Recht

I.

[22] Die Macht des Wortes über die Begriffe des »heiligen«, des »ewigen« Rechts will ich zunächst nur an zwei Beispielen erweisen; das eine ist dem Sachenrecht oder vielmehr dem Kampfe um das Eigentum entnommen, das andere dem Strafrecht; und die Rechtsphilosophen mögen weiter darüber streiten, ob das Sachenrecht oder ob das Strafrecht ewigere Wahrheiten verteidige.

Das Sachenrecht oder das dingliche Recht hat das Allerheiligste zu schützen: das Eigentum; ganz nebenbei mag die Frage gestellt werden, ob das Eigentum die Gesetze geschaffen habe oder ob es erst durch die Gesetze (oder Gewohnheitsrecht) eingeführt worden sei. Eigentum aber besteht nach dem gesunden Menschenverstand, nach dem naiven Realismus nur an Dingen, an Sachen. Was ein Ding sei, eine Sache, das weiß jedes Kind oder glaubt es zu wissen. Was man mit Händen greifen oder doch betasten kann, das ist eine Sache. Ein Landgut, ein Haus, ein Rind, ein Geldstück sind Sachen; darum war es, als die Zeit erfüllet war, eine Kleinigkeit, den römischen Rechtsbegriff des Eigentums auch auf den Apfel auszudehnen, den ein matter Wanderer im Herbste vom Baume pflückt, und auf die Erdbeere, die[22] ein armes Bauernkind einsammelt. Wo doch der Preis des Körbchens Erdbeeren kaum die Arbeit des Sammelns bezahlt; und Preis soll doch ein Äquivalent für Arbeit sein.

Die Römer hatten schon eine Ahnung davon, daß Eigentum auch an Objekten erworben werden könnte, die nicht Dinge waren, die nicht betastet werden konnten. Die actio de luminibus non officiendis schützte das Eigentum, das Recht am Sonnenlicht. Ist Licht ein Ding? Noch Newton glaubte so.

Jetzt, wo man das Licht als eine Ätherbewegung erklärt, müßte man die Antwort ändern. Aber damit ist's nicht genug. Seitdem das Gaslicht eingeführt worden war, gab es Prozesse gegen Leute, die entweder Gas gestohlen oder die durch Manipulationen am Gasometer die verkaufende Gesellschaft um Gas betrogen hatten. Der Fall lag für den Juristen einfach, weil Gas ein Ding ist, wenn auch nur ein luftförmiges Ding. Nun aber haben wir auch ein Licht, das von Elektrizität erzeugt wird. Offenbar kann auch elektrisches Licht per nefas angeeignet werden. Angeeignet? Kann Elektrizität, elektrische Kraft Eigentum werden? Elektrizität ist ja eine Kraft, kein Ding, keine Sache? Und wenn einer ein Recht hat, aus einem Flußlaufe Wasser zu entnehmen, das Ding Wasser, hat er auch das Recht, die Energie des aufgestapelten, höher gehobenen Wassers, zu benützen? Die Rechtswissenschaft ist darüber in Unordnung geraten, weil der Eigentumsbegriff naiv vom Dingbegriff ausging und nicht von den neuen Werten des Energiebegriffs.

Für meinen Gesichtspunkt liegt die Sache im eigentlichen Strafrecht ganz ähnlich dort, wo man nicht Eigentumsrechte, sondern ethische Grundsätze zu schützen ganz gutgläubig vorgibt. Die alten Strafrechte waren ja eigentlich auch Sachenrechte. War ein Mensch totgeschlagen worden, oder war ihm ein Glied abgehauen worden, so wurde der Körper oder der Körperteil abgeschätzt und die Täter hatten Buße zu leisten, d.h. ein Äquivalent zu bezahlen. Oder das Äquivalent wurde auch im Tauschhandel gebüßt: Leiche um Leiche, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Seitdem nun das Strafrecht als ein Ding für sich aufgestellt worden ist, kam die Strafe anstatt der Buße auf; aber nach wie vor kennt[23] das Gesetz nur die beiden Delikte des Mordes und der Körperverletzung. Erst seit kurzem ist der Begriff der Erpressung in das Strafgesetz hineingekommen. Immer noch aber weigert sich die Rechtswissenschaft der Einsicht, daß die mit der Erpressung verbundene Drohung schwere Krankheit und Tod des Bedrohten herbeiführen kann, daß also die Bedrohung eine Waffe ist, ein geeignetes Werkzeug für Mord und Körperverletzung, in der Wirkung nicht schwerer nachzuweisen als manche Pflanzengifte. (Vgl. die Art. Erpressung und Strafe.)

