Erfahrung

I.

[431] Die Wortgeschichte bietet wenig Interessantes; es wäre denn, daß man gerade an diesem einfachen Beispiel die Unklarheit der Sprachwissenschaft und die Trägheit in der Vererbung der Begriffe aufzeigen wollte.

Das griechische Wort empeiria gehörte wohl der Gemeinsprache an (es fehlt auch bei Xenophon nicht), bevor es als empeiria methodikê in den Gebrauch der Philosophen überging; peira bedeutete, was wir durch die Worte Erfahrung und Experiment auseinanderhalten. Das lateinische Wort experimentum wird nun mit vieler Mühe mit dem griechischen in ein sogenannten Verwandtschaftsverhältnis gebracht. Ich fürchte, ich werde bei den Fachleuten kein Glück haben mit dem einfachen Gedanken, daß der lateinische Ausdruck aus dem Griechischen halb entlehnt und halb übersetzt wurde, und daß nachher peritus durch eine falsche Volksetymologie an ire angeknüpft wurde; so würde sich unser deutsches erfahren einfach als die Lehnübersetzung eines falsch verstandenen peritus erklären, da ahd. faran jede Bewegung ausdrückt, auch die des Gehens und Laufens. Zu bemerken wäre noch, daß die lateinischen Worte experimentum und experientia noch nicht zwei deutlich unterschiedene Begriffe bezeichnen, beide sowohl für die Erfahrung als für einen Versuch oder eine Probe gebraucht werden. Diese Unterscheidung, die unsre wissenschaftliche Sprache für notwendig hält, scheint aber doch kein strenges Bedürfnis zu sein, da die Franzosen für beide Begriffe[431] mit dem einzigen Worte expérience auskommen, trotzdem sie das andre Wort expériment ebenfalls besitzen, es freilich ausschließlich für gewagte oder doch neue Versuche in der Medizin anwenden. Im Grunde ist auch eine genaue Grenze nicht zu ziehen zwischen den Erfahrungen, die wir durch bloße Anwendung der Aufmerksamkeit mit der Natur machen, und den Versuchen oder Experimenten, die wir listig gegen die Natur anstellen. Man spricht auch häufig von Experimenten der Natur; das Laboratorium der Natur ist nur zu groß für die kleinen Menschen. Im Regenbogen z.B. hat die Natur das Experiment, wie Sonnenlicht in Farben gebrochen wird, so prachtvoll ausgeführt, daß es auch in Urzeiten nicht zu übersehen war; die Menschen haben das schöne Experiment nur nicht verstanden.

