[441] erkennen – Es wäre unehrlich, wollte ich bei diesem kleinen Versuche, den Begriff von seiner sinnlichen Bedeutung zur übersinnlichen zu begleiten, von der allersinnlichsten Bedeutung ausgehen, weil erkennen in der deutschen Bibelsprache soviel heißt wie den Beischlaf vollziehen; ist doch die Frage noch nicht geklärt, ob erkennen (wie Grimm annahm) einen uralten Zusammenhang mit zeugen habe, oder ob der Sinn beschlafen eine Lehnübersetzung sei (über das Lateinische und über das Griechische hinweg) aus dem Hebräischen1. Immerhin hat das Wort in seiner gemeinsprachlichen Bedeutung wiedererkennen einen rein sinnlichen Inhalt; man erkennt etwas, was man früher gesehen oder gehört hat, an einem sinnlichen Merkmale. Im heutigen Sprachgebrauche (früher deckte sich kennen oft völlig mit erkennen) unterscheidet sich der viel bewußtere Vorgang des Erkennens von dem unbewußten Vorgang des Kennens wohl dadurch, daß die Vorsilbe er wirklich (nach Paul) einen momentanen Vorgang,[441] und zwar zugleich das Hineingeraten und das Ergebnis bezeichnet; man könnte auch sagen: bei kennen liege mehr eine Erinnerung in potentia vor, bei erkennen mehr eine Erinnerung in actu.
Was in einem Menschen vorgeht, wenn er eine sinnliche Erscheinung wiedererkennt, das hätte die Psychologie zu erklären, insbesondere die physiologische Psychologie. Ein Wort Ziehens, der die Nachwirkung eines Eindrucks auf eine Abstimmung bestimmter Rindenzellen des Gehirns zurückführen wollte, läßt sehr hübsch an eine Vergleichung mit der drahtlosen Telegraphie denken, bei welcher Zeichen auch nur dann ausgelöst werden, wenn der Empfangsapparat auf eine bestimmte Wellenlänge abgestimmt ist. Sieht man aber genau zu, so ist dieser Erklärungsversuch nur ein Bild. Bilder sind ferner die weniger anregenden Untersuchungen, welche an den erkannten Gegenständen eine objektive Bekanntheitsqualität leugnen und nur ein subjektives Bekanntheitsgefühl zugestehen wollen. Da nun eine Erklärung der Begriffsbildung vorausgehen müßte, und die Psychologie schon beim ersten Schritte versagt, so mögen wir daraus den Schluß ziehen, daß es die allein wichtige Psychologie des Denkens gar nicht gibt. Dies nebenher; ich wollte nur darauf hinweisen, daß der Begriff erkennen uns auch in seiner schlichtesten Bedeutung nur durch Selbstbeobachtung bekannt ist, also oberflächlich.
Der heutige Sprachgebrauch, natürlich besonders in Schriften geistigerer Art, benützt das Wort für eine gesteigerte, gedankliche Erfahrung. Schon in Luthers Bibelübersetzung wird einmal (Marc. IV, 12) erkennen (Vulg. intelligere) dem sinnlosen Sehen und Hören gegenüber gestellt; noch bei Kant ist erkennen nicht eigentlich ein technischer Ausdruck der Philosophie, sondern wird ohne Schärfe für einsehen, verstehen, begreifen gebraucht. Ich gehe wohl nicht fehl mit der Beobachtung, daß erst das abgeleitete Wort Erkenntnis, noch mehr aber die vornehmem Neubildungen Erkenntnistheorie und Erkenntniskritik uns zwingen, im Grundworte erkennen eine ausgezeichnete Tätigkeit unsres Denkvermögens zu erblicken.[442] Wie in jedem Verbum ist auch in erkennen ein Zweck verborgen; wir gewöhnen uns mehr und mehr daran, den einzigen Zweck aller Wissenschaft und Philosophie durch das Grundwort von Erkenntnistheorie auszudrücken; wir sehnen uns nach Erkenntnis, d.h. wir haben den Wunsch, die uns umgebende Welt in ihrem Sein kennen zu lernen und in ihrem Werden zu verstehen. Das Sein der Welt glauben wir noch wissen zu können, das Werden der Welt müssen wir erkennen. So ist nach dem heutigen Sprachgebrauche das Wissen etwa eine Bedingung der Erkenntnis geworden. Ich brauche nicht erst hinzuzufügen, daß dieses Verhältnis der beiden Begriffe wissen und erkennen der Zufallsgeschichte der Sprachmode unterworfen ist; andre Kultursprachen halsen den relativen Gegensatz der beiden Begriffe wieder ein klein wenig anders ausgebildet, so daß nur ungenau ins Französische oder ins Englische zu übersetzen wäre, was ich bisher über das deutsche Wort vorgebracht habe.