II.

Die Rechtswissenschaft hat ein Interesse daran, zwischen dem objektiven Recht und dem subjektiven Recht auf ihre Art zu unterscheiden; das Recht hätte sonst keinen Zweck. Der Zweck des objektiven Rechts, d.h. der Gesetzbücher, ist angeblich der, das subjektive Recht zu schützen, d.h. dem Einzelnen zur Durchsetzung seines begründeten Anspruchs zu verhelfen. Seines durch die Gesetzbücher begründeten Anspruchs. Dieses subjektive und objektive Recht sind nicht einmal richtige Korrelatbegriffe. Es ist ein und dieselbe Vorstellung aus der substantivischen Welt, das einemal vom Standpunkte der sog. Allgemeinheit gesehen, das anderemal vom Standpunkte des Individuums. Beide Relationen der einen Vorstellung hat man, besonders zur Zeit des Naturrechts, unter einen andern substantivischen Begriff zu bringen gesucht, unter den des Willens. Das objektive Recht wurde zur volonté générale gestempelt; subjektives Recht war, was der Einzelne wollen durfte. Strenge Juristen wie Ihering lehnten diese Konstruktion ab, aber nur, weil sich dagegen einwenden ließ, daß neugeborene Kinder und Wahnsinnige Rechte haben, aber keinen Willen. (Was wieder falsch ist; denn Kinder haben einen Willen, der sich nur nicht auf Rechtsobjekte richten kann; und der sehr starke Wille von Wahnsinnigen wird nur rechtlich nicht anerkannt.) Im Grunde hat der Willensbegriff mit dem Rechtsbegriff gar nichts zu schaffen. Das objektive Recht wird von den Beamten, leider, fast immer ohne persönliche Anteilnahme angewendet, wirklich als ob die bürgerlichen Gesetze oder Normen[24] so etwas wie Gesetze wären, wie Naturgesetze, die freilich wieder ihren Namen recht schlecht von den menschlichen Gesetzen übernommen haben; das subjektive Recht wird dagegen von dem Einzelnen nur dann verfolgt, wenn er will, wenn er ein Interesse zur Sache hat, aber auch sonst würde Recht Recht bleiben.

Diese schiefe Unterscheidung von Gesetz und gesetzlichem Anspruch ist von der Wissenschaft nun einmal angenommen, und ich werde kein Glück damit haben, wenn ich ganz anders zwischen subjektivem und objektivem Recht unterscheiden möchte. Die Jurisprudenz ist die Wissenschaft vom objektiven Rechte. Dieses objektive Recht gehört samt und sonders der substantivischen oder metaphysischen Welt an, wenn man darunter die allegorische Justitia verstehen will, die phantastische Göttin des Rechts, deren Ebenbild niemals auf Erden zu finden war, oder wenn man darunter auch nur einen obersten Begriff verstehen will, unter dem sämtliche rechtliche Einrichtungen eines Staates sich zu einem Systeme ordnen sollen. Das objektive Recht könnte auch der verbalen Welt der Wirkungen oder Wirklichkeiten zugerechnet werden, wenn man sich darauf beschränken wollte, alle die menschlichen Tätigkeiten objektives Recht zu nennen, wie: denken, gesetzgeben, klagen, streiten, richten, strafen, die den gemeinsamen Zweck haben, den Krieg aller gegen alle zu vermeiden und zwischen den menschlichen Egoismen einen erträglichen Ausgleich zu schaffen. Auch dieser Zweck wäre nach menschlicher Gewohnheit nicht ganz ohne ein Ideal. Der Einzelne, der einen Anspruch erhebt, und die mächtige Gesamtheit, die Gesetze macht, beide berufen sich gern auf die Gerechtigkeit ihrer Sache. Beide lügen sehr oft, wenn sie ihre Sache gerecht nennen, wenn sie sagen, daß sie im Rechte sind. Diese Lüge aber sogar setzt etwas voraus, was in der Welt vorhanden ist, in der adjektivischen Welt der menschlichen Empfindungen. Es gibt ein Gefühl, welches das erlebte Schicksal als gerecht oder ungerecht bewertet. Und dieses Gefühl allein möchte ich das subjektive Recht nennen.