Für die Trägheit, mit der Begriffe und deren Vorstellungen sich von Geschlecht zu Geschlecht und von Volk zu Volk vererben, ist nun der Erfahrungsbegriff auf seinem weiten Wege wieder ein gutes Beispiel. Der Begriff muß seit Urzeiten den Gemeinsprachen angehört haben; alte Leute waren erfahrene Leute; Erfahrungen wurden übermittelt, ohne Erfahrung sollte niemand ein Handwerk ausüben oder ein Staatsamt übernehmen. So lange die Menschen ungestört Erfahrungen machen, ihre Erfahrung erweitern konnten, so lange gab es, was man einen Fortschritt in der Kultur nennt; wenn dann Kriegsläufte oder furchtbare Naturereignisse den Faden der Erfahrung abrissen, so sanken ganze Völker, ja ganze Weltteile in die alte Barbarei zurück. Es war also die Erfahrung ein Summenwort für Einzelerfahrungen. Niemand aber stellte die Frage, ob denn Erfahrung noch etwas andres wäre als das Gedächtnis eines Menschen, einer Berufsklasse, eines Volkes. Und niemand wagte gar die viel schwierigere Frage zu stellen, wie denn eigentlich Erfahrung (durch die allein der Mensch, das erfahrene Tier, sich von der übrigen Natur unterscheidet) möglich sei. Niemand bis auf Kant. Und doch mußte es für die ganze Weltanschauung von entscheidender Wichtigkeit sein, zu erfahren, wie wir zu einer Erfahrung kommen; denn der[432] ungeheure Gegensatz, der in wechselnder Ausdrucksweise das Denken von Jahrhunderten und Jahrtausenden unterscheidet, der Gegensatz zwischen Sensualismus und Rationalismus, läuft ja doch wohl auf die Frage hinaus, ob wir der äußern oder der innern Erfahrung mehr vertrauen dürfen; und diese Frage läßt sich sicherlich nicht beantworten, bevor nicht die Vorfrage entschieden ist: wie ist Erfahrung möglich? Wie kommt Erfahrung zustande? Die Vorfrage ist: gibt es eine Erkenntnistheorie? Eine solche Disziplin hatte es in den zwei Jahrtausenden der Philosophiegeschichte nicht gegeben; man trieb Philosophie, man trieb Metaphysik, ohne vorher die Möglichkeit oder die Grenzen menschlicher Erkenntnis überlegt zu haben. Es gab keine Psychologie, es gab also auch keine Anwendung der Psychologie auf die letzten Fragen der Erfahrung. Die Disziplin der psychologischen Erkenntnistheorie wurde zuerst, unsicher genug, von Leibniz gefordert, als er Lockes sensualistischem Satze »nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu« den berühmten Nachsatz hinzufügte »nisi intellectus ipse«. Das war recht scholastisch ausgedrückt; aber die Bahn war gebrochen, und Kant konnte weiterschreiten. Es ist jedoch eine ganze Welt zwischen Erfahrung im Sinne Kants und Erfahrung im Sinne der Gemeinsprache.

II.

In der deutschen Redensart »Probieren geht über Studieren« ist ungefähr enthalten, was der gemeine Sprachgebrauch mit Erfahrung sagen will. Erfahrung ist ein relativer Begriff. Der Fabrikant wird an die Spitze seines Unternehmens nicht leicht einen gewöhnlichen Arbeiter stellen, der zwar eine große Erfahrung, aber gar keine wissenschaftlichen Kenntnisse in dein Fach besitzt; er wird aber auch einen gelehrten Techniker nicht gern anstellen, der frisch von der Schule ohne jede Erfahrung ist. Antwortet ihm dieser junge Techniker, sein ganzer wissenschaftlicher Unterricht sei auf Experimente gegründet gewesen, so wird ihm der Fabrikant gewiß erwidern: Experimente[433] seien kein Ersatz für Erfahrung. Und wenn sich diese Unterhaltung zufällig in Frankreich abspielt, so könnte Experiment und Erfahrung mit einem und demselben Worte, expérience nämlich, wiedergegeben werden.

Etwas leichtsinniger als mit den Maschinen und den Rohstoffen ihrer Fabriken gehen viele Menschen mit dem eigenen Körper um. Auch diesen wird man am häufigsten einem gelehrten Arzt voll reicher Erfahrung anvertrauen, und sehr ungern nur einem jungen Mann ohne Erfahrung, dessen ganze Weisheit aus wissenschaftlichen Vorlesungen und physiologischen Experimenten geschöpft ist. Das Jahr Einübung am corpus vile der armen Spitalkranken erzieht auch noch keinen erfahrenen Arzt. Man weiß aber, daß unzählige Kranke ihr Heil bei sogenannten Naturärzten suchen, d.h. bei Leuten ohne jede Theorie, bei ungebildeten Schäfern und alten Weibern, welche nur etwas Erfahrung für sich haben.

Was ist das für eine Erfahrung, die man den alten Weibern und Schäfern zuschreibt? Glaubt man an eine natürliche Begabung, mit der sie das Wesen der Krankheiten ohne Schulunterricht durch unmittelbare Beobachtung erkannt hätten? Nur in seltenen Fällen wird eine solche Erfahrung gemeint sein. Gewöhnlich wird der vertrauensvolle Kranke glauben, daß die alte Hexe oder der Schäfer durch Erbschaft zum geheimen Wissen eines Mittels gelangt sei, das die gelehrte Medizin wieder verloren oder nie erkannt hat. Wenn der Kranke also dem Heilmittel des Schäfers mehr vertraut als dem des Arztes, so setzt er nur die vorausgesetzte ältere Erfahrung über die jüngere Erfahrung.

