5. Vom Nachschrapselchen. (23)

[358] Es war einmal ein Mann und ein Weib, die hatten keine Kinder. Der Mann ging einst in den Wald Holz holen, und da erblickte er auf einem Baum ein Nest. Er kletterte auf den Baum, nahm das Nest weg, da waren zwölf Eier drin, und trug sie nach Haus. Und er sprach zu seiner Frau ›Jetzt setz dich, Alte, auf die Eier und bleib drauf sitzen, bis sie ausgebrütet sind.‹ Das Weib sass vier Monate auf den Eiern und brütete elf Buben aus, der zwölfte aber kroch nicht aus. Da befahl der Alte seiner Frau, sie müsste noch vier Monate auf dem einen Ei sitzen. Die hatte aber die Lust verloren, auf Eiern zu sitzen, und wollte nicht. Da nahm er die Peitsche und bearbeitete ihr den Rücken, bis sie sich wieder hinsetzte, und da sass sie noch vier Monate und brütete auch den zwölften Buben aus. Und weil der zuletzt auf die Welt gekommen war, nannten sie ihn Nachschrapselchen1.

Wie nun die zwölf Buben zu Jahren gekommen waren, da kaufte der Alte jedem ein Pferd. Aber bald fingen die Pferde an abzumagern, und da befahl der Alte seinen Söhnen, sie sollten einmal acht geben, ob nicht jemand Nachts den Hafer stehle. Die erste Nacht ging der älteste hin, bei den Pferden zu wachen, aber er legte sich hin und schlief ein, und da sah er nichts. Wie er am andern Morgen in die Stube kam, fragte ihn der Alte ›Na was hast du gesehn?‹ und er antwortete ›Nichts.‹ In der folgenden Nacht ging ein anderer Sohn wachen, aber dem ging's ebenso wie dem ersten, er bekam nichts zu sehn. Und so ging's der Reihe nach mit den elf ältesten, keiner bekam was zu sehn. Zuletzt kam an Nachschrapselchen die Reihe, und auch er sollte wachen. Nachschrapselchen hatte aber einen Hahn und eine Katze, die nahm er sich mit in den Stall. Und der Hahn und die Katze sprachen zu ihm ›Leg dich nur nieder; wenn was kommt, sagen wir dirs schon.‹ Da legte sich denn Nachschrapselchen schlafen, und der Hahn flog auf die Raufe und der Kater kroch unter den Futtertrog. Es war Mitternacht, da kam ein Schimmel gelaufen, und der schlug alle Pferde und machte sich daran, den Hafer zu[359] fressen. Aber der Hahn und die Katze zupften Nachschrapselchen wach, und Nachschrapselchen sprang auf und nahm das Pferd gefangen. Da bat das Pferd, er möge es doch loslassen, Nachschrapselchen aber hatte dazu keine Lust, und da sprach das Pferd ›Ich will dir auch von meinen Haaren geben; wenn du an denen zupfst und »Schimmelchen!« rufst, so werd ich stets gleich zur Stelle sein.‹ Und der Schimmel gelobte auch noch, künftig nicht mehr zu ihren Pferden zu kommen, und da liess ihn denn Nachschrapselchen laufen. Am andern Morgen, wie er in die Stube kam, fragte der Alte ›Was hast du gesehn?‹ ›Ich hab den Dieb schon gesehn, ich hab ihn aber wieder laufen lassen.‹ Fragt der Vater ›Warum hast du ihn denn laufen lassen?‹ ›Weil er mir gelobte, es nicht wieder zu thun.‹ Eines Tags ging der Alte nun wieder einmal nach den Pferden schauen, und die Pferde sahen jetzt wieder stattlich aus.

