41. Das gebetbuch der wotjaken.

[146] In alter zeit lebten alle wotjaken in ein und derselben gegend. Damals lernte der greis vom greise sowohl zu Gott zu beten als recht zu sprechen. Die leute waren dazumal sehr klug. Jeder gesetzte mensch konnte auf alles, was man auch fragte, antwort geben. Im laufe der zeit vermehrten sich aber die wotjaken überaus. Darum schieden sie sich und gingen nach verschiedenen seiten hin, anfänglich nicht zu weit (eig. näher), und (da) sammelten sie sich (noch) alle zeitweise um beisammen zu opfern; sie kamen auch an einem orte zusammen um gericht zu halten. Aber später verbreiteten sie sich so sehr, dass sie sich nicht mehr versammeln konnten. Die alten konnten nicht mehr einander mit rat und that helfen. Da erwählten sie in einer ratsversammlung leute, welche die gebete und die rechtspflege nicht vergessen sollten, sowie die ordnung und die regeln derselben in ein buch aufschreiben, dieses (buch) immer bewahren und denen, die es zu lernen wünschten, herausgeben sollten. Sie verfertigten ein buch von birkenrinde und schrieben auf die rinde mit zeichen, wie man zu Gott opfern und über die leute gericht halten soll. Das buch legten sie auf einen hohen weissen stein; an den stein stellten sie einen alten mann, um das buch zu hüten.[147]

Schon bevor das buch geschrieben war, kamen die leute nicht oft zusammen um zu opfern, aber die alten befahlen doch dann und wann gemeinsame opfer an, damit man die opferordnung nicht vergessen möge. Als das buch aber geschrieben war, da sammelten sie sich selten. Gott zürnte, weil sie sich selten sammelten, und schickte auf die erde eine grosse, weisse kuh. Diese kuh kam, während der buchhüter schlief, zu dem weissen stein und frass das buch von birkenrinde ganz und gar auf. Damit sie (die wotjaken) ein gleiches buch auf's neue nicht mehr schreiben könnten, nahm ihnen Gott ihre frühere zeichenkenntnis, liess sie aber die kenntnis der eigenen (familien- od. haus-)zeichen im gedächtnis behalten. Seitdem wurden die wotjaken viel dummer als früher. Sie vergassen die alten sitten und gebete und hörten auf den alten zu gehorchen. Auf jede frage antworten sie nur: »Ich weiss nicht, ich verstehe nicht!«

Quelle:
Wichmann, Yrjö: Wotjakische Sprachproben, 2.: Sprichwörter, Rätsel, Märchen, Sagen und Erzählungen, Helsingfors: 1893/1901, S. 146-148.
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