2. Märchen.

[64] Ging ein Mägdlein abends spät

Über grünes Wiesenland,

Drauf von niemand noch gemäht,

Hohes Gras in Fülle stand.

An dem Bach der es begrenzt,

Sang mit leisem, tiefem Schall

Im Gebüsch die Nachtigall –

Und des Mägdleins junges Herz

Pochte laut in Lust und Schmerz,

Wußte selber nicht warum.

Plötzlich schaut es: was erglänzt

Unter jenem Birkenbaum

An der Wiese Blumensaum?

Mägdlein naht sich leis' und stumm,

Von der Neugier überwunden,

Glaubt schon einen Schatz gefunden;

Da ertönt es silberhell:

»Ilse! – Ilse!« –[64]

Und sie bleibt

Festgewurzelt an der Stell'.

Nicht von Menschenlippen kam

Dieses Wort, ihr eig'ner Nam' –

Hexe rief es oder Teufel,

Ein Gespenst ganz ohne Zweifel!

Mägdelein bekreuzet sich,

Will geschwind vorübereilen;

Doch da tönt's zum zweitenmal:

»Ilse! – Ilse!« –

Und mit Bangen

Zwingt die Angerufne sich,

Vor der Birke zu verweilen;

Schaut: Mit hohem, blauem Strahl,

Nicht vom Windeshauch bewegt

Brennt ein Feuer dort; es schlägt,

Halb von Geisterfurcht befangen,

Halb von kindischem Verlangen,

Ein Geheimnis zu erfahren,

Ilses Herz ... Sieh, da erhebt

Aus den Flammen sich ein Weib, –

Schlank und blumenzart sein Leib,

Goldnes Kränzlein in den Haaren,

Ros'ger Schimmer auf den Wangen,

Und die Augen wie zwei Sterne,

Blitzend hell aus Himmelsferne.

Näher es und näher schwebt,

Das die junge Maid erbebt,

Aber milde ist sein Gruß,

So wie einer Mutter Kuß –:


»Fürchte nichts, du junge Maid,

Keinem thu' ich was zuleid,

Drückt mich selbst doch schwere Pein,

Die ich trag' allein – allein![65]

Bin der goldnen Sonne Kind,

Von dem Silbermond geminnt;

Könnte glücklich – selig sein,

Hätte nicht des Vaters Hassen

Uns in Leid vergehen lassen.

Meine Mutter auch, die Sonne,

Neidet unsre Herzenswonne,

Treibt Gott Pehrkon ewig an,

Zu verfolgen unsre Liebe.

Sieh es liegt ein schwerer Bann

Jetzt auf mir: von Himmelsthronen

Ward ich auf die kalte, trübe

Erdenwelt hinabgestoßen,

Muß in Feuersflammen wohnen,

Ewig klagend. Nichts mir blieb

Als die ›Flamme meiner Lieb‹ –!

War dir lang schon wohlgesinnt,

Nimm darum, mein liebes Kind,

Einen Brand von diesem Feuer;

Halt ihn hoch und halt ihn teuer,

Wahr' ihn auf des Hauses Herd,

Daß er nie erlischt! – Beschert

Wird dir Glück und Segen dann!« –

Sprach's die Jungfrau und verschwand.

Doch das Mägdlein nahm den Brand,

Trug ihn heim und hielt sein Feuer

Über alles hoch und teuer.

Und der Segen blieb nicht aus:

Reichtum kam in Vaters Haus

Und – eh' noch ein Jahr verrann –

Hatte Ilse – einen Mann! ...

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 64-66.
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