23. Die verschlossene Truhe.1

[31] Ein frommer und reicher Mann hatte drei Söhne. Und als er sein Ende nahen fühlte, da übergab er ihnen eine verschlossene Truhe und liess sie in Gegenwart der versammelten Gemeinde geloben, die Truhe nicht zu öffnen, ausser wenn einer von ihnen in die bitterste Not geraten sollte. Die Truhe sollte ein Jahr von dem einen, das nächste Jahr wiederum von einem anderen Bruder verwahrt werden, und während der eine die Truhe bei sich hatte, sollte der andere den Schlüssel dazu in seine Obhut nehmen.

Nach dem Tode des Vaters wurde sein Vermögen zu gleichen Teilen unter die Brüder verteilt, und so gross auch jeder einzelne Anteil war, der jüngste Bruder2 hatte den seinen bald verprasst. Da wollte er denn die Truhe öffnen lassen, Doch der älteste Bruder schenkte ihm lieber fünftausend Thaler, ehe er sich gegen den Willen des Vaters vergangen hätte. Nicht lange darauf kam der Verschwender wiederum zu seinem[31] anderen Bruder. Aber auch das Geld, welches dieser ihm schenkte, war bald verbracht. Da verfiel er denn auf eine List. Er liess sich, als der Schlüssel in seiner Hand war, einen Nachschlüssel anfertigen, und sobald er die Truhe wieder in seinem Hause hatte, da nahm er alles Geld, das er darin vorfand, heraus und legte dafür Steine und schwere Gewichte hinein. Doch das Geld brachte ihm keinen Segen. Bald war er wieder an den Bettelstab gelangt, und nun bestand er darauf, dass der Kasten vor der ganzen Gemeinde geöffnet werde.

Doch welches Entsetzen, als man einen solchen Inhalt gewahrte! Einer von ihnen musste den Frevel verübt haben. Sie zogen also zu einem berühmten Richter, der sollte den Schuldigen herausfinden.

Unterwegs begegneten sie einem Manne, der fragte sie, ob sie nicht ein herrenloses Pferd3 gesehen hätten. Der älteste Bruder antwortete: »Ist es nicht weiss? Nun, dann ist es in jenen Wald gelaufen.« Der zweite fragte: »Ist es nicht auf dem einen Auge blind?« Der dritte aber sprach: »Hat es nicht zwei Flaschen4 getragen, die eine mit Oel, die andere mit Wein?« Diese Angaben stimmten alle, und da der Mann das Pferd nicht finden konnte, ging er zu jenem Richter und sagte, die Brüder müssten das Pferd gestohlen haben.

Der älteste Bruder verteidigte sich, indem er sagte: »Ich habe gewusst, dass das Pferd weiss ist. Denn ich habe in der Hand des Mannes den Zaum bemerkt, und da klebten weisse Haare d'ran.« Der zweite sprach: »Ich sah da am Wege das Gras immer nur auf der einen Seite weggefressen, gerade da, wo das schlechte Gras stand, das gute auf der anderen Seite war stehen geblieben. So dacht' ich denn, das Pferd müsst' auf einem Aug' blind sein.« Der dritte Bruder antwortete: »Oel steht still und Wein trocknet ein5. Das muss den Gaul auf die eine Seite gezogen haben.«

Da nun der Richter sah, welch schlaue Gesellen er vor sich hatte, griff er zu einer List. Er erzählte ihnen, es sei soeben aus Aegypten ein schwieriger Rechtsfall zur Entscheidung vor ihn gekommen. Zwei reiche Elternpaare hatten ihre beiden Kinder schon in der Wiege einander zu Ehegatten bestimmt. Als aber nach dem Tode der Eltern das Mädchen daran dachte, den Wunsch der Verstorbenen zu erfüllen, fand sie an ihrem Verlobten hartnäckigen Widerstand. Dieser hatte nämlich sein ganzes Erbe vergeudet, war aber doch so ehrenhaft, da er seinen Leichtsinn kannte, das brave Mädchen nicht mit in's Verderben ziehen zu wollen. So nahm sie denn, nachdem sie dreimal ohne Erfolg versucht hatte, diese Bedenken zu zerstreuen, einen anderen zum Manne.[32]

Aber gerade, als das Paar nach der Hochzeit heimgehen wollte, kamen Räuber und entführten beide in ihrem kostbaren Hochzeitsstaate. Nur auf das inständige Bitten der Braut liess sie der Räuberhauptmann mit all' ihrem Schmucke frei. Wer von den dreien bewies nun den grössten Edelmut: Der erste Bräutigam, die Braut oder der Räuber?

Der älteste Bruder meinte: Der Bräutigam, der zweite: die Braut, der dritte: der Räuber. »Aber«, fügte er hinzu, »zum andern muss er ein grosser Narr gewesen sein, dass er den kostbaren Hochzeitsschmuck nicht eingesteckt hat.«

Da hob der Richter an und sprach: »Gelobt sei Gott, der nichts verborgen lässt! Hör', du junger Bösewicht! Nach dem Gold, das du nicht gesehen hast, trägst du Gelüst, um wieviel mehr6 nach dem, das du vor Augen hattest. Danach hat's dich gewiss gelüstet. Deshalb fangt den Dieb! Denn dieser hat das Geld aus dem Kasten genommen.«

Der Bösewicht gestand nun seine Schuld und geriet immer tiefer in Not und Elend.

1

Maa. 223. H. I, 37.

2

o. ein grosser verbrenger.

3

o. hätten vernemmen.

4

o. fläschen. Dasselbe Synh. 104, wahrscheinlich arabischer Herkunft. Vgl. Ehrmann 100 »Die Macht des Geistes.« Auch Reminiscenz an Berakh. 43b.

5

o. so muss es gewiss zwei laegel (= Fässchen, vgl. Perles 127) getragen hab'n. – Nicht recht verständlich. Es wurde wohl nach einem Pferde gefragt, welches Wein und Oel trage.

6

mikkol schĕken.

Quelle:
Märchen und Sagen der deutschen Juden. In: Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde, herausgegeben von M. Grunewald, Heft 2 (1898) 1-36, 63-76, S. 31-33.
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