17. Der junge mann und das mädchen.

Ein mann ging nach seinem pferd zu suchen und verirrte sich. Als er da verirrt wanderte, kam er an ein kleines haus. In diesem haus wohnte ein alter mann mit seiner frau. Sie hatten dreissig töchter. Der pferdesucher trat hinein, und der alte mann sagt: »Was hast du vonnöten?« Der pferdesucher sagt: »Ich habe nichts vonnöten. Ich ging irre, als ich nach meinem pferd[94] suchte; darum trat ich herein.« »Siehe da!« sagt der alte, »ich habe dreissig töchter; erkennst du die kleinste?« Das kleine mädchen sagte dem pferdesucher, wie er sie erkennen könnte: »Wir verwandeln uns alle«, sagt sie, »in tauben; mein vater heisst dich mich unter diesen (tauben) erkennen; du erkennst mich also: nachdem wir alle in tauben verwandelt sind, werden alle die anderen einander ganz ähnlich sein; von mir aber werden zwei oder drei federn herabfallen; zeige auf die (taube), von welcher die federn herabfallen.« Sie verwandelten sich in tauben, und alle waren einander ganz ähnlich, aber von einer fielen zwei drei federn herab. Jetzt fragt der alte den pferdesucher: »Welches ist meine kleinste tochter?« Der pferdesucher sagt: »Diese hier, von welcher die federn herabfielen.« »Nun, du hast ja meine kleinste tochter erkannt!« sagt der alte.

»Nun, weisst du was: meine dreissig töchter haben dreissig fitzen; unter diesen fitzen musst du die erkennen, welche meiner kleinsten tochter gehört!« Das kleine mädchen unterrichtete wieder den pferdesucher, wie er (ihre fitze) erkennen könnte: »Die fitzen meiner älteren schwestern sind alle einander ähnlich; ich aber lasse zwei drei garnenden lose herabhängen; zeige auf die fitze mit den losen garnenden!« Der alte breitete dreissig fitzen vor ihm aus und fragte: »Welches ist die fitze meiner kleinsten tochter?« Der pferdesucher zeigte auf die fitze mit den losen garnenden. »Du wusstest es ja!« sagt der alte.

»Thu jetzt folgendes!« sagt er (der alte). »Ich habe dreissig schober; trage das getreide in die scheuer, ohne einen einzigen strohhalm zu bewegen!« Der pferdesucher erzählte dies dem kleinen mädchen, und sie sagt: »Das ist nicht schwierig, das ist leicht!«; sie ging in die hausflur hinaus und pfiff: es versammelten sich sehr viel vögel und trugen sogleich alles getreide (in die scheuer), ohne einen einzigen strohhalm zu bewegen.

Darauf hiess er (der alte) ihn in einer nacht dreissig pferde satteln. Auch jetzt erzählte er es dem kleinen mädchen, und das mädchen sagt ihm: »Das ist sehr schwierig; sattle ein mageres pferd, und dann werden wir (zusammen) entfliehen!« Er sattelte ein mageres pferd, und sie fuhren weg. Der alte merkte, dass[95] sie wegfuhren, und schickte seine töchter um (nach den fliehenden) zu jagen. Als die töchter des alten sich den flüchtlingen näherten, verwandelten sich die flüchtlinge in einen zaunabschnitt1. Die verfolger sahen wohl den zaunabschnitt, aber jagten (dessen ungeachtet) weiter vorwärts. Sie fuhren unaufhörlich ohne (die flüchtlinge) zu sehen, kehrten um und kamen alle in vollem laufe zurück. Nachdem sie zurückgekehrt waren, fragte der vater: »Habt ihr (die flüchtlinge) gesehen?« »Nein«, sagen die töchter, »wir sahen nur einen zaunabschnitt«. »Eben die (die flüchtlinge) waren es ja!« sagt der vater, »geht, jagt schnell (den flüchtlingen) nach!«

