6. Die vier kunstreichen Brüder.

[30] Ein nicht reicher, aber wohlhabender Vater hatte vier Söhne, durchaus hübsche, aufgeweckte Bursche, die er zu versorgen trachtete, und eine noch hübschere sehr reiche Mündel, die jeder von diesen zu heirathen wünschte.[30]

Da führte er einst die Söhne auf einen Kreuzweg und sagte zu ihnen: »Gehe jeder von euch einen von diesen vier Wegen, lerne ein Handwerk, komme nach einem Jahre wieder auf diesen Punkt, und wenn ihr wieder beisammen seid, so kommt zu mir. Der das grösste Meisterstück in seiner Kunst ablegt, der soll meine Mündel haben, jeder andere aber ein Drittheil meines Vermögens.«

Und so geschah es.

Der eine wurde ein Tischler, der andere ein Jäger, der dritte ein Dieb und der vierte ein Zauberer (mago).

Gerade nach einem Jahre fanden sich die vier Söhne wieder bei ihrem Vater ein, der, obgleich ihm das Handwerk der beiden letztern nicht sehr gefiel und ihm die Mündel unterdess geraubt worden war, die Prüfung der Söhne vorzunehmen begann.

»Wohlan«, sagte er zum Dieb, »hier auf dem Baume ist ein Amselnest. Die Mutter sitzt auf den Eiern; bist du im Stande die Eier zu stehlen, ohne dass dich die Mutter sieht?«

»Das ist sehr leicht«, antwortete dieser, stieg sachte auf den Baum, bohrte das Nest von unten an, so dass die Eier durchfielen, die Amsel aber im Glauben, die Eier unter sich zu haben, sitzen blieb.

Natürlich waren die Eier vom Falle zerbrochen. »Bist du so geschickt«, sprach der Vater hierauf zum Tischler, »die Eier wieder ganz zu machen?«

»Wenn Sie befehlen«, antwortete der Tischler, und flickte die Eier, dass sie wie neue aussahen.

»Wohlan«, sagt der Vater zum Jäger, »binnen kurzem kommt das Männchen, bist du so ein guter Schütze, den Amseln auf einen Schuss die beiden Schnäbel vom Kopfe wegzuschiessen?«

»Ohne Zweifel«, antwortete der Jäger, und als bald darauf das Männchen kam, liess er knallen und beide Amseln flogen ohne Schnabel vom Neste weg.

»Kinder!« sagte der Vater, »ihr seid brav in eurem Geschäfte, das muss ich sagen; jetzt aber habe ich eine schwere Aufgabe für dich«, fuhr er zum Zauberer gewandt[31] fort: »Mir wurde während euerer Abwesenheit die Mündel geraubt, weisst du wo sie ist?«

»O ja«, erwiederte dieser, »sie ist so eben im Garten des mächtigen Fürsten Segeamoro und speist einen Pfirsich.«

»Das wäre eine Hauptaufgabe für dich«, sagte der Vater zum Diebe, »die Mündel diesem zu stehlen.«

»Das soll alsogleich geschehen«, sagte der Dieb, schlich sich in den Garten des Fürsten, ergriff sie und sprang mit ihr in eine Barke, die am Ufer des durchströmenden Flüsschens war. Vergebens war das Schreien und Laufen der fürstlichen Dienerschaft, den Dieb einzuholen; da liess der Gärtner einen grimmigen, zum Schutz des Gartens angeketteten Drachen los. In wenigen Augenblicken hatte der Drache die Barke eingeholt und schwebte wie ein zum Stosse bereiter Raubvogel über ihr; da knallte ein Schuss und tödtlich getroffen von des Jägers sicherer Kugel stürzt das Ungeheuer aus der Luft – leider gerade auf die Barke herab, die es durch seine Schwere zerschmetterte. Schon zappelten Dieb und Mündel dem Ertrinken nahe im Wasser, als sich der Tischler in den Fluss stürzt, in wenig Augenblicken die Barke ausbessert und Mündel und Bruder zu sich hereinzieht.

