1. Kunz und sein Schafhirt.1

[4] Die Leute pflegten einst zu sagen: »Du kommst dahinter, wie Kunz hinter das Vieh gekommen ist.« Wie kam denn aber Kunz hinter das Vieh? Das will ich euch erzählen.

Es war einmal ein mächtiger König. Der hatte einen Minister2, der hiess Kunz. Und so oft der König von seinen Ministern einen Rat haben wollte und die Minister unter sich den Rat beschlossen hatten, da eilte der schlaue3 Kunz sogleich zum Könige und sprach: So und so haben wir4 beschlossen. Er that so, als ob er allein allemal den rechten Rat gefunden hätte und die anderen Minister allemal nur ihm folgten, weil sie selbst keinen finden könnten.

Die anderen Räte des Königs merkten gar bald, dass ihr Herr den Kunz besonders lieb und wert halte. Das verdross sie sehr, denn sie wussten, dass sie alle klüger waren, als unser Kunz und dem Könige bessere Dienste leisteten. Sie fassten sich also ein Herz und sprachen eines Tages zum Könige: »Herr König5! Nimm es nicht übel auf, aber wie du sonst uns immer fragst, so möchten wir dich heute eines fragen. Weshalb wohl6 ziehst du uns, deinen treuen Dienern, den Kunz so vor, der doch am wenigsten von uns allen taugt? Versuch es doch einmal mit uns, gieb jedem einzelnen Fragen auf und du wirst sehen, wie dir Kunz die Antwort schuldig bleibt.«

Der König, der gegen jedermann gerecht sein wollte, liess nun seinen Liebling Kunz rufen und sprach zu ihm: »Mein lieber Kunz! Ich halte dich für den treuesten und klügsten Mann7 an meinem Hofe. Deshalb will ich dir etwas anvertrauen, was ich sonst keinem offenbaren möchte. Antworte mir zunächst auf die Fragen: ›Wo geht die Sonne auf?‹ und ›Wie weit ist[5] der Himmel von der Erde?‹ Alsdann sage mir, was ich im Sinne habe8

Kunz war nicht wenig erschrocken. Doch rasch fasste er sich und sprach: »Gnädigster Herr! Das sind grosse, schwere Fragen. Man kann sie sobald nicht beantworten, man muss Zeit dazu haben. Darum bitt' ich dich: Gieb mir drei Tage Frist, so hoff' ich, die Antworten zu finden.« »Gut«, meinte der König, »das sei dir gewährt!«

Um sich von seinem Schreck zu erholen, eilte nun Kunz hinaus in's Freie auf eine Wiese, wo gerade sein treuer Hirte die Schafe weidete. Als der seinen Herrn so bekümmert und in Gedanken vertieft des Weges kommen sah, da grüsste er ihn geziemend und sprach: »Mein werter Herr! Ihr mögt es mir verzeihen, wenn ich euch anzureden wage. Aber ich sehe wohl, dass ihr ein9 gross' Anliegen auf dem Herzen habt. Vielleicht könnte ich euch raten. Denn das Sprichwort geht: Es giebt oft einer einen Rat, der selber keinen hat.«

In seiner Herzensangst erzählt auch Kunz dem Schäfer, was der König von ihm wolle »Mein werter Herr!«, so tröstet ihn der getreue Diener, »das soll eure Sorge nicht sein. Gebt mir nur einmal euren schönen Rock10 und ziehet indess' mein schlechtes11 Wamms an, so will ich statt eurer in die Stadt zum Könige gehen.« Gesagt, gethan. Rasch hatten sie die Kleider getauscht, und bald sass der feine Kunz bei den Schafen, als ob er sein Leben lang mit dem Vieh wär' umgegangen.

Mein guter Schäfer eilte inzwischen nach der Stadt und mit verstellter Stimme sprach er zum Könige: »Herr König! Ich hab' mich inzwischen besonnen auf die drei Sachen, die du mich gefragt hast.« Der König freute sich bereits, dass er sich in seinem Kunz doch nicht getäuscht habe und begann: »So sag' mir denn, mein Freund: Wo geht die Sonne auf?« Da sagte der Schäfer: »Im Osten12 geht sie auf und im Westen13 geht sie wieder unter.« »Wie weit ist der Himmel von der Erde?« fuhr der König fort »So weit, als die Erd' vom Himmel ist«, lautete die Antwort. Da fragte der König zum dritten: »Was hab' ich denn in meinem Sinn?« Der Schäfer erwiderte pfiffig: »Herr König! Das will ich dir sagen. Du meinst in deinem Sinn, dass ich Kunz, dein Minister, bin. Aber ich bin es nicht, sondern sein Schäfer, ein armer Wicht«

Da der König das hörte, da sprach er zu dem klugen Hirten: »Dieweil du Kunz so gut geraten hast, so sollst du fortan mein Rat sein, und er bleibe draussen und hüte die Schafe!« Also musste Kunz die Schafe hüten. Daher kommt das Sprichwort: Du kommst dahinter, wie Kunz hinter das Vieh. Also ging es Kunz, viel besser geh' es uns14!

1

Maa. 227. H. I, 40. Ueber die Literatur der drei Fragen, wovon Bürgers »der Kaiser und der Abt« und »das Hirtenbüblein« bei Gimm allgemein bekannt sind, vgl. Hollands Nachweise in Kellers Fastnachtsspielen S. 1490 und in seiner Ausgabe der Schauspiele des Herzogs Julius S. 896, ferner Pröeble, G.A. Bürger, Leipz. 1856 S. 115 ff. (über »Bürgers Lenore und die ihr verwandten Stoffe in der europäischen und russischen Volksdichtung« schrieb J. Sozonovič [Warschau 1893] in russischer Sprache), Percy reliquies 167–168, Fürsts Orient II, 1864 S. 687 u. Benf. I, 439. Gri. III, 245 ff. erwähnt auch unser Märchen.

2

o. jo'ec

3

o. mein feiner.

4

o. er hängt allemal die gedullo (Grösse, Ansehen) an sich.

5

o. Adouni Melekh.

6

o. du dein jo'ec Kunz men mekhabbed bist.

7

o. den grössten chokhom (Weisen).

8

vgl. Sirach 1,3.

9

o. eppes.

10

o. gute schaub', vgl. Perles 4.

11

o. böses.

12

o. mizrach.

13

o. ma'aribh.

14

H.: Selik.

Quelle:
Märchen und Sagen der deutschen Juden. In: Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde, herausgegeben von M. Grunewald, Heft 2 (1898) 1-36, 63-76, S. 4-6.
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