[518] 1075. Die Sage vom ewigen Juden.

Die Sage vom ewig umherirrenden oder vom sogenannten »ewigen Juden« ist unter dem Luxemburger Volke sehr verbreitet. Oft bringt man die Kinder mit der Drohung zur Ruhe: »Sei hübsch artig und ruhig, weine nicht, sonst kommt der Jud mit dem langen Bart und steckt dich in seinen großen Sack!«

An einem Sommertag ging einst, der Sage gemäß, ein Wanderer bei Brüssel in Brabant über Land. Die Bauern auf dem Felde staunten ob des langen Bartes und der seltsamen Kleidung des Wanderers; einer derselben trat zu ihm und bot ihm ein Glas Wein an. »Gerne möchte ich bei euch verweilen«, sagte der Fremde, »aber unaufhörlich muß ich wandern am Tag wie in der Nacht.« Endlich willigte er ein, etwas zu genießen; setzen aber dürfe er sich nicht. Er wäre wohl, meinten die Bauern, über hundert Jahre alt. »Zählt achtzehnmal hundert Jahre«, erwiderte jener, »und fügt noch zwölf Jahre hinzu, denn zwölf Jahre war ich alt, als der Gottessohn auf[518] Erden erschien.« Da fragten ihn jene, ob er denn der ewige Jude sei, von dem man so viel erzähle. »Isaak Laquedem ist mein Name«, antwortete der Fremde, »und ich bin zu Jerusalem geboren, wo Jesus Christus gestorben ist. Ja, ich bin der ewige Jude, von dem man weit und breit spricht. Schon fünfmal habe ich bis zur Stunde jeden Pol umgangen; ich habe alle Länder durchwandert, alle Meere durchschifft; habe in mancher Schlacht gekämpft, und wenn keiner sich retten konnte, verschonte doch mich stets der Tod. Alle sterben der Reihe nach, ich aber kann nicht sterben. Ich habe weder Hof noch Haus, das ich mein nennen darf. Meine Barschaft besteht aus fünf Sous, und hab ich die ausgegeben, sind wieder fünf da.« – »Welch schwerer Sünde hast du dich denn schuldig gemacht, eine solche Strafe zu verdienen?« – »Als Jesus nach dem Kalvarienberge unter des Kreuzes Last dahinzog und mich auf der Türe meines Hauses bemerkte, bat er mich um die Erlaubnis auszuruhen. Ich aber verweigerte es ihm und forderte ihn barsch auf weiterzugehen. Jesus aber seufzte und verhängte über mich die Strafe, umherzuwandern bis zum jüngsten Tag. Und zur Stund ging ich traurig von Hause weg und begann, die Erde nach allen Richtungen zu durchwandern.« Nach diesen Worten wendete sich der ewige Jude, um seine nie endenwollende Wanderung fortzusetzen.


P. Hummer, Lehrer

Quelle:
Gredt, Nikolaus: Sagenschatz des Luxemburger Landes 1. Neudruck Esch-Alzette: Kremer-Muller & Cie, 1963, S. 518-519.
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