Ding

[295] Ding – Wir haben erkennen gelernt, daß die Gesamtheit aller Dinge, die man etwa die Materie genannt hat oder auch Stoff, eine Vorstellung sei, wofür man freilich auch Gedankending zu sagen pflegt. »Was wir Materie nennen, ist ein gewisser gesetzmäßiger Zusammenhang der Empfindungen« (Mach). Nicht so einfach ist es, einzusehen, daß diese Kritik des allgemeinen Stoffbegriffs auch zutrifft auf das, was ganz populär ein Ding genannt wird, ein Einzelding, ein Gegenstand, eine Sache. Wir werden noch genauer erfahren, daß Ding und Sache zwei Lehnübersetzungen aus dem juristischen Sprachgebrauche der Lateiner sind und ursprünglich das Streitobjekt eines Rechtshandels bedeuteten, daß dagegen Gegenstand eine Lehnübersetzung von obstantia (objectivum) ist, aus der Philosophie herkommt und in seiner Bedeutung schon[295] unklar an erkenntnistheoretische Fragen streifte: Gegenstand ist, was dem Ich gegenübersteht, dessen Vorstellung zugleich durch etwas außerhalb der menschlichen Vernunft und durch Anwendung der Vernunft entsteht. Alle diese Ausdrücke werden aber in der Gemeinsprache ohne besondre Unterscheidung gebraucht für die Einzelheiten der Wirklichkeit, für die großen und kleinen Realitäten, für welche der naive Realismus gar nicht erst nach einer Erklärung sucht, die aber gar sehr einer Erklärung bedürfen. Denn alle diese Dinge sind ja nicht wirklich, sind vielmehr nur die Ursachen der einen Hälfte unsrer Wirklichkeitswelt, der äußren. Ein Apfel ist nichts als die Ursache der Empfindungen: rund, rot, süß usw.; er ist nicht zum zweiten Male neben den Empfindungen, deren Ursache er ist; er ist nicht noch einmal da. In diesem Sinne sind alle Dinge nur Gedankendinge, nur Vorstellungen. Und man hüte sich, hier die Begriffe Vorstellung und Erscheinung zu verwechseln. Erscheinungen (im Sinne von Berkeley und Kant) sind auch die unmittelbar gegebenen adjektivischen Empfindungen; diese sind aber keine Gedankendinge, keine Vorstellungen; sie sind wohl schon irgendwie von dem Zentralapparat unsres Gehirns bearbeitet, wenn sie uns zum Bewußtsein kommen; aber die Empfindungen sind noch nicht von der Vernunft oder der Sprache bearbeitet, sie sind noch nicht Gedankendinge oder Vorstellungen, wie die Dinge es sind. Mehr als dieses Eine, daß nämlich alle Dinge nur Gedankendinge sind, wissen wir von den Dingen nicht zu sagen. Die Erkenntnistheorie, welche den Satz Machs auf die Dinge anwendet und sagt: »Was wir ein Ding nennen, ist ein gewisser gesetzmäßiger Zusammenhang von zusammengehörigen Empfindungen«, unterscheidet sich von dem naiven Realismus, der die Dinge selbst sinnlich wahrzunehmen glaubt, nur durch eine Kleinigkeit, nur dadurch: daß sie da ein Problem sieht, wo der sogenannte gesunde Menschenverstand nichts sieht und nichts sucht. Alle Rätsel der Begriffe: Ursache, Substanz, Gesetz, Einheit verbergen sich dahinter, daß man einen gewissen gesetzmäßigen Zusammenhang anzunehmen gezwungen[296] ist, den uns die Sinne nicht verraten und der darum über den verführerischen Sensualismus hinausführt.

Kant, und noch viel offensichtlicher die Neukantianer, haben das Verhältnis der Empfindungen und ihrer Ursachen untersucht, das Verhältnis zwischen der adjektivischen Welt und der kausalen oder verbalen Welt; die Neukantianer haben Kants Terminologie beibehalten und nennen ganz mit Unrecht die Ursachen der adjektivischen Empfindung Dinge-an-sich; neuerdings glauben sie, in den Energien die wahren Dinge-an-sich erkannt zu haben. (Vgl. Art. Energie.) Energien sind aber wohl keine Dinge, wenn auch Gegenstände des Denkens. Die Dinge gehören der substantivischen Welt an, auch wenn sie alle nur Gedankendinge sind. Es scheint mir nun – und darauf wollte ich hinauskommen – für diese Weltanschauung gar keinen Sinn mehr zu haben, wenn einer nach den Ding-an-sich der Gedankendinge fragt; es wäre denn, daß man – paradox genug – just die adjektivischen Empfindungen als relative Dinge-an-sich der substantivischen Gedankendinge zu bezeichnen sich entschließen wollte.