Ein ähnlicher relativer Gegensatz wird sich ergeben, wenn wir den ersten Fall, nämlich die Wahl eines Fabrikleiters, genauer betrachten. Wenn der Fabriksherr den erfahrenen Techniker dem unerfahrenen vorzieht, so meint er doch nur, daß die praktischen Experimente des älteren Mannes ihm nützlicher sein werden als die theoretischen Experimente des jungen Technikers. Denn auch in der deutschen Sprache ist jede Einzelerfahrung ein Experiment; man muß den Begriff Experiment[434] nur etwas weiter fassen. Da nun der Schulunterricht z.B. des Chemikers nur darin besteht, daß den jungen Leuten alle Erfahrungen vergangener Zeiten möglichst übersichtlich und vollständig mitgeteilt werden, so läßt sich der Gegensatz zwischen Praxis und Theorie, zwischen einer richtigen Praxis und einer richtigen Theorie zurückführen auf den Gegensatz zwischen eigener Erfahrung und fremder Erfahrung. Die fremde Erfahrung aber kann im Gedächtnis des Schülers gar nicht haften, wenn sie nicht durch eigene Beobachtung und sinnfällige Experimente wieder zu seiner eigenen Erfahrung geworden ist. Man sieht: Erfahrung und Wissen, im gewöhnlichen Gebrauch soviel wie Praxis und Theorie, sind wirklich nur relative Begriffe, Begriffe, die ineinander überfließen, die durchaus keinen wirklichen Gegensatz darstellen.

Ein wirklicher Gegensatz scheint erst zu entstehen, wenn das höhere Denken sich des Begriffes Erfahrung bemächtigt. Sie wird dann gern Empirie genannt, von stolzen Philosophen wohl auch rohe Empirie, und dieser rohen Empirie steht dann wohl etwas sehr Feines gegenüber, das Denken selbst. Das dürfte ungefähr der Standpunkt des Altertums und des ganzen Mittelalters gewiesen sein. Nun kam aber seit Bacon die Erfahrung oder das Experiment zu hohen Ehren. Es wurde allmählich anerkannt, daß ein Fortschritt in der Erkenntnis der Wirklichkeitswelt ohne Erfahrung nicht möglich sei, und – von hier aus betrachtet – läßt sich die große geistige Tat Kants so formulieren, daß wir über die Erfahrung hinaus nichts wissen können, weil die Erfahrung unser apriorisches Wissen nicht enthält. Kant selbst war freilich nicht konsequent, sondern wußte vielmehr über die Formen unserer Erkenntnis, über das Sittengesetz, also über Natur und Geist, noch mancherlei zu erzählen, was über die Erfahrung hinausgeht. Aber die Entwicklung ist über diese Inkonsequenz hinweggeschritten, und gegenwärtig ist man geneigt, Kantischer als Kant selbst, all unser Wissen von der Welt, also all unser Denken nur auf Erfahrung zu gründen. Der Begriff Erfahrung hat sogar gerade durch die Kantische Schule unter[435] den Naturforschern eine größere Tiefe bekommen. Niemand zweifelt heute mehr daran, daß wir von der Wirklichkeitswelt absolut nichts andres kennen können als unsre Sinneseindrücke von ihr, als die Summe unsrer subjektiven Erfahrungen. Es steht also über der relativen Erfahrung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs (der jüngeren und älteren Erfahrung, der eigenen und der fremden Erfahrung) ein neuer philosophischer Begriff, in welchem Erfahrung die Grundlage alles Wissens oder Denkens bezeichnet.