Wieder fuhren die töchter weg und hieben auf die pferde zu. Als sie sich den flüchtlingen näherten, bauten die flüchtlinge eine kirche, verwandelten sich in einen prediger und eine predigerfrau und fingen an zu beten. Die verfolger sahen jetzt eine kirche mit einem prediger und einer predigerfrau, aber jagten alle weiter. Sie fuhren unaufhörlich, ohne die flüchtlinge zu sehen, kehrten um und kamen alle in vollem laufe zurück. Nachdem sie zurückgekehrt waren, fragt der vater: »Habt ihr (die flüchtlinge) gesehen?« »Nein«, sagen sie, »wir sahen nur eine kirche und einen prediger mit seiner frau«. »Ach!« sagt der vater, »die waren es ja eben! Geht, jagt schnell (den flüchtlingen) nach!«

Wieder jagten sie fort. Sie waren drauf und dran (die flüchtlinge) einzuholen, aber die flüchtlinge machten einen fluss, verwandelten sich, der eine in einen enterich, die andere in ein entenweibchen, und reisten schwimmend weiter. Sie (die verfolger) fuhren unaufhörlich jagend weiter, ohne zu finden. Sie kehrten um, sie kamen alle in vollem laufe zurück. Der vater fragt: »Habt ihr (die flüchtlinge) gesehen?« »Nein«, sagen die töchter, »wir sahen nur einen fluss und einen schwimmenden enterich mit seinem entenweibchen«. »Ach!« sagt der vater, »die waren es ja eben! Nachdem ihr so schlecht angefangen habt, werdet ihr sie nicht mehr einholen. Nun wohl, es mag dabei bleiben, jagt nicht weiter!«[96]

Darauf verwandelten sie (die flüchtlinge) sich wieder in menschen, und das mädchen sagt zum pferdesucher: »In deinem dorfe hat man dir, während deiner reise und in deiner abwesenheit, eine frau erwählt. Kehre nach hause zurück, küsse deine ganze familie, küsse aber jene frau nicht! Wenn du sie küssest, wirst du mich vergessen!«

Der pferdesucher kehrte zurück (nach hause) und liess seine frau (d.h. das kleine mädchen) hinter dem felde zurück; er küsste seine ganze familie, aber jene frau will er unter keiner bedingung küssen. Die eltern zankten ihn aus und hiessen ihn (küssen), und (schliesslich) küsste er die frau. Sobald er geküsst hatte, vergass er seine frau, jene frau hinter dem felde.

So lebte er eine zeit lang und ging wieder einmal nach seinem pferd zu suchen; da sah er einen alten mann. Der alte mann sagt zu dem pferdesucher: »Was für einen weinenden menschen hast du da hinter dem felde?« »Ach!« sagte er, »sie war ja meine frau! Wo ist sie denn?« »Da«, sagt der alte mann, »da sitzt sie weinend unter der linde«. Er ging (dahin), fand seine frau und trug sie nach hause.

Die leute aber sahen gar nicht diese frau. Er führte seine frau in die speicherkammer, die ganze familie trat auf den hof hinaus – aber der speicher ist ja gar nicht mehr sichtbar! »Wo ist der speicher?« schreien sie. Der pferdesucher erinnerte sich (seiner frau), führte seine frau aus der speicherkammer hinaus und schloss sie in den keller ein. Sobald sie in den keller eingeschlossen war, wurde alles sichtbar, sowohl der speicher als der keller. Nach einiger zeit fuhr der pferdesucher mit seiner frau auf den markt. Kein mensch sah seine frau. Sie geht (mit ihm) zu einem kaufladen und nimmt sich was sie brauchen: der kaufmann bemerkt sie gar nicht. So sammelte er sich allerlei sachen, die allerschönsten kleider und pferdegeschirre; was immer er braucht, sammelt er sich. Als der pferdesucher nun also mit seiner frau herumwanderte, wurde er sehr reich.

Sie sollen noch jetzt leben, er und seine frau. Sie sollen sehr wohlhabend sein.

1

= der teil eines zaunes, der sich zwischen zwei pfählen befindet.

Quelle:
Wichmann, Yrjö: Wotjakische Sprachproben, 2.: Sprichwörter, Rätsel, Märchen, Sagen und Erzählungen, Helsingfors: 1893/1901, S. 92-97.
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