Rationalismus

[5] Rationalismus – In meiner Darstellung des Nominalismus (II. S. 160) suchte ich zu zeigen, daß die Dogmen der christlichen Kirche im Mittelalter aus der Vernunft bewiesen werden sollten, daß dann zwischen beweisbaren und unbeweisbaren Dogmen unterschieden wurde und daß endlich die Religion dem Forum der Vernunft entzogen wurde. Nun gab es etwa Anfang des 17. Jahrhunderts denkende Menschen, besonders in England, die doch wieder Vernunft und Religion zu kuppeln wagten und so die Chimäre einer Vernunftreligion konstruierten, den Deismus. Diese Leute erhielten von den richtigen Theologen mit nicht unberechtigtem Spotte den Beinamen Rationalisten. In theologischen Streitigkeiten hat das Wort Rationalismus heute noch einen ähnlichen Sinn, wenn man auch heute dabei mehr an eine nüchterne Auslegung der biblischen Wundergeschichten, an eine Art von Euhemerismus denkt.

In der Philosophie steht der Rationalismus nicht den unvorstellbaren Dogmen und den unglaublichen und darum eben glaubensgemäßen Wundern gegenüber, sondern dem Empirismus und Sensualismus. Es gibt nach dieser Lehre Vernunfterkenntnisse, die je nach der Sprache des letzten Führers angeboren oder apriorisch heißen und die zuverlässiger sein sollen als die sinnlichen Erkenntnisse. Weil aber diese rationalistischen Philosophen in ihrer Vergottung der Vernunft zugleich den Kirchendogmen kritisch gegenüberstehen, sind sie auch Rationalisten im ursprünglichen Sinne, sind Deisten, Aufklärer. Dieser Rationalismus ist so alt wie die Philosophie und tritt nur in immer neuen Verkleidungen auf. Einen seiner Höhepunkte hat er in Hegel erreicht, der ja die Welt unabhängig von aller Erfahrung aus der Selbstbewegung der Begriffe erkennen wollte. Die Stimmung unserer Gegenwart ist nicht mehr rationalistisch,[5] eigentlich auch nicht mehr aufklärerisch; Dichter und Forscher, welche einen Hamann, einen Jacobi höchstens dem Namen nach kennen, haben gelernt, daß die letzte Welterkenntnis auch aus der Vernunft nicht zu holen sei; Dichter und Forscher fangen zu fühlen an, daß es in den Werturteilen des Handelns und in den Gesetzen der Naturwissenschaft Konstanten gibt, denen gegenüber die Vernunft oder das Denken ebenso versagt, wie im Fortgange der nominalistischen Bewegung die Vernunft gegenüber den religiösen Dogmen ihre Mitarbeit weigerte.

Ich glaube nicht zu irren, wenn ich diese antirationalistische Stimmung der Gegenwart in Verbindung bringe mit den sprachkritischen Ideen, welche schon im ganzen letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in der Luft lagen. Wenn irgendwo meine Gleichsetzung von Denken und Sprechen berechtigt war, so war sie es da, wo der Rationalismus das begriffliche Denken als ein souveränes Werkzeug sowohl dem Kirchenglauben als der sinnlichen Erfahrung gegenüberstellt. Die Kritik der Sprache, wie ich sie verstanden wissen möchte, ist darum eine Kritik des Rationalismus, eine Kritik des Aberglaubens an den absoluten Wert des diskursiven Denkens, der ratiocinatio; darum ist die Kritik der Sprache auch eine Kritik des Glaubens an angeborene oder apriorische Ideen, darum knüpft sie gern an die Philosophen an, welche die angeborenen Ideen geleugnet haben; darum aber auch, und weil die Kritik der Sprache, und sie zuerst, sogar die Begrifflichkeit des Sensualismus oder der adjektivischen Welt erkannt hat, darum steht sie noch freier und stärker als der Rationalismus gegen den Sensualismus und gegen dessen Dogmatiker: die Materialisten.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 5-6.
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