36. Die [137] vožo's und die mädchen.

Ein mann verheiratete sich zum zweiten male. Von der ersten frau hatte er (eig. blieb zurück) eine tochter. Die zweite frau hatte drei töchter. Die stiefmutter liebte ihre stieftochter nicht. Zufolge ihrer (der stiefmutter) verleumdungen liebte auch der vater sie nicht mehr. Weil sie ihre tochter nicht liebten, führten sie sie zur vožo-zeit in ein (verlassenes) haus. Sie warfen sie in den raum unter der diele und gingen selbst weg, indem sie berechneten, dass die vožo's ihr ein ende machen sollten. Das mädchen sass betend in dem raume unter der diele; plötzlich kam da jemand zu ihr und reicht ihr ein kamal'i-band (ein mit stickereien und silbermünzen geziertes achselband). Darauf öffnete jemand die thür zu dem raume unter der diele und darauf auch die hausthür. Früh am folgenden tage kam das mädchen mit ihrem kamal'i-band zu ihrer mutter und ihrem vater. Alle erstaunten darüber, aber die stiefmutter fing an (ihre stieftochter) zu beneiden. In dem glauben, dass in jenem hause gutgesinnte vožo's wohnten, führten sie (die eltern) darauf ihre geliebteste tochter in das haus, obgleich das mädchen nicht gehen wollte. Um mitternacht kam zu ihr in den raum unter der diele ein vožo. Er fragt sie: »Warum[138] bist du hieher gekommen? Ich weiss, dass du vater und mutter hast (und was für menschen sie sind). Aber was machst du hier?« »Ich will ein kamal'i-band bekommen«. Der vožo sagte: »Oh! Du brauchst ein kamal'i-band! Ich werde dir mal ein kamal'i-band geben!« Er schrie zu seinen kameraden: »Lasst uns ihr die eingeweide herausnehmen!« Sie nahmen ihr die eingeweide heraus. Darauf stellten sie sie gegen die wand und hängten ihr an den hals einen ganzen faden von tannenzapfen. Darauf lachen die vožo's und sagen: »Nun! Jetzt hast du schon dein kamal'i-band!« Am folgenden tage wartete die mutter auf ihre tochter bis an den mittag; darauf ging sie aber selbst um zu sehen, was in jenem hause vorgehe. Nachdem sie in das haus eingetreten war, blickte sie in den raum unter der diele hinein und sah, wie ihre tochter mit ihrem kamal'i-band von tannenzapfen an der wand steht. Die mutter schrie ihr zu: »Meine tochter! Warum kommst du nicht? Wo bist du denn?« Man antwortet ihr: »Sieh, da steht deine tochter! Jetzt hat sie sowohl ein kamal'i-band als ein kiroskal« (mit silbermünzen geziertes halsband mit dem kreuz). Erst jetzt verstand die mutter, dass ihre tochter tot war. Darauf ging sie nach hause, ihren geiz bereuend.

Quelle:
Wichmann, Yrjö: Wotjakische Sprachproben, 2.: Sprichwörter, Rätsel, Märchen, Sagen und Erzählungen, Helsingfors: 1893/1901, S. 137-139.
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