Wir selbst sind natürlich geneigt, jeden Satz unsres Denkens auf Begriffe zurückgehen zu lassen und als richtige, brauchbare, ehrliche Begriffe nur solche anzuerkennen, welche Erinnerungen an Sinneseindrücke, welche Erfahrungen sind. Für uns fällt Erfahrung wieder zusammen mit der rätselhaften Tatsache eines Gedächtnisses, auf welche all unser Denken oder Sprechen ohnehin reduziert worden ist. All unsere Welterkenntnis ist nichts andres als Physik, das Wort im weitesten Sinne genommen, als Naturerfahrung, d.h. das Gedächtnis des Menschengeschlechts, die Zusammenfassung aller Erinnerungen an die Sinneseindrücke der Menschheit. Wir sind also geneigt, alles abzuweisen, was über die Physik hinausgeht, wie wir die obdachlos gewordenen Götter aus unserm Denken hinausweisen. Zweitausend Jahre lang hat sich die Menschheit den Buchbinderwitz gefallen lassen, mit dem bekanntlich die eigentliche Philosophie des Aristoteles Metaphysik genannt worden ist und mit dem das entsprechende System von Wortarabesken noch heute Metaphysik genannt wird, weil in einer gewissen Abschrift der Schriften des Aristoteles jenes philosophische Buch hinter die Physik (meta ta physika, erst seit dem 13. Jahrhundert in einem Worte geschrieben) zu stehen kam. Der hintere Teil hat den Sinn des oberen Teils bekommen, wie das wohl zu Zeiten kommen mag. Man glaubte, aus der Metaphysik gewissermaßen das Hintere zu erfahren, das, was hinter dem physischen Denken steckt.

Aber diese unsere Naturforscher, die das Wesen der Erfahrung so klug erkannt zu haben glauben, hören dabei nicht[436] auf, von der rohen Empirie als von einem Gegensätze der wissenschaftlichen Erfahrung zu sprechen. Einst stand dem apriorischen Denken die Erfahrung als eine Roheit gegenüber; jetzt will man auf das apriorische Denken verzichten, begründet alle Wissenschaften Sätze, also den sprachlichen Ausdruck unsrer Welterkenntnis, auf Erfahrung und redet immer noch von der rohen Empirie, als ob Empirie auf der weiten Welt irgend etwas andres besagen wollte als wieder Erfahrung. Abermals blicken wir in das Fließen der Begriffe hinein und sehen, daß aus der alten Praxis die moderne Empirie geworden ist, aus der alten Theorie, die der Erfahrung feindlich gegenüberstand, die moderne wissenschaftliche Erfahrung.

Diese ganze Betrachtung wäre nur ein unwesentlicher Beitrag zu unsrer Lehre von der Elendigkeit der menschlichen Sprache, wenn wir uns nicht erinnerten, daß Erfahrung sich eben erwiesen hat als gleichbedeutend mit Gedächtnis, also mit dem Seelenvermögen, welches in seiner bewußten Erscheinung das Denken oder die Sprache heißt. Auf den ersten Blick scheint diese Behauptung eine vollständige Verwirrung anzurichten. Nach dem alten Gebrauch stehen sich ja Erfahrung und Denken feindlich gegenüber; wir wollen die Erfahrung mit dem Denken oder Sprechen identifizieren. Nach dem neuen Sprachgebrauch nun gar steht der wissenschaftlichen Erfahrung (welche man mir nun vielleicht schon als ein andres Wort für Denken oder Sprechen zugeben wird) die ganz rohe Empirie gegenüber, die ich aber eben auch mit der Erfahrung, also mit dem Gedächtnis oder der Sprache gleich gesetzt habe.

All unser Wissen ist eine Summe von Begriffen, die nur Erfahrungen zusammenfassen. Und all unser Fortschreiten im Wissen ist ja nichts als ein Neuschaffen von Begriffen a posteriori, der psychologische Vorgang, wie ein einzelner durch neue Beobachtungen neue Begriffe bildet und sie durch Mitteilung der Menschheit zum Geschenke macht. Und unter diesem Gesichtspunkte ist die sog. rohe Empirie nichts weiter als die Erfahrung des schwachem, langsamem, gedächtnisärmern Kopfes, der sich an die Einzelerscheinungen nicht[437] durch ein gemeinsames Zeichen zu erinnern vermag; wissenschaftliche Erfahrung aber ist die Erfahrung des starkem Kopfes, der die Sprache bereichert.