Da sprach der Vater hocherfreut: »Der Zauberer hat zwar die Mündel entdeckt, der Dieb hat sie gestohlen, der Jäger vom Drachen gerettet, aber ohne des Tischlers Schwimmkunst und Leim wäre sie doch verloren gewesen; sie möge also des Tischlers Frau werden, ihr andern aber sollt mein Vermögen in drei Theile theilen.«


Man vergl. Benfey's Aufsatz, »das Märchen von den Menschen mit den wunderbaren Eigenschaften, seine Quelle und seine Verbreitung«, im »Ausland« 1858, Nr. 41 ff. Unser Märchen stimmt am nächsten mit dem deutschen bei Grimm, KM., Nr. 129, und dem von Benfey noch nicht gekannten dänischen bei Grundtvig, Gamle danske Minder, Bd. 2, S. 27. Dem »Mago« des italienischen entspricht der »Sterngucker«[32] des deutschen und der »Denker« des dänischen1; dem Tischler des italienischen der Schneider des deutschen und der Zimmermann des dänischen, der alles ausbessern kann und »Mester Flik-Flikker« genannt wird. Der Schütze und der Dieb kommen in allen drei Märchen vor. Ebenso die Erprobung der zurückgekehrten Brüder durch den Vater an dem Vogelnest; doch ist hier das italienische Märchen unvollständig, da der Zauberer nicht erprobt wird. Er müsste entweder, wie im dänischen der Denker, angeben, auf welchem Baum ein Vogelnest sei, oder, wie im deutschen der Sterngucker, wie viel Eier darin seien. Darin, dass der Tischler, der das zertrümmerte Boot wieder geflickt hat, als Sieger erkannt wird, stimmt das italienische mit dem dänischen, wo ebenfalls der Zimmermann siegt. Insofern das italienische Märchen damit beginnt, dass die vier Brüder ein und dasselbe Mädchen zu heirathen wünschen und der Vater das Mädchen dem verspricht, der das beste Meisterstück in seiner Kunst ablegt, nähert es sich mehr als die andern abendländischen Formen den von Benfey nachgewiesenen orientalischen Formen des Vetàlapantschavinçati und des Tutinameh. – Ich will bei dieser Gelegenheit nicht unterlassen, eine merkwürdige, bisher unbekannte Behandlung des Märchens von den kunstreichen Brüdern und ihrem Streit um die gerettete Jungfrau mitzutheilen. Sie findet sich in dem jüdisch-deutschen »Maase-Buch« über welches M. Steinschneider im »Serapeum«, 1864, S. 67 ff. und 1866, S. 1 ff., berichtet hat, jedoch nicht in der ältesten Ausgabe von 1602, sondern in einer wahrscheinlich dem vorigen Jahrhundert angehörigen, vielleicht aber auch in frühern Ausgaben. Aus einer kurzen Notiz Steinschneider's (Serapeum, 1866, S. 10) erkannte ich das Märchen und bat ihn um nähere Auskunft, worauf er die Güte hatte, mir eine vollständige Abschrift oder vielmehr Umschrift2 des jüdisch-deutschen Textes mitzutheilen. Hiernach hat ein Melech (König) [33] sieben Söhne, welche, zu ihren Jahren gekommen, ausziehen, um etwas zu lernen. Nachdem sie etliche Meilen zusammen gereist sind, speisen sie in einem Wirthshaus zu Mittag und machen unter sich aus, sich nach drei Jahren hier wieder zu treffen, worauf sie auf sieben Strassen, jeder für sich, wegziehen. Als sie zur bestimmten Zeit sich wieder in dem Wirthshaus zusammenfinden, hat jeder eine besondere Meloche (Arbeit, Kunst) gelernt. Der älteste hat eine Brille, durch die er fünfhundert Meilen weit sehen kann; der zweite hat eine Fidel, bei deren Klang alle Hörer einschlafen; der dritte kann einem das, was dieser noch so fest in der Hand hat, unvermerkt nehmen; der vierte kann etwas noch so grosses in einen Sack stecken, dass es niemand sieht; der fünfte kann mit einer Ruthe von einem Lindenbaum zehntausend Mann todt schlagen; der sechste kann einen Vogel, wenn er auch noch so hoch fliegt und ein Haferkorn im Maul hat, das Korn wegschiessen, ohne ihn zu schädigen; der siebente kann einen Mühlstein mit der Rechten in die Luft werfen, dass ihn niemand mehr sieht, und ihn mit der Linken wieder auffangen. Sie beschliessen nicht gleich heimzukehren, sondern erst gemeinsam noch weiter zu ziehen, und kommen bald in eine grosse Stadt, wo ein mächtiger König wohnt, dem sie sich vorstellen und der ihnen ein Mahl giebt. Wie sie nun gegessen haben – ich gebe nun den Text des jüdischen Mär chens wörtlich –, so ging der älteste Bruder gleich hinter dem Tisch herfür und macht sich das Fenster auf und setzt sich sein Brill auf; also sieht er, wie auf fünfhundert Meil Wegs ein Madam Hochzeit haltet, und der Bräutigam tanzt mit ihr, und sagt ein Wahrzeichen: »Sie hat sechs Finger an ihr linke Hand.