Diese Zweiseitigkeit des Rechtsbegriffs findet sich schon in der Originalsprache unserer Jurisprudenz, im Lateinischen; nicht zwar in dem Worte jus, das nur die Bedeutungen des objektiven[25] und des subjektiven Rechts der Satzung (jussum) und der Gerechtsame im herkömmmlichen Sinne hat; wohl aber in dem Worte justitia, das im Lateinischen noch nicht die allegorische Gottheit unserer Steinmetzen war, sondern ursprünglich das Gerechtigkeits- oder Billigkeitsgefühl bedeutete (selbst justitia in hostem schon bei Cicero), dann aber auch das objektive Recht als Inbegriff der Gesetze. Justus gar hatte alle Bedeutungen von der subjektivsten bis zur objektivsten, die wir durch vielerlei Worte auseinanderhalten: gerecht, billig, rechtschaffen, richtig, ordentlich, gehörig, hinlänglich, recht, förmlich, gesetzmäßig. Unsere deutschen Worte recht, richtig und gerecht werden uns noch beschäftigen.

Der Gegensatz zwischen dem subjektiven und dem objektiven Recht in meinem Sinne, zwischen dem Gerechtigkeitsgefühl des Individuums und dem richterlichen Herrschaftsanspruch des Staates, also zwischen dem Rechtsbegriff der adjektivischen Welt und dem Rechtsbegriff der substantivischen Welt, ist nicht bloß ein logischer Gegensatz. Es handelt sich um einen unversöhnlichen Zwiespalt, der in einem untilgbaren Hasse der Nichtjuristen gegen die Juristen immer wieder zutage tritt. Und in einem gesteigerten Hasse sovieler Naturen gegen den ihnen durch die Verhältnisse aufgezwungenen Juristenberuf. Ich sehe das Wesentliche dieses Gegensatzes besonders deutlich an einem Punkte, der allein genügen würde, die Bezeichnung beider Welten durch das eine gemeinsame Wort zu einer Sinnlosigkeit zu machen. Ich denke da an den Aberglauben der Juristen, sie müßten jeden vorliegenden Fall entscheiden, sie müßten die juristische Frage unbedingt mit einem ja oder nein beantworten. Dieser Aberglaube herrscht freilich auch beim Recht suchenden Publikum. Das Recht hätte ja wieder keinen Zweck, wenn der Rechtsstreit zwischen Hinz und Kunz nicht durch den Rechtsprecher, den judex (von jus dicere) aus der Welt geschafft würde. Nun liegt die Tatfrage im Strafrecht oft so, daß ein Ja oder Nein anwendbar ist; auch im Zivilrecht dürfte der Fall in einfachen Verhältnissen häufig vorkommen. Aber je umfangreicher und spitzfindiger unsere Gesetzbücher werden, je feiner die Distinktionen der Juristen, um so zahlreicher werden die Fälle, in denen gerade die[26] besten Juristen schwanken müssen, unter welchen Paragraphen ein Rechtshandel falle. Handelt es sich am Ende um die zeitliche Ausmessung einer Freiheitsstrafe, bei der das Gesetz einen weiten Spielraum läßt, so ist es doch eitel Flunkerei vom Richter, wenn er mit der zudiktierten Strafe von so und so viel Jahren und Monaten genau das getroffen haben will, was das Gerechtigkeitsgefühl verlangt. (Vergl. Art. Strafe.) Das subjektive Gerechtigkeitsgefühl ist psychologisch fein; die objektive Gerechtigkeit des Richters ist grob, auch wenn sie juristisch fein sein sollte. Das Gerechtigkeitsgefühl des Individuums ist so frei, daß es auch in der Seele des Frommen und beim Frömmsten gelegentlich an der Gerechtigkeit Gottes zweifeln kann, gegen Gottes Ratschlüsse murren; der Rechtsspruch des letzten