Als nun die Zeit kam, wo der Alte seine Söhne unter die Soldaten geben wollte, wollte er Nachschrapselchen nicht mitlassen, sondern ihn als Diener bei sich behalten. Aber Nachschrapselchen bat so inständig, und da liess ihn der Alte auch mitziehn und gab ihm eine abgemagerte Stute. Nachschrapselchen ritt davon und ritt ans Ende eines Feldes, dort stieg er von seinem Gaul und hob ihn am Schwanz in die Höhe, schüttelte ihm die Knochen aus dem Leder, und dann nahm er das Fell auf den Rücken und trugs davon. Er war ein Endchen gegangen, da zupfte er an den Haaren, die er von dem Schimmel geschenkt bekommen hatte, und rief ›Schimmelchen!‹ Sofort war auch das Schimmelchen da. Und es sprach zu Nachschrapselchen ›Wirf mir die Haut um, die du da hast.‹ Nachschrapselchen that das, setzte sich dann aufs Schimmelchen, und nun gings hurtig davon, bis er seine Brüder eingeholt hatte, und die Brüder sagten ›Uns hat der Vater kein so schönes Pferd gegeben wie er ihm gegeben hat!‹ Sie ritten nun alle zwölf ihres Wegs und kamen, als es schon ganz dunkel geworden war, an eine Schenke. Sie traten ein, verlangten Nachtherberge und stellten ihre Pferde in den Stall. Die Wirtin in der Schenke aber war eine Hexe, und sie gab jedem von den zwölfen ein Bett, und jeder sollte für die Nacht ein Mädchen haben. Nachschrapselchen aber hörte, dass draussen im Stall was laut polterte. Da ging er nach dem Stall, um zu sehn, was los[360] wäre, und da sprach sein Pferd zu ihm ›Die alte Hexe drin will euch umbringen. Sie wird euch vorn ins Bett legen und die Mädchen hinten an die Wand. Da schubse du nachher dein Mädchen vorn hin und mach das auch mit den Mädchen deiner Brüder so, und lege dich und deine Brüder hinten an die Wand.‹ Drauf ging Nachschrapselchen wieder in die Stube. Aber es dauerte noch lange, bis sie zu Bett gingen, und da machte ihnen die Alte in einem fort Possen vor: sie legte eine Laute auf den Tisch, die fing von selber an zu spielen, und Kätzchen tanzten mit einem Stiefel dazu. Darnach sprach die Hexe zu ihnen ›Geht jetzt schlafen,‹ und alle gingen sie jetzt schlafen, und die Hexe liess die Männer sich vorn ins Bett und die Mädchen sich an die Wand legen und löschte dann die Lampe aus. Und über eine Weile geht Nachschrapselchen an den Betten herum und legt seine Brüder alle hinten hin und die Mädchen vorn hin, und legt sich dann auch selbst hinten an die Wand. Und gleich drauf kam die Alte heran, hackte allen Mädchen den Kopf ab und sog ihnen das Blut aus. ›Ah!‹, sagte sie dann, ›wie ich mich an meiner Gäste Blut satt getrunken habe!‹ Als die Hexe aber wieder draussen war, weckte Nachschrapselchen geschwind seine Brüder, und sie ritten von dannen. Am andern Morgen kam die Hexe und wollte sehn, wie's stünde, da lagen die Mädchen mit abgeschnittnem Hals im Bett, und die Mannsleute waren fort, und da machte sich die Alte auf und verfolgte sie. Sie waren nahe bei einem See, da kam die Hexe heran, und da verkroch sich Nachschrapselchen mit allen seinen Brüdern in dem See, und die Hexe rief ›Nachschrapselchen, bist du da?‹ ›Ja, ich bin da.‹ ›Hast du meine Töchter umgebracht?‹ ›Ich nicht, aber ich bin der Anlass dazu.‹ Weiter fragte die Alte ›Nachschrapselchen, willst du bei mir wohnen bleiben?‹ Und Nachschrapselchen antwortete ›Ja, das will ich.‹ Da ging die Alte heim, die Jünglinge aber stiegen wieder aus dem Wasser und ritten weiter und kamen zum König.

