[380] 812. Die drei Kerzen.

Eines Abends kam ein Mann, anscheinend ein Bettler, in ein Dorf und klopfte an einem der ersten Häuser an, um beherbergt zu werden. Die Leute im Hause nahmen ihn gut auf, denn der Mann hatte ein ehrbares Aussehen und sagte, er befinde sich auf einem Bittgang und müsse noch so und so weit gehen.

Als die Nacht schon weit vorgerückt war, gingen alle schlafen, und die Magd führte den Fremden in die Kammer, die ihm angewiesen war. Unterwegs bemerkte sie, daß der Mann einen Korb in der Hand trug, woraus drei Kerzen blickten. Sie fragte ihn, was er mit den Kerzen anfangen wolle, und der Fremde erwiderte, er müsse auf seinem Bittgang noch bis spät in die Nacht beten, darum habe er sich mit Kerzen versehen. Die[380] Magd jedoch traute dem Manne nicht recht und ahnte Böses. Sie ging deshalb nicht schlafen und stellte sich hinter die Küchentür, welche nicht weit von dem Zimmer des Fremden entfernt war; sie wollte den Fremden genau beobachten. Dieser zündete, sobald das Mädchen sich entfernt hatte, seine Kerzen an; darauf zog er ein Buch, anscheinend ein Gebetbuch, aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Die Kerzen aber hatten das Eigentümliche, daß, sobald man sie angezündet hatte, alle Leute im Hause, welche im Schlaf darniederlagen, nicht mehr erwachen konnten, bis man die Kerzen ausgelöscht hatte.1 Darauf öffnete der Fremde leise die Tür seines Zimmers, schaute sich einmal um und horchte, ob niemand in der Nähe sei. Die Magd machte nicht die geringste Bewegung und hielt den Atem an. Der Mann schlich alsdann ganz sachte zur Haustür hin, schob die Riegel weg und öffnete; die Magd aber konnte deutlich vernehmen, daß er jemandem zurief. Sie schlich ihm nach und sah, wie er draußen zu verschiedenen Gestalten sprach, auch hörte sie einige Worte wie »töten« und »morden« dazwischen. Sie erriet leicht, daß es sich um einen Raubmord handele. Schnell entschlossen warf sie die Tür zu und verriegelte sie fest. Der Mann konnte nun nicht mehr hereinkommen; er sah, daß er verraten war, und ergriff schnell die Flucht. Die Magd eilte indessen zurück, um die Leute im Hause zu wecken; aber trotz aller Anstrengungen kam sie damit nicht zustande. In ihrer Ratlosigkeit ging sie in des Fremden Zimmer. Dort sah sie allerlei Waffen liegen, die der Mann im Korbe mitgebracht hatte. Die Kerzen brannten hellauf und warfen einen geheimnisvollen Schein; das Mädchen versuchte, sie auszulöschen, aber vergebens. Da fiel ihr Blick auf das Buch und sie las auf der aufgeschlagenen Seite, daß man die Kerzen, wenn man sie auslöschen wolle, unter die Kuh halten und Milch darauf melken müsse. Sie lief sogleich in den Stall und melkte Milch auf diese gespenstischen Kerzen. Als sie zurückkehrte, waren die Leute im Hause erwacht.

1

Diebe und Mörder bedienten sich bei der Ausübung ihres schändlichen Handwerks oft der Hand eines ungeborenen Kindes oder, wie man kurzweg sagte, einer ungeborenen (ungetauften) Hand. Bei ihren Diebstählen zündeten sie die fünf Finger der Hand an, wodurch die Leute in tiefen Schlaf verfielen und die Verbrecher ungestört rauben und plündern konnten. Die fünffache Flamme konnte nur durch rohe Milch gelöscht werden. Brennt aber beim Anzünden ein Finger nicht, so ist das ein Zeichen, daß noch jemand im Hause wach ist; fangen zwei Finger kein Feuer, so wachen zwei usw.

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 380-381.
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