« Sprach der König: »Das ist mein Tochter. Es hat mir ein Kaiser mein Tochter weckgeführt.« Also sprach der König zu die sieben Brüder: »Könnt ihr mir mein Tochter wiederschaffen, soll sie einer von euch zum Weib haben.« Also sprachen sie: »Ja, wir wölln sie dem König wiederschaffen.« Sie ziehten [zogen] dorthin, und da sie hin kommen, haben sie sich anmelden lassen. Alsdenn hat man sie lassen vorkommen. Und da sie sein hinein kommen auf der Hochzeit, alsdenn hat der ander Bruder sein Fidel genommen und hat darauf gespielt. Alsobald er gespielt hat, sein sie all mit einander eingeschlafen. Alsdenn ist der dritt Bruder gekommen und hat des Melech Tochter dem Bräutigam aus seiner Hand genommen, als er nit gespürt hat.[34] Nach dem ist kommen der vierte Bruder und hat die Braut in Sack gesteckt, als man sie nit gesehn hat, wo sie ist hinkommen, sonst hätt man sie wieder aweck genommen. Wie sie auf den [das] Feld kommen mit ihr, es stund nit länger an als zwo Stund, dass sie mit einander redeten, so kommt aus der Stadt heraus etliche tausend Mann hinter sie. Als der fünfte Bruder das sach, also springt er geschwind zu einem Lindenbaum und schneidt sich ein Ruth von dem Lindenbaum und darmit derschlägt er sie alle mit einander bis auf vier Person; die vier gingen wieder nach Haus und brengten [brachten] ihren schlechten Botschaft wieder. Da das der König hört, war er sich mezaër [betrübte er sich] darüber. Nun wölln wir stehn lassen den König und wölln anfangen von den sieben Brüder. Die sieben Brüder gingen mit der Braut fort. Aber da sie ein Zeit lang gingten, da waren sie müd von gehn und wegen gross Geschlacks. Also setzten sie sich mit einander nieder. Und da sie sassen, so sprach der älteste Bruder zu der Kallah [Braut], sie sollt ihn ein wenig lausen. Da schlaften sie alle mit einander ein. Unterdiesem der König in der Stadt war sich sehr mezaër, als ihm so ein Frevel ist geschehen. Da kam ein Müller, ein alter Mann, und sprach zu dem König: »Mein gnädiger König, sag mir doch, warum er so seufzen thut.« So sprach der König zu ihm: »Du alter Narr, du kannst mir doch nicht helfen.« Also bitt der Müller den König noch einmal. Also gedenkt sich der König in sein Sinn: »Es ist oft ein schlechter Mann, der einem bisweilen helfen kann«, – und verzählt dem Müller die ganze Sach. Als der Müller solches hört, also sagt er: »Gnädiger König, sorgt nit, ich will sie ihm wiederschaffen innerhalb vier und zwanzig Stund.« Als der König solches hört, also sprach er zu ihm: »Du sollst kein Müller mehr sein, neiert [sondern] du sollst darnach ein Herr sein.« So ging der Müller weck; aber er war ein Mechasschef [Zauberer] und macht sich zu einem Vogel und fliegt selbst hin, wohin die sieben Brüder mit der Kallah geschlafen haben, und nahm die Kallah in sein Maul und fliegt mit ihr in die Höch, das gab ein gross Geflader. Die Brüder hörten solches, also sprangen sie geschwind in die Höch. Also schiesst der sechste nach dem Vogel und schiesst sie aus dem Maul, als der Vogel mit die Kallah kein Schaden ist geschehen. Da sprang der siebte Bruder und fangt sie auf, sonst wär sie zu todt gefallen, und bringt sie zu ihrem Vater. Nach alle[35] den Sachen hat es ein gross Gezank unter die Brüder geben, welcher sie haben soll. Also sprach der ältst: »Sie gebürt mir, denn wenn ich sie nit hätt gesehn, hätt ihr nicks gewüsst von ihr zu sagen.« Sprach der ander Bruder: »Wenn ich nicht hätt mein Fidel gehabt, so wären sie nit eingeschlafen, so hätt wir sie nit bekommen können.« Also sprach der dritte: »Wenn ich nit dem Bräutigam sein Hand hätt aufgemacht, so hätt man sie nit bekommen können.« Also sprach der vierte Bruder: »Wenn ich die Braut nit hätt in meiner Tasch hinein gesteckt, hätt man sie uns in dem Hof wieder weckgenommen.« Also sprach der fünfte Bruder: »Wenn ich nit hätt die Stadtleut derschlagen, wär wir all umkommen.« So sprach der sechste: »Wenn ich sie nit hätt dem Vogel aus dem Maul geschossen, so wär er mit ihr weckgeflogen.« Spricht der siebte Bruder: »Ihr Narren, was helft all euer Reden? Wenn ich sie nit hätt aufgefangen, war sie doch todt gefallen; hab ich sie doch mazzil gewesen [gerettet], also gehört sie keinem als mich [l. mir].«

