Liebe

[294] Liebe – Die Gemeinsprache unterscheidet gut zwischen der Befriedigung oder Ausübung des Geschlechtstriebes und dem seit etwa 700 Jahren zu unvergleichlichem Ansehen gelangten Begriffe Liebe, der ein Gefühl ausdrücken will, das trotz aller Beziehungen zum Geschlechtsgenuß geistiger Art ist; die ganz ordinäre Umgangssprache unterscheidet da viel besser als die Philosophen, die sich herbeigelassen haben, die Liebe zu definieren. Und auch die Alten, bei denen von Liebe noch nicht soviel die Rede war wie bei uns, nicht in Romanen und Dramen, auch nicht so heuchlerisch bei Eheschließungen, unterschieden dennoch recht gut wenigstens zwischen dem Wollustgefühl und den geistigen oder ästhetischen Begleitgefühlen. Man lese doch Plutarchs Essay über die Liebe; der personifizierende Grieche unterscheidet (die lateinischen Namen sind uns vertrauter) scharf zwischen Venus und Amor.

Unter den Philosophen waren es besonders zwei, Spinoza und Schopenhauer, die eine wissenschaftliche Definition der Liebe ihrem Systeme einzufügen suchten. Bei Schopenhauer ist die Liebe einer der Brennpunkte des metaphysischen Willens; alle Liebesgefühle sind nur Illusionen der Natur, um das menschliche Individuum zu den größten Opfern für die Herstellung des künftigen Kindes zu verlocken. »Die sämtlichen Liebeshändel der gegenwärtigen Generation zusammengenommen sind demnach des ganzen Menschengeschlechts ernstliche meditatio compositionis generationis futurae, e qua iterum pendent innumerae generationes.« (W. a. W. II S. 611.) Schopenhauer wirft also den Geschlechtsgenuß und das geistige Gefühl in einen Topf zusammen; man darf sich nicht wundern, wenn[294] er darum so inkonsequent ist, von der stärksten Äußerung seines fast göttlich verehrten Willens mit dein äußersten Zynismus zu reden. Eigentlich hätte er nur vom letzten Standpunkte der Weltverneinung aus den Geschlechtstrieb bedauern dürfen, nicht ihn verhöhnen.

Über Spinozas Liebesdefinition macht sich Schopenhauer bei dieser Gelegenheit lustig; er wolle sie wegen ihrer überschwenglichen Naivetät nur zur Aufheiterung anführen (a. a. O. 610). Der unheilige Schopenhauer verspottet den heiligen Spinoza. Und doch ist Spinozas Definition in ihrer zweiten Fassung noch zynischer als Schopenhauers metaphysische Grobheiten. Spinoza hat zunächst den amor im weitesten Sinne gedeutet als eine Fröhlichkeit oder eine Lust, verbunden mit der Idee einer äußeren Ursache (Eth. III. 13); sodann aber hat er im folgenden Buche, das die menschliche Knechtschaft behandelt, die eigentliche Wollust genauer definiert als einen Kitzel (titillatio), verbunden mit der Idee einer äußern Ursache (IV, 44). Ich will nicht untersuchen, ob Spinoza durch das Wort titillatio allerlei Perversitäten unter der Liebe mitbegreifen wollte, die er doch an dieser zweiten Stelle mit dem Geize, der Ehrsucht und andern Leidenschaften vergleicht, die er Krankheiten zu nennen geneigt ist. Offenbar denkt aber Spinoza bei dem Worte titillatio an eine Befriedigung des Geschlechtstriebs und sieht in dem geistigen Begleitgefühle nur eine Tönung des Lustgefühls, nicht ein Gefühl für sich.

Neuerdings hat nach sovielen Männern auch eine Frau die Philosophie der Liebe zu erkennen versucht, Lou Andreas Salomé, die von der Firma Nietzsche um ihres vorzüglichen Nietzsche-Buches willen gründlich gehaßte Freundin Nietzsches. Frau Lou ist in ihren Ausführungen sehr fein; sie wagt es, die Treue grundsätzlich nicht als Eigenschaft der Liebe anzuerkennen, und sie schlägt die Brücke zwischen der Phantasie des Künstlers und der Phantasie der Liebenden (Die Erotik S. 25 f.). Aber auch Frau Lou vergeistigt den Akt so sehr, daß eine begriffliche Scheidung zwischen dem Wollustgefühle und der geistigen Begleiterscheinung nicht zustande kommt.[295]