So greifen unsere neuen Lehren wieder einmal aufmunternd ineinander. Wir haben im Gegensatz zur Vergangenheit gesehen, daß die apriorischen Sätze wertlose Tautologien sind, daß nur die aposteriorischen Sätze einigen Erkenntniswert haben. Der alte Sprachgebrauch kam daher, daß die Logiker seit Aristoteles in den allgemeinem höheren Begriffen das allein Wertvolle, das in der Wirklichkeit Vorangehende sahen; die obern Begriffe, die Platonischen Ideen waren die Mütter der Dinge, waren a priori. Die Mutterhenne war früher als das Ei. A priori hieß also, was logisch aus dem logischen Grunde hervorging. Und wenn der neuere Gebrauch bei Leibniz und Kant dasjenige a priori nannte, was vor aller Erfahrung aus unsrer bloßen Vernunft hervorging, so war das von dem mittelalterlichen Gebrauch nicht so sehr verschieden. Man nahm eben an, daß die allerobersten Begriffe und die obersten Denkgesetze der Vernunft angeboren seien; in dieser Bedeutung, in der des Angeborenseins, ist nun der Begriff a priori in allerneuester Zeit in die Naturwissenschaften übergegangen, die sich von der Kantischen Lehre, wie wir sie verstehen gelernt haben, nicht wesentlich unterscheiden; der Darwinismus will nur erklären, was Kant als unerklärliche Tatsache hinstellte.

Für uns also ist der Begriff a priori überflüssig geworden, weil er bestenfalls diejenige Erfahrung oder diejenigen Sätze bezeichnet, die uns durch Erbschaft von den Vorfahren (auch die Sinnesenergien sind ererbt) zur instinktiven Gewohnheit geworden sind, also – wie in den ersten Beispielen dieser Betrachtung – die ältere, die fremde Erfahrung gegenüber unsrer eigenen. Auch dieser Unterschied ist also nur relativ. Und Gewißheit erlangen wir über diese instinktiven Sprachgewohnheiten doch wieder nur durch Überprüfung, durch eigene Erfahrung. Es wird also wohl dabei bleiben, daß nur der aposteriorische Satz, die eigene Erfahrung,[438] ehrliches Wissen verleiht, wenn wir es nicht vorziehen, die beiden alten lateinischen Worte, und den Begriff Erfahrung dazu, aus unserm Wörterbuche zu streichen und von unserm Wissen zu schweigen.

III.

Das Wesentliche, das wir durch diesen Überblick über den gemeinen und über den gelehrten Sprachgebrauch etwa gelernt haben, ist eine kleine Selbstverständlichkeit: daß der Unterschied zwischen der rohen oder gemeinen Empirie und dem allein auf Erfahrung gegründeten wissenschaftlichen Denken relativ sei, nur ein Gradunterschied. Das war nicht eben überraschend nach der geringen Meinung, die wir uns von dem Worte absolut gebildet haben; es gibt kein Ding, auch kein Gedankending, worauf der Scheinbegriff absolut angewandt werden könnte; wir leben in einer Welt von Relationen und wissen von nichts als von Relationen; da ist es kein Wunder, wenn uns alles relativ erscheint.