Selbstverständlich verstehe ich unter den Gedankendingen nicht Scheinbegriffe; denn diese (Hexe, Wunder) zeichnen sich eben dadurch aus, daß ihnen in der sinnlichen Welt nichts entspricht. An die Vorstellung, daß alle Dinge nur Gedankendinge seien, gewöhnt man sich am besten bei Begriffen wie; Schatten, Flamme, Wind, Donner. Der Donner ist nicht ein zweites Mal da, substantivisch neben unsren Empfindungen vom Donner; die Flamme ist nicht noch ein zweites Mal da, außer und neben den Wirkungen, als deren Ursache wir sie projizieren, hypostasieren oder wie man will; genau so ist der Apfel nicht zweimal da, einmal in der adjektivischen und einmal in der substantivischen Welt. Wir lächeln überlegen über das Kind, dem eine Reise versprochen worden war, das fern von der Heimat neue Berge und Seen und Wälder gesehen hatte, und das dann fragte: »Ja – aber wo ist die Reise?« Wir sind ebenso kindlich, wenn wir den Physiker fragen: »Ja – aber wo ist denn der Apfel, der Apfel selbst, der Apfel neben[297] und außer seinen Eigenschaften?« Wir verlangen den Apfel zweimal, den uns die Natur trotz ihrer Allmacht nur einmal geben kann.

So gelange ich zu einem neuen Paradoxon, das aber nur dem naiven Realismus etwas sonderbar erscheinen wird, nicht aber der Weltanschauung, die von Hume etwas gelernt hat: Unsre Vorstellungen von einem Gedankending (einem ans rationis) sind viel klarer als unsre Vorstellungen von einem körperlichen Ding. Ich habe vorhin gesagt, daß unsre Sinneseindrücke die relativen Dinge-an-sich sind, daß es keinen Sinn hat, hinter den wirklichen Dingen, an deren Existenz wir glauben müssen, noch einmal und extra Dinge-an-sich zu suchen. Relative Dinge-an-sich habe ich die Empfindungen genannt; etwas Absolutes gibt es nicht.

Alle diese körperlichen Dinge oder Körper sind eben schon Vorstellungen. Nur daß uns die Gedankendinge gar nicht erst verführen, hinter ihnen eine zweite Existenz zu suchen, daß aber die Körper zu diesem Doppelsehen immer wieder Veranlassung geben, sobald wir uns beim Sensualismus nicht beruhigen wollen. Und das können wir nicht, weil die Annahme einer Wirklichkeitswelt hinter den Sinneseindrücken ein Instinkt des menschlichen Verstandes ist.

Es ist die gleiche Schwierigkeit wie beim Ichgefühl, das neben und außer der kontinuierlichen Kette unsrer Erlebnisse noch ein besondres Ich glaubt, welches diese Kette zusammenhält. Ganz die gleiche Schwierigkeit. Dauer ist uns das Kennzeichen des Ich. Dauer ist uns das Kennzeichen der Dinge. Unbewußt, von einem Instinkt getrieben, legen wir irgendein Ich in die Dinge hinein; Introjektion hat man das genannt; die Erkenntnis davon war vorhanden, schon bei Hume, lange bevor Avenarius das ungeschickte Wort prägte. Der Gedanke ist am besten von Mach ausgedrückt worden (Erkenntnis und Irrtum² S. 15); er nennt Ding und Ich Scheinprobleme: »Es ergibt sich aber, daß ein isoliertes Ding, genau genommen, nicht existiert. Nur die vorzugsweise Berücksichtigung auffallender, stärkerer Abhängigkeiten und die Nichtbeachtung[298] weniger merklicher, schwächerer Abhängigkeiten erlaubt uns bei einer ersten vorläufigen Untersuchung die Fiktion isolierter Dinge. Auf demselben graduellen Unterschiede der Abhängigkeiten beruht auch der Gegensatz der Welt und des Ich. Ein isoliertes Ich gibt es ebenso wenig als ein isoliertes Ding. Ding und Ich sind provisorische Fiktionen gleicher Art.«

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 295-299.
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