Da es sich nur um eine begriffliche Unterscheidung zu handeln scheint, die beiden Gefühle aber sich in der psychologischen Wirklichkeit häufig vermengen, so wäre der Fehler der Philosophen nicht gar so empfindlich, wenn er nicht einen andern Fehler zur Folge gehabt hätte. Der Geschlechtstrieb ist nämlich so allgemein verbreitet, daß Menschen, die ihn nicht kennen, fast für abnorm gelten dürfen, vielleicht für pathologisch; von dem geistigen Gefühle der sogenannten Liebe aber gibt es unzählige Grade, angefangen von der leisen Verliebtheit, die die Eigenschaften des Geschlechtspartners ein wenig idealisiert, bis zu der verrückten Liebe, der Liebe der Dramen, die sich eine Gottheit schafft und für die Vereinigung mit dieser Gottheit willig Marter und Tod leidet; dieser höchste Grad der sogenannten Liebe nun ist ebenso selten, wie der Geschlechtstrieb allgemein verbreitet ist. Dieser höchste Grad ist so abnorm, daß er mit dem gleichen Rechte für pathologisch ausgegeben werden kann, wie das Ausbleiben des allgemein verbreiteten Geschlechtstriebs. Ich habe schon erwähnt, daß Spinoza die Liebesleidenschaft eine Krankheit genannt hat; auch Kant nannte diese Leidenschaft pathologisch. So groß ist der Unterschied zwischen dem Wollustgefühle und dem geistigen Begleitgefühle, daß das Fehlen des ersten und das Erscheinen des zweiten für gleich abnorm, für gleich krankhaft ausgegeben werden konnte. Die Gemeinsprache hatte also ganz recht, wenn sie für die Bezeichnung der beiden Gefühle verschiedene Worte wählte; die Philosophen hatten unrecht, wenn sie für beide Gefühle eine gemeinsame Definition finden wollten. Ich glaube, die einseitigen Denkgenies haben wohl für das pathologische Liebesgefühl, für den höchsten Grad der Liebe, selten oder nie Verständnis gehabt, haben keine eigenen Erfahrungen gesammelt und sich nur bemüht, die Beschreibungen der Dichter begrifflich zu ordnen. Ich glaube, der höchste Grad des Liebesgefühls ist nur von Künstlern (etwa seit Petrarca) erfahren und beschrieben worden, ging durch die Macht der Nachahmung oder der Mode in die Vorstellungen der Gemeinsprache über, beherrschte in der Poesie sechs Jahrhunderte lang die Phantasie der Leser und ist gerade[296] jetzt im Begriffe, von einer andern Mode abgelöst zu werden. Der höchste Grad des Liebesgefühls ist eine ebensolche Rarität wie eine große Kunstschöpfung und wie die religiöse Vereinigung mit Gott, die Franciscus erlebt haben mag; dennoch schwätzt alle Welt von Religion, von Kunst und von Liebe. Was man so nennt, ist nur ein Surrogat für ein Gefühl, das von einer Million von Schwätzern kaum einer erlebt hat.

Der höchste Grad der Liebe, dessen Existenz ich also nicht leugne, hat wirklich etwas von einem Wunder an sich; man hat ja auch die Wunder als pathologische Erscheinungen erklären wollen. Ereignet sich der allerseltenste Fall, daß beide Geschlechtspartner den stärksten Grad der Liebe fühlen, so vollzieht sich gegen alle Naturgesetze das Wunder, daß eines das andere hebt, daß beide über der Erde schweben. Das dos moi pou stô des Archimedes ist oder scheint aufgehoben. Ob Glück oder Tod, die Sehnsucht der Mystik ist erfüllt.

Ich habe bei dieser kleinen Untersuchung die vielen andern Bedeutungen des Wortes Liebe absichtlich übersehen. Jetzt muß ich aber doch darauf hinweisen, daß auch die Mystik ihre Vereinigung mit Gott wie den brünstigsten und geistigsten Liebesgenuß empfindet, und daß namentlich Spinoza seine erste Liebesdefinition (im 3. Buche der Ethik und dann im 5. Buche) dazu benützt, den amor Dei, den amor erga Deum als die höchste Seligkeit des Menschen zu verkünden. Das Wesen der Mystik, die Sehnsucht, das Unaussprechliche auszusprechen, hat zu einem solchen Mißbrauch des Liebesbegriffes geführt; aber nicht nur in Spinozas pantheistischer Verstiegenheit, auch in Schopenhauers metaphysischen Zynismen steckt etwas von dieser bildhaften Mystik, die auch Cousin meinte mit seinen Worten: »Wir lieben das Unendliche, und bilden uns ein, die endlichen Dinge zu lieben.«

Durch alle Grade der sogenannten Liebe geht das wohlbekannte Gefühl, in welchem wir den Geschlechtspartner mit einem adjektivischen Worte lieb nennen; unsere Empfindung dabei, die ebenso subjektiv ist, haben wir überall mit dem falsch gebildeten verbalen Worte lieben bezeichnet; der Versuch, für die Empfindung ein objektives, substantivisches Wort zu bilden,[297] das Wort Liebe, hat in der Sprache solches Glück gehabt, daß die Menschen sich eingeredet haben, die Empfindung wäre ebenso häufig zu finden wie das Wort.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 294-298.
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