Der König machte die elf ältesten Brüder zu Soldaten, Nachschrapselchen aber zu ihrem Offizier. Da wurden die Brüder böse auf Nachschrapselchen und gingen zum König und sprachen ›Wie wir auf unserm Herweg zu dir so durch die Welt ritten, haben wir eine Musik gesehn, da spielte eine Laute ganz von selbst, wenn man sie auf den Tisch legte, und Kätzchen tanzten mit einem[361] Stiefel dazu.‹ Fragte der König ›Könntet ihr mir nicht die Laute herbeischaffen?‹ ›Wir können's nicht, aber unser Bruder Nachschrapselchen der könnt es.‹ Da sagte der König ›So ruft mir den her‹, und sie riefen Nachschrapselchen herbei, und der König sprach zu ihm ›Geh und schaff mir das Spielwerk zur Stelle, das ihr, wie ihr herrittet, gesehn habt.‹ Nachschrapselchen kamen die Thränen in die Augen, er ging zu seinem Pferd, und das fragte ihn ›Warum weinst du?‹ ›Ach der König hat mich geheissen, ich solle ihm die Musik, die wir unterwegs gesehn haben, herbeischaffen.‹ Da sprach das Pferd ›Das sollst du schon fertig bringen. Reit nur zur Hexe hin und bitt sie um gekochte Eier. Sie wird dann ins Dorf laufen, um Eier zu holen, inner der Weile nimmst du die Laute, die Kätzchen und den Stiefel und machst dich davon und bringst sie dem König her.‹ Da ritt denn Nachschrapselchen als Soldat nach der Schenke der Hexe. Die Hexe fragte ihn ›Liebes Herrchen, willst du was zu essen haben?‹ und er antwortete ›Ich bin eben erst aus dem Lazaret entlassen worden, und da haben sie mir befohlen, ich solle weiter nichts essen als gekochte Eier, gib mir die.‹ ›Da will ich ins Dorf laufen und Eier holen‹, antwortete die Alte, und wie sie fort war, nahm Nachschrapselchen die Laute und die Kätzchen und den Stiefel weg und ritt von dannen. Die Hexe kam zurückgelaufen und fand Nachschrapselchen nicht, und da sah sie, dass auch Kätzchen, Stiefel und Laute fort waren. Und sie verfolgte ihn und holte ihn nicht weit von dem See ein. Nachschrapselchen verkroch sich im Wasser, und die Alte fragte ›Bist du da, Nachschrapselchen?‹ Nachschrapselchen antwortete ›Ja.‹ ›Hast du meine Töchter umgebracht?‹ ›Ich nicht, aber ich bin der Anlass dazu.‹ ›Hast du die Laute gestohlen?‹ ›Ja.‹ ›Hast du auch die Kätzchen gestohlen?‹ ›Ja.‹ ›Hast du auch den Stiefel gestohlen?‹ ›Ja.‹ ›Willst du bei mir wohnen bleiben?‹ ›Nein.‹ Da wollte die Alte den See austrinken, um zu Nachschrapselchen zu kommen; sie trank und trank immer zu, bis sie zerplatzte. Jetzt stieg Nachschrapselchen aus dem See und ritt zum König zurück. Der König sprach zu Nachschrapselchen ›So zeig mir die Musik.‹ Und Nachschrapselchen legte die Laute und die Kätzchen und den Stiefel auf den Tisch, und die Laute fing an zu spielen, und die Kätzchen mit dem Stiefel tanzten. Als der König sich die schöne Musik betrachtet hatte,[362] sprach er zu Nachschrapselchen ›Dafür schenk ich dir 100,000 Rubel und mache dich zum Senator.‹ Und der König ladete viele vornehme Herrn ein, die sollten sich auch die Musik besehn, und sie kamen alle angefahren, und man liess vor ihnen die Laute spielen und die Kätzchen mit dem Stiefel tanzen.

Darnach sprach der König ›Wenn jemand meine Tochter erlöste, dem würde ich sie zur Frau geben.‹ Das hörte auch Nachschrapselchen, und er ging zu seinem Pferd und fragte ›Wär es möglich, die Königstochter zu erlösen?‹ Das Pferd antwortete ›Ja.‹ Und da ging Nachschrapselchen zum König und sprach ›Ich kann deine Tochter erlösen.‹ Fragte ihn der König ›Was brauchst du dazu?‹ Nachschrapselchen sagte ›Ich brauche 1000 Fässer Theer und 1000 Fässer Feuerschwamm.‹ Die verschaffte ihm der König im Augenblick, und Nachschrapselchen ritt davon, die Königstochter zu befreien. Und2 da hiess ihn das Pferd, er solle alle Fässer auf der Erde zusammenstellen. Da stellte er sie zusammen, und das Pferd warf alle Fässer um, und sie rollten hin und her3. Nachher gebot (der Schimmel?) Nachschrapselchen sich aufs Pferd zu setzen. Nachschrapselchen stellte sich eine Leiter an und stieg aufs Pferd und ritt an den Berg heran und ruft die Königstochter. Und sie öffnete die Thür und liess Nachschrapselchen ein. Und das Mädchen gebot ihre Pferde zu Schanden zu reiten. Nachschrapselchen machte alle Pferde müde und sprach zu ihr ›Jetzt wollen wir uns auf mein Pferd setzen.‹ Da setzten sie sich beide darauf und ritten zum König. Und der König sagte seiner Tochter, sie solle Nachschrapselchen zum Mann nehmen, und sie fuhren zur Trauung. Und der König schenkte Nachschrapselchen die Hälfte seines Reichs.

1

Lit. Pagramdùkas, von pagramdis m., das Nachschrapsel, das, was in einem Backtrog, Kochgeschirr u.s.w. kleben geblieben ist und hinterher ausgeschrapt, ausgekratzt wird.

2

Von hier an kürzte der Erzähler. Ich übersetze wörtlich nach dem Original und muss es andern überlassen, das fehlende zu ergänzen.

3

Im Original ìr émė voliótis, was auch heissen kann ›und er (Nachschrapselchen)‹ oder ›und es (das Pferd) wälzte sich‹.

Quelle:
Leskien, August/Brugman, K.: Litauische Volkslieder und Märchen. Straßburg: Karl J. Trübner, 1882, S. 358-363.
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