Rationalismus

[617] Rationalismus (v. lat. ratio, »die Vernunft«), in der Theologie die Denkweise, die in der menschlichen Vernunft die Quelle oder wenigstens den Maßstab der Religion und im sittlichen, zur Glückseligkeit führenden Handeln ihren eigentlichen Inhalt erblickt. Als innerhalb der Kirche anerkannte Denkweise konnte sich der theologische R. erst auf dem Boden des Protestantismus ausbilden, besonders seitdem in England die sogen. Freidenker (s. Deismus) nicht nur einzelne christliche Dogmen, sondern den Begriff der Offenbarung selbst einer strengen Kritik unterzogen, während die Freigeister (esprits forts) in Frankreich vollends als die wahre Philosophie einen platten Naturalismus zu begründen gesucht hatten. Anders gestalteten sich die Dinge in Deutschland, wo im sogen. Zeitalter der Aufklärung (s. d.) der ursprüngliche Supernaturalismus (s. d.) der protestantischen Theologie, der nur einen formalen, d. h. auf die systematische Darstellung der Dogmen gerichteten, Vernunftgebrauch gestattete, angeregt durch die dogmengeschichtlichen Studien, wie sie Semler (s. d.), die exegetischen, wie sie Ernesti (s. Hermeneutik) und J. D. Michaelis (s. d. 1) anbahnten, und die allgemein kulturhistorischen Impulse, wie sie von Lessing (s. d.) und Herder (s. d. 1) ausgingen, zu einer vorurteilslosern Prüfung des Bibelinhalts fortschritt. Vollendet erscheint dieser theologische R. erst in Kants Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793) mit ihrer Abzielung auf den reinen moralischen Vernunftglauben. In der Folge ward nun die positive Religion mehr und mehr bloß als äußere Handhabe der Moral betrachtet und das eigentlich Religiöse auf wenige abstrakte Sätze zurückgebracht. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit waren die Lieblingsideen, um die sich der rationalistische Religionsunterricht und die rationalistische Predigt bewegten. Der R. hat ein Verstandeschristentum aufgestellt, dem, so ehrlich und treu es gemeint war, doch das Frische, Kräftige, Lebensvolle und Poetische des biblischen Christentums gänzlich abging. Diesen ins Platte und Triviale ausartenden R. pflegt man als R. vulgaris, d. h. ordinären R., zu bezeichnen. Über dem Eifer in seiner Verurteilung hat man vielfach vergessen, daß der Emanzipation der weltlichen Kultur von der kirchlichen Führung, wie sie sich im Zeitalter des R. vollzog, auf protestantischem Boden Notwendigkeit zukam, wie denn auch der R. ein wesentliches Moment der reformatorischen Frömmigkeit, das sittliche Ideal der Pflichtübung, bewahrt und nach der Seite einer universellen Humanität erweitert hat. Als die vorzüglichsten Vertreter des wissenschaftlichen R. sind die Dogmatiker Wegscheider (s. d.) und Bretschneider (s. d. 2), der durch seine natürliche Wundererklärung epochemachende Exeget H. E. G. Paulus (s. d.) und der Kanzelredner Röhr (s. d.) hervorzuheben. Schleiermacher hat in seiner »Glaubenslehre« den Gegensatz zwischen R. und Supernaturalismus vor allem durch eine tiefere Erfassung des Begriffs der Religion überwunden. Vgl. Stäudlin, Geschichte des R. (Götting. 1826); Hase, Theologische Streitschriften (Jena 1834 bis 1837, 3 Hefte; wieder abgedruckt in den »Gesammelten Werken«, Bd. 8, Leipz. 1892); Rückert, Der R. (das. 1859); Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik, Bd. 3 und 4 (Berl. 1862 und 1868); G. Frank, Geschichte der protestantischen Theologie, Bd. 3 und 4 (Leipz. 1875 und 1905); Landerer, Neueste Dogmengeschichte (hrsg. von P. Zeller, Heilbronn 1881); Rönning, Rationalismens Tidsalter (Kopenh. 1886–99, 3 Tle.); Benn, History of rationalism in the 19. century (Lond. 1906, 2 Bde.). – In der Philosophie versteht man unter R. im weitern Sinne die Annahme, daß die Welt überhaupt für uns begreiflich sei, daß das Gegebene sich in eine umfassende logische Ordnung bringen, in feste Begriffe fassen lasse; im engern Sinne die Voraussetzung, daß es möglich sei, alle Wahrheiten, mögen sie nun bloß formaler Art sein oder sich auf Tatsachen beziehen, unabhängig von aller Erfahrung aus den Grundbegriffen des Denkens heraus zu entwickeln. Im erstern Sinn ist jede Wissenschaft, als denkende Bearbeitung des Erfahrungsinhaltes, selbstverständlich rationalistisch, dagegen ist der R. im engern Sinne, der folgerecht durchgedacht sich zum Panlogismus (s. d.) entwickeln muß, ein bestrittenes Dogma einzelner philosophischer Schulen. Der Keim dazu liegt schon in der Ideenlehre des Platon; in der Neuzeit stellten Descartes, Spinoza, Leibniz, die Hauptvertreter des R., die Forderung auf, daß nach dem Vorbilde der Mathematik auch die Philosophie versuchen müsse, alle besondern Wahrheiten aus allgemeinen Axiomen und Definitionen abzuleiten, und betrachteten demgemäß die Erfahrungserkenntnis als eine nur unvollkommene Vorstufe der reinen Vernunfterkenntnis. Kant suchte zwar die Unmöglichkeit der letztern nachzuweisen, zeigt sich aber selbst noch stark vom Geiste des R. beherrscht, der bei Hegel wieder sich zu voller Blüte entfaltete. Als Gegensätze vgl. Positivismus und Empirismus.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 617.
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