In diesem jüdischen Märchen haben wir eine ganz eigenthümliche, von allen andern abweichende Gestaltung des Märchens von den kunstreichen Brüdern. Am nächsten steht es dem russischen Märchen von den sieben Simeonen bei Dietrich, Russische Volksmärchen, S. 30 (vgl. Benfey a.a.O., S. 1019). In letzterem sind ebenfalls die Brüder sieben an der Zahl. Der eine kann einen von seinem Bruder im Flug angeschossenen Vogel im Herabfallen in der Luft auffangen, wie im jüdischen der eine den aufgeworfenen Mühlstein auffangen kann. In beiden wird diese Kunstfertigkeit dann in ähnlicher Weise an der Prinzessin erprobt, die freilich im russischen sich selbst in einen Vogel verwandelt, um den Brüdern zu entfliegen, von dem einen Bruder dann angeschossen und von einem andern aufgefangen wird. Von den übrigen Brü dern sind drei, der Fernseher, der Dieb und der Schütze, beiden Märchen auch gemeinsam, die drei andern in jedem verschieden. Beide Märchen mögen auf einer gemeinsamen Grundform beruhen.

1

In einer Variante des deutschen Märchens in Wolf's Zeitschrift für deutsche Mythologie, Bd. 1, S. 338, wird der eine Bruder nicht Sterngucker, sondern »Allwisser«, der andere nicht Schneider, sondern »Küfer«.

2

Die Schreibung ist nicht modernisiert. Nur a in aweck, araus für: hinweck, heraus, ist weggelassen; für das wechselnde aso und also ist stets das letztere gesetzt, und für das stets abgekürzte un, d für t in Land, endlich u. dgl. Die Interpunction ist beigefügt.

Quelle:
Widter, Georg/Wolf, Adam: Volksmärchen aus Venetien. In: Jahrbuch für Romanische und Englische Literatur 8 (Leipzig: 1866) 3ff, S. 30-36.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon