XX. Margherita.

[61] Margherita sprach bei sich: »Ich habe vor, ehe ich sterbe, noch viele Leute auszuplündern!« – Einst starb ein kleines Mädchen. Margherita ging aus und suchte zu erfahren, wo man das Kind beerdigte, um hingehen und es aus dem Grabe holen und mitnehmen zu können. So zog sie denn nach Mittag, als die Leute schliefen, aus, öffnete das Grab, entnahm ihm das Kind und begab sich mit ihm zu einem Kaufmanne. Zu ihm sprach sie: »Ich möchte feines Weisszeug für eine Braut kaufen.« Der Kaufmann versetzte: »Sehr wohl! Und was wünschst du, dass ich dir vorlege?« Darauf liess sie sich etwa zwanzig Stücke Stoff geben und auf einen Karren laden und sprach dabei: »Schreib' mir die Rechnung; denn ich habe mein Portemonnaie zu Hause gelassen!« Dann fügte sie hinzu: »Aber es tut weiter nichts! Ich kann ja die Kleine, die gerade schläft[61] ein Weilchen hier lassen und gehen und dir das Geld holen!« Sie gelangte alsbald nach Hause, liess die Stoffstücke daselbst, brach wieder auf, schloss die Haustür zu und begab sich zum Kaufmann, zu dem sie sprach: »Da bin ich; ich habe dir das Geld geholt und will das Mädchen mitnehmen.« Hiermit deckte sie der Kleinen – bevor sie dem Kaufmann das Geld einhändigte – das Gesicht auf und schrie: »Ach! Was für Münze soll ich dir jetzt zahlen! Du hast mir die Kleine getötet! Nun werde ich hingehen und dich bei der Polizei anzeigen!« Der Kaufmann folgte ihr eilends auf die Strasse: »Her mit dir! Höre! Da!« Sie wandte ihr Gesicht und kam zurück. »Was willst du?« »Nein! Bitte! Tu' mir das nicht an! Nimm die Stoffstücke umsonst! Aber sag' nicht, dass das Mädchen tot sei! Denn ich habe sie wirklich nicht einmal zu Gesicht bekommen!«

Da fasste Margherita das Mädchen, nahm es unter den Arm und begab sich nach einem Laden, wo man Seide verkaufte; sie bestahl den Laden (mittels ihres Kniffes) um Seide im Preise von vierzig Pfund Sterling. Die Seidenstoffe liess sie in eine Droschke schaffen und sprach zum Ladenbesitzer: »Herr, ich habe das Geld zu Hause gelassen; ich werde dir das kleine Mädchen ein Weilchen hierlassen und dir das Geld holen!« Darauf begab sich Margherita nach Hause, um dann wieder in den Laden zurückzukehren. Zu dessen Besitzer sprach sie: »Herr! Das Mädchen gibt ja keinen Laut von sich!« Der Ladeninhaber horchte auf und sprach; »Seit du fortgegangen bist, hat sie allerdings keinen Laut von sich gegeben.« »Dann lass mich sehen, ob du ihr nicht gar etwas, was ihr die Luft benommen, in die Kehle gesteckt und sie mir erstickt hast!« »Bin ich etwa verrückt? Habe ich etwa Lust, in's Gefängnis zu wandern?« »Dahin wirst du schon gelangen! Denn, sieh', das Mädchen ist tot! Du hast sie getötet! Nun gehe ich zur Polizei!« »Her! Her! Komm her! Höre! Da! Du brauchst mir nichts zu bezahlen! Nimm die vierzig Pfund; denn ich will nicht vor den Gerichtshof kommen! Und ich kann dir schwören, dass ich das Kind gar nicht zu Gesicht bekommen habe!«

Damit nahm Margherita das Kind, steckte es unter ihre 'Onnella1[62] und begab sich nach dem Laden eines Goldschmieds. Er rief ihr zu: »Komm herein, Signora! Was brauchst du?« »Ich wünsche einen Schmuck mit den schönsten Diamanten, die du hast.« »Hier, Signora! Lass mich dir einen vorlegen!« Damit brachte er ihr ein Paar Armbänder, ein Paar Ohrringe, ein halbes Dutzend Ringe, ein schönes Halsband und eine feine Busennadel. »Wenn's beliebt, so setze die Rechnung auf!« Der Goldschmied versetzte: »Zweihundertundfünfzig Pfund beträgt deine Rechnung!« Margherita sagte hierauf: »Gut! Da lass mich nach Hause gehen und dir das Geld holen, denn ich habe keines mitgenommen! Aber ich werde dir das kleine Mädchen, mein Herzenskindchen, ein Weilchen hierlassen und das Geld holen.« »Sehr wohl, Signora! Geh' und lass das Kind dort auf dem Sofa!« Margherita sagte noch: »Pass' ein wenig hier auf sie auf, denn sie schläft!« – Sie blieb eine Viertelstunde fort und sprach, als sie wieder kam: »Da bin ich, Herr! Ich bringe das Geld! Und hat das Mädchen vielleicht geweint?« Der Goldschmied antwortete: »Nein! Sie hat sich nicht gemuckst!« Darauf trat sie an das Kind heran und rief: »O! Was hast du mir da gemacht?« »Was ist geschehen?« fragte der Goldschmied. »O!« versetzte Margherita; »du hast die Kleine getötet!« Er erwiderte: »Ich bin überhaupt nicht dorthin gekommen!« »Das ist mir ganz gleichgültig! Ich werde dir's nun schon zeigen! Lass mich zur Polizei gehen!« »Höre! Höre! Komm hierher! Da!« »Nein! Ich will nicht!« Aber sie wandte sich nach ihm um und kam wieder näher, mit den Worten: »Was willst du?« Er antwortete: »Behalte alle die Diamanten, die ich dir gegeben habe! Das Geld brauchst du mir nicht zu geben!«

Margherita nahm das kleine Mädchen und zog ab. Sie begab sich nach einer Lebensmittelhandlung. »Tritt ein, Signora! Was hast du nötig?« Margherita versetzte: »Ich will ein Geschäft eröffnen; gib mir alle dazu nötigen Dinge! Vier Säcke Mehl, zwei Säcke Kaffee, ferner zwei Säcke Zucker, einen Sack Seife, ein Dutzend grosse Käse, einen Sack Hirse, einen Sack Hanfsamen, einen Sack Soda und einen Sack Vogelfutter!« Der Ladeninhaber versetzte: »Willst du nicht etwas mehr?« Sie begann: »Hast du einige von den kleinen Gozo-Käsen?« »Die habe ich!« »Dann gib mir etwa zwei Wizna (= 10 Pfund) davon und setze mir die Rechnung auf!« »Fünfzig Pfund Sterling!« »Da werde ich jetzt nach Hause gehen und Geld zum Bezahlen holen.« »Nein, es[63] macht nichts aus! Wenn du die Waren verkauft hast, kannst du mich ja bezahlen und wieder hierher kommen!« »Nein, das will ich nicht haben! Ich werde dir aber das kleine Mädchen hierlassen und dir das Geld holen!« Sie blieb etwa eine Viertelstunde weg und kam dann wieder. »Tritt ein, Signora! Du bist bald zurückgekommen!« »Ich dachte immer an die Kleine! Lass mich sehen, ob sie noch schläft! Sie hat doch nicht geweint?« Der Besitzer des Ladens beteuerte: »Nein! Es war gar nicht, als wären Kinder hier!« »Jungfrau Maria! Du hast sie mir getötet!« »Was sagst du mir da! Ich bin gar nicht zu ihr hingekommen!« »Nein, ich werde hingehen und dich bei der Polizei anzeigen!« »Wo willst du hin? Höre! Da!« Margherita kam wieder zurück: »Was willst du?« »Nimm die fünfzig Pfund Sterling, die du mir geben müsstest, und nimm das Mädchen und geh' fort!«

Margherita begab sich nach Hause, grub ein Loch im Garten und verscharrte das Mädchen. – Tambo, Tambo! Die Geschichte hat ihren Schluss, – und jedermann schwimmt mit dem Fluss.

1

Der mit einer Art steifer Kapuze versehene schwarze mantelartige Überwurf der Malteserinnen; ital. Faldetta oder Gonella; derselbe wird z.B. bei Julius Rodenberg, Eine Frühlingsfahrt nach Malta (Berlin 1893) auf S. 38 ff. recht anschaulich beschrieben. R.'s »Anienel« ist wohl die Pluralform ('anienel).

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 61-64.
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