Relativ ist der kleine Gegensatz auch darum, weil – wenn man mir die behauptete Tendenz des gegenwärtigen Sprachgebrauchs zugestanden hat – die Wissenschaft von der Welt immer weiter und weiter fortschreitet und eigentlich erst dort aufhört, wo der Wunsch nach Erkenntnis anfängt. Wir wissen sehr viel (sehr viel mehr als das Altertum) von der Wirklichkeitswelt im Raum, von der adjektivischen Sinnenwelt. Wir nennen es eine Steigerung des Wissens, wenn wir durch höhere und immer höhere Begriffe einen sehr unsystematischen und vom Ideal ewig entfernten Weltkatalog machen. Wäre ein solcher Weltkatalog überhaupt möglich, so würde er eine Einheit des Wissens nur scheinbar in dem obersten und leersten Begriffe erreichen, im Seinsbegriffe. Nur eine solche Einheit des Wissens würde selbst in der adjektivischen Welt nach dem werdenden Sprachgebrauche Erkenntnis heißen.
Aber auch von der verbalen Welt oder der Welt des Werdens haben wir zwar einen unvergleichlich großem Haufen von Kenntnissen als das Altertum, sind aber auch da von einer Einheit des historischen Wissens ebenso weit entfernt[443] wie in der adjektivischen Sinnenwelt. Der beneidenswerte, um seiner Selbstzufriedenheit beneidenswerte Monismus müßte gar, um das letzte Wort des Menschengeistes zu sein, eine obere Einheit der adjektivischen und der verbalen Welterkenntnis, eine obere Einheit der topographischen und der historischen Welt, der Raumwelt und der Zeitwelt lehren können. Aber der Monismus hat auch darin eine bedenkliche Ähnlichkeit mit einer Religionsstiftung, daß er wieder nur eine Sehnsucht ist an der Grenze des Wissens und keine beglaubigte Offenbarung; denn bloß um einer ehrlichen kritischen Methode willen hätten wir kein neues Schlagwort gebraucht. Die großen Denker und Forscher, auf welche der Monismus sich gern beruft, waren keine Monisten.
Ich glaube also, daß die gegenwärtige Tendenz des Sprachgebrauchs dahinführen wird, unter Erkenntnis eine Sehnsucht zu verstehen, die an der Grenze des relativen Wissens ein absolutes Wissen gewinnen möchte.
Eine Erkenntnis in diesem Sinne, eine absolute Erkenntnis, ist unmöglich, weil zuletzt alle Erkenntnis auf sinnliche Erkenntnis zurückgeht und unsere Zufallssinne zu grob sind, um auch nur in der Sinnenwelt ein Zuendekennen, eine Kenntnis bis auf den letzten Grund zu gestatten. Nicht einmal das Mikroskop zeigt uns etwa die Beschaffenheit des Blutes oder die Tätigkeit der Nerven bis auf die letzten Ursachen. Zu einer absoluten Erkenntnis des Organismus würde aber noch mehr gehören, nämlich die fast unvorstellbare Kenntnis des Lebensvorgangs, der zugleich das Blut auf die Nervenbahnen. und die Nerven auf die Blutbahn wirken läßt. Und so in unzähligen Fällen. Wir können bis zu den letzten Gründen der Natur nicht vordringen, geschweige denn zu den Verknüpfungen und Verwebungen der letzten Gründe. Da kommen wir denn zu einem beschämenden Geständnisse, in welches ein klein wenig Humor den Einschlag bilden mag. Erkenntnis aus den letzten Gründen ist nur ein Wort der Sehnsucht. Das andre Wort der Sehnsucht, Gott, ist nun ebenfalls ein Ausdruck für die letzte Ursache alles natürlich Gewordenen.[444] Ein frommer Scholastiker des Mittelalters könnte mit diesem Ergebnis zufrieden sein, daß also das Wort Gott und das Wort Erkenntnis ungefähr die gleiche Stimmung des strebenden Menschen bedeuten. Nur daß er nicht zufrieden wäre mit der Behauptung, beide Worte seien gleich arm.
1 | Es ist mir nicht zweifelhaft, daß die Bedeutung beschlafen eine auf die Bibelsprache beschrankte Lehnübersetzung sei, im Hebräischen vielleicht ein prüder Euphemismus. Das hebräische Wort jada ist aber auch sonst interessant. Die alten Juden besaßen drei verschiedene Worte für das Wahrnehmen durch das Gesicht, durch das Gehör und durch den Geschmack; alle drei Worte konnten metaphorisch ein geistiges Erkennen bezeichnen; aber nur jada, die Wahrnehmung durch das Gesicht, wurde auf den Beischlaf übertragen. |
Buchempfehlung
1880 erzielt Marie von Ebner-Eschenbach mit »Lotti, die Uhrmacherin« ihren literarischen Durchbruch. Die Erzählung entsteht während die Autorin sich in Wien selbst zur Uhrmacherin ausbilden lässt.
84 Seiten, 4.80 Euro