Raum [1]

[634] Raum, die Form des Nebeneinanderseins, die bei der Wahrnehmung mit den Dingen selbst gegeben erscheint, aber von diesen unterschieden wird auf Grund des Umstandes, daß qualitativ ganz verschiedenartige Wahrnehmungsobjekte (z. B. verschiedenfarbige Punkte) doch in der gleichen räumlichen Ordnung (z. V. in einem gleichseitigen Dreieck gruppiert) wahrgenommen oder vorgestellt werden können, und daß die Gesetze der räumlichen Beziehungen (wie sie die Geometrie erforscht) unabhängig sind von der besondern Beschaffenheit der bezogenen Elemente. Aus diesem Grunde kann die Geometrie von jeder Raumerfüllung ganz abstrahieren und ihren Untersuchungen die Vorstellung eines »leeren« Raumes zugrunde legen. Das unwissenschaftliche Denken (der gesunde Menschenverstand) geht noch weiter und schreibt dem (leeren) Raum überhaupt eine selbständige Existenz zu, indem es annimmt, daß die Dinge sich im Raume, als einem sie umschließenden Behälter befinden, der auch nach Vernichtung jener zurückbleiben würde. Die antiken Atomistiker erhoben diese Auffassung zum philosophischen Dogma und nahmen »das Volle« und das »Leere« (Stoff und R.) als die Elemente alles Seins an, und auch die moderne Naturwissenschaft huldigt im allgemeinen derselben realistischen Ansicht, nach welcher der leere R., wenn er auch vielleicht experimentell nicht herstellbar ist, doch existiert. Da jedoch der leere R. etwas ganz Ungreifbares, Inhalts- und Wirkungsloses sein würde, so kann man sich gar nicht denken, als was er eigentlich existieren sollte, bez. wodurch er sich vom Nichts unterscheiden würde; deswegen identifizierten im Altertum Platon, in der Neuzeit Descartes und Spinoza den R. mit dem Stoffe, d. h. sie betrachteten die Räumlichkeit (Ausdehnung) als die Grundeigenschaft der Materie und verwarfen also den Begriff des leeren Raumes. Leibniz endlich ging zu einer idealistischen Auffassung des Raumes über, indem er ihn für die Form erklärte, welche die an sich selbst nicht anschaulichen, sondern intelligibeln Beziehungen der Monaden in unsrer »verworrenen« sinnlichen Auffassung annehmen; und im Anschluß an ihn erklärte Kant den R. (und die Zeit) für »a priori im Gemüt bereit liegende« subjektive Anschauungsformen, die deswegen auch notwendige Formen aller Gegenstände der Erfahrung sind (der R. besitzt »transzendentale Idealität« und zugleich »empirische Realität«). Nach Kant haben jedoch Herbart und Lotze die Raumform wieder als objektive Erscheinungsform der realen Wechselwirkungen der (unräumlichen) metaphysischen Wesenheiten zu deduzieren gesucht, und der neuere Realismus setzt größtenteils als Korrelat des (subjektiven) »Anschauungsraumes«, in dem wir die Dinge wahrnehmen, einen (metaphysischen, transzendenten) »Wohnraum«, in dem die Dinge sind, voraus. Von der metaphysischen Frage nach dem realen Wesen des Raumes unterscheidet sich die logische Frage nach den Grundbestimmungen der Raumform, bez. der Definition des Raumes. Nach den Untersuchungen Riemanns, Helmholtz' und andrer neuerer Mathematiker läßt sich diese dahin aussprechen, daß der R. eine stetige, in sich kongruente unendliche Größe ist, in der jedes Element (Punkt) durch drei unabhängig voneinander veränderliche Richtungen bestimmt wird. Für die Geometrie genügt es, wenn man den R. als den (geometrischen) Körper erklärt, in dem nicht bloß alle uns zugänglichen, sondern überhaupt alle denkbaren Körper enthalten sind. Der R. erscheint also dann als der Inbegriff aller der Gebilde (Körper, Flächen, Kurven und Punkte), die in der Geometrie Gegenstand der Untersuchung sind. Über die besondern Eigenschaften, die in der Geometrie dem R. zugeschrieben werden, vgl. die Artikel »Dimension, Geometrie und Parallelenaxiom«. Vgl. Baumann, Die Lehren von R., Zeit und Mathematik in der neuern Philosophie (Berl. 1868–69, 2 Bde.); Döring, Über Zeit und R. (das. 1894).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 634.
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