann«, sagte er, »ist dein zukünftiger Herr und Gemal, sei er, wer er wolle. Du hattest dein Schicksal in deinen Händen, du hast selbst entschieden und dabei soll es verbleiben!« Sogleich liess er den armen Prinzen in eigens hergerichtete Gemächer führen, gab ihm kostbare Kleider und Diener und hielt ihn in allen Stücken wie seinen Schwiegersohn.

Die Prinzessin aber war immer traurig. »Wenn ich nur wüsste, wer er denn sei«, sagte sie oft zu ihren vertrauten Dienerinnen; »so aber weiss ich es nicht und er sagt es mir auch nicht, so dass ich schlimmes argwöhnen muss.« Der Prinz selbst bemerkte es wol und[135] errieth, warum sie verstimmt sei. Da sagte er eines Tages zu ihr: »Hört, ich will Euch auch ein Räthsel aufgeben; wenn Ihr es innerhalb acht Tagen errathet, so sollt Ihr frei und ledig und Eures gegebenen Wortes entbunden sein. Mein Räthsel aber lautet so: Wer ist der König, welcher aus seinem Reiche verstossen doch wieder in sein Reich zurück kehrt?«

Da war die Prinzessin wieder froh und dachte: »Ich will es schon errathen.« Zwei Tage lang dachte sie nach und frage auch alle, die ihr begegneten, aber vergebens. Da gab sie allen Dienerinnen den geheimen Befehl, den Prinzen Tag und Nacht zu belauschen und ihr jedes Wort, das er spreche, zu hinterbringen. Und die Diener lauschten und lauschten, aber der ernste Prinz sprach nie laut zu sich selbst, so dass die Prinzessin an ihrem Erfolge schon verzweifelte.

Am siebenten Abende hatte sich der Prinz eben schlafen gelegt; da hörte die Obersthofmeisterin, welche an der Thüre lauschte, wie er seufzte und zu sich sprach: »Ach, du armer Prinz, du König ohne Reich, was wird aus dir werden, wenn dich die schöne Prinzessin nicht liebt?« Und dann seufzte er wieder und schlief ein. Die Obersthofmeisterin aber eilte zur Prinzessin und hinterbrachte es ihr. Nun athmete diese auf und auf einmal war ihr alles klar.

Am folgenden Morgen kam der Prinz zu ihr und fragte: »Nun, habt Ihr es errathen? Heute ist der achte Tag.« Da stellte sie sich traurig und sagte: »Ei, lasst mich noch einmal hören, wie lautet das Räthsel?« Und er sagte: »Es lautet so: Wer ist der König, welcher aus seinem Reiche verstossen doch wieder in sein Reich zurück kehrt?« »Du bist es!« rief sie triumphirend, »du bist der Sohn des Königs und der Königin, die mein Vater bis zum heutigen Tage gefangen hält. Jezt hab' ich das Räthsel gelöst und ich bin frei.«

Da neigte der Prinz traurig das Haupt und erwiederte: »Wolan, Ihr habt es errathen, denn so hab' ich's gemeint. Ihr seid frei und ich will wieder von dannen ziehen; denn mein Reich wäre nur Euer Herz und Eure Liebe gewesen, die Ihr mir versagt – nicht Eure Hand und mein und Euer Reich, die ich um den Preis meines und Eures Glückes nicht will. Aber eine Gnade gewährt mir: gebt meinen Vater und meine Mutter frei und lasst sie mit mir hinwegziehen, bis wir an den Gränzen Eures Reiches den Staub von unsern Füssen schütteln und ausruhen.«

Und er hatte das Haupt wieder erhoben und stand vor ihr ein armer aber blühender stolzer Mann. Da brach sie in Thränen aus,[136] warf sich an seinen Hals und rief: »Nein, nein, so war es nicht gemeint, du bist mein für immer, ich will dich nicht lassen. Mein Herz hat sich der heissesten Liebe für dich geöffnet, denn du bist ein edler Mann, wie ich auf der weiten Erde keinen bessern je wieder fände. Wisse auch, dass ich mich selbst nicht mit Recht freisprechen kann, denn ich habe dich belauschen lassen und du hast selbst die Lösung des Räthsels ausgesprochen.« Und so umarmte und küsste sie ihn in Einem fort. Da trat auch ihr Vater hinzu, umarmte den Prinzen und sagte: »Gott sei gelobt, dass ich am Sohne meines Feindes ein altes Unrecht, über welches mir mein Gewissen schon so viele Vorwürfe gemacht hat, wieder sühnen kann! Du sollst nicht blos dein Reich und meine Tochter, sondern auch mein ganzes Land dazu haben.« Sogleich schickte er Wagen, um den gefangenen König und seine Gemalin zu holen, welche bald kamen und sich vor Freude nicht zu fassen wussten. Dem armen gefangenen Könige aber war in den langen Jahren ein so langer weisser Bart gewachsen, dass er ihm fast bis zu den Füssen reichte.

Bald wurde fröhliche Hochzeit gehalten und sie lebten noch viele Jahre glücklich zusammen. Nach dem Tode des Königs erbte der Prinz das ganze grosse Reich und war ein König weise und gerecht, wie selten Einer auf Erden. Dankbar aber hatte er sich nicht nur seines Ziehvaters, sondern auch jenes alten armen Mütterchens vor dem Stadtthore erinnert und ihr ein grosses schönes Haus bauen lassen versehen im Ueberfluss mit allem, was sie brauchte oder wünschte. Da sass die gute Alte noch lauge Jahre vor dem neuen Hause an der wärmenden Sonne und erzählte jedem, der sie freundlich grüsste und mit ihr redete, wie sie einst den König als armen verstossenen Prinzen eine Nacht in ihrem Hänschen beherbergt und ihm die Kleider geflickt habe. Und wenn du es nicht glaubst, so geh hin und sieh, ob sie vielleicht noch dort sitze und sie wird es dir auch erzählen; wenn aber ein armer ehrlicher Wanderer bei dir einkehrt, so behandle ihn als lieben Gast, denn man kann nie wissen, wer er sei. –

Quelle:
Schneller, Christian: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck: Wagner 1867, S. 132-137.
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