Der Priester und der Bettler.

[66] Eines Sonntags ging ein Priester zur Kirche, um Gottesdienst zu halten. Unterwegs gesellte sich ihm ein Bettler. Als beide an einen Bach kamen, forderte der letztere den Priester auf, mit ihm übers Wasser zu gehen. Dieser aber, wohl wissend, daß er ein großer Sünder, fürchtete sich und suchte einen Steg auf. Den frommen Bettler aber trug das Wasser, so daß er trocknen Fußes mitten durch den Bach hinübergelangte.

Kaum hatte der Priester die Kanzel bestiegen, als der Teufel in der Kirche erschien und, nur ihm und dem Bettler sichtbar, entsetzliche Fratzen zu schneiden begann. Da konnte sich der Prediger des Lachens nicht enthalten, so daß die wenigen Kirchenbesucher, welche noch nicht eingeschlafen waren, sich daß verwunderten. Da drohte der Teufel dem Pfaffen – und verschwand.

Auf dem Heimwege gesellte sich der Bettler wieder zu dem Priester, der plötzlich heftigen Durst empfand. Sie kamen an denselben Bach und der Bettler sagte: »Hier ist reines, klares Wasser, trinke davon!« Der Priester that also. Darauf führte der Bettler ihn weit, weit den Bach hinauf, bis zu dessen Quelle; dort lag ein Aas und das Wasser floß hell und rein aus dem selben hervor.

»Siehe nun, welch Wasser du getrunken hast,« sprach der Bettler. »Du selbst bist solch ein Aas, aus dem das Wort Gottes, welches du Predigst, rein und klar hervorgeht.«

Dann führte er den also ins tiefste Herz Getroffenen wieder zurück. Als sie sich trennten, lud der Bettler den Priester ein, ihn in seiner Hütte zu besuchen. »Ich werde dir eines Tages mein weißes Pferd senden, das soll dich zu mir tragen!«

Drei Tage später erschien auf dem Pfarrhofe auch wirklich ein weißes Roß, der Priester bestieg es und wurde von[67] ihm durch einen schönen Birkenwald bis vor die Hütte des Bettlers getragen. Beide Männer begrüßten sich und der Wirt, so arm er auch scheinen mochte, setzte seinem Gaste doch ein gutes Glas Wein vor. Der Priester trank den Wein, dankte und ritt gleich wieder heim. Aber wie ward ihm, da er auf den Pfarrhof kam? ... Alles sah so ganz anders aus, als wie er's vor einer halben Stunde verlassen hatte; neue Gebäude, fremde Gesichter in Hof und Haus – ja sogar ein neuer, wunderlich gekleideter Priester. »Mein Gott, was ist hier vorgegangen?« rief der Heimgekehrte erstaunt und erschreckt.

Nach längerem Hin- und Herreden, denn sie konnten einander, obgleich jeder dieselbe Sprache zu sprechen glaubte, nur schwer verstehen, sagte der neue Priester: »Hier muß Gott ein großes Wunder gethan haben! Vor mehr denn dreihundert Jahren soll auf diesem Pfarrhofe allerdings ein Priester deines Namens, ein arger Sünder, gelebt haben, welchen ein weißes Roß für immer entführte.«

»Dreihundert Jahre,« schrie der Unselige, »und ich habe doch nur ein Glas Wein bei dem Bettler getrunken!« Dann brach er zusammen und zerfiel in Staub.1

1

Vgl. die deutsche Sage von dem Mönch zu Heisterburg.

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 68.
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