Nun haben wir uns schon einige Male der Vorstellung genähert, daß das Rätsel der Erkenntnistheorie, wie Erfahrung überhaupt möglich sei, und wie Erfahrung zustande komme, zusammenfällt mit dem Rätsel aller Rätsel, mit dem Rätsel des Gedächtnisses. Und das menschliche Gedächtnis, das gemeinsame Organ besonders der Völker, ist uns längst aufgegangen als das, was uns sonst als Sprache so vertraut ist. Durch solche Erwägungen wird der eine oder der andre Begriff überflüssig, ohne daß wir dadurch mit der Erklärung der Welt weiter gekommen wären. Wir glauben mit Mach, daß all unser Wissen nur ökonomisch geordnete Erfahrung sei; wir glauben mit Kant, daß die Erfahrung uns nur Tatsachen gebe, aber nicht Begriffe und Gesetze; wir glauben mit den Darwinisten, daß die angeborenen Bedingungen der Erfahrung ererbte Erinnerungen des Menschengeschlechts seien. Wir verbinden alle diese Gedanken mit dem Satz, daß Gedächtnis oder Erfahrung nur Sprache sei. Aber wir gelangen mit allen diesen Neuerungen nur so weit, daß wir Kants[439] Theorie der Erfahrung etwas einfacher auszudrücken versuchen dürfen.

Ich weiß nicht, ob Kant oder Reid die Priorität in Anspruch nehmen darf für einen Satz, den sie beide fast gleichzeitig und fast mit den gleichen Worten ausgesprochen haben: »Erfahrung lehrt zwar, was da sei und wie es sei, niemals aber, daß es notwendigerweise so und nicht anders sein müsse«. Anders ausgedrückt: die Begriffe und die Gesetze legt erst das menschliche Denken in die Erfahrung hinein. Wenn aber das menschliche Denken wieder nur, wie die Erfahrung, Sprache ist? Wie können wir den Kantischen Satz dann ausdrücken? Riehl hat (Kultur der Gegenwart I. Abt. 6 S. 94) sehr fein und richtig gesagt: »Kants Theorie der Erfahrung ist noch nicht geschichtlich geworden. Ihre tiefgehenden und trotz der scholastischen Verkleidung im Grunde auch einfachen Gedanken greifen bestimmend in die erkenntnistheoretische Forschung der Gegenwart ein.« Ich möchte es versuchen, den einfachen Gedanken Kants in der gegenwärtigen Sprache auszudrücken, die uns nicht mehr scholastisch erscheint, weil sie die gegenwärtige ist.

All unser Wissen oder das Gedächtnis der Menschheit ist ein unaufhörliches Bestreben, die ererbte Erfahrung und die erworbene Erfahrung in Übereinstimmung zu bringen; aus der ererbten Erfahrung oder der Sprache entnehmen wir die Begriffe des Denkens, mit denen wir jede neuerworbene Erfahrung fassen oder aufnehmen. Und die Notwendigkeiten, welche in der Erfahrung allein nicht liegen, welche wir aber vorfinden müssen, nicht erfinden dürfen, stecken weder in der Erfahrung, noch (weil es dasselbe ist) in unserm Denken oder Sprechen; sie stecken in der geheimnisvollen Wirklichkeit, und wir müssen froh sein, sie aus unsrer neuerworbenen Erfahrung auszulosen, herauszulesen und sie dem Schatze der ererbten Erfahrung zuzulegen.

Und sollten uns immer gegenwärtig halten, daß Erfahrung und Denken, beides, nur Gedankendinge sind, an einem und demselben psychischen Vorgange von zwei verschiedenen[440] Seiten gesehen, nicht zweierlei Tätigkeiten, nicht zweierlei Vorgänge, so wenig voneinander verschieden, wie Form und Inhalt eines Kunstwerkes. Ich kann da Wundt nur zustimmen, der (Syst. d. Phil.² S. 909) gesagt hat: »So wenig es ein logisches Denken gibt, das nicht Denken von Gegenständen, also an einen empirischen Inhalt gebunden wäre, gerade so wenig gibt es einen empirischen Inhalt, der nicht schon irgendwie durch das Denken verarbeitet wäre. Reine Erfahrung und reines Denken sind daher begriffliche Fiktionen, die in der wirklichen Erfahrung und im wirklichen Denken nicht vorkommen. Sie sind Grenzbegriffe

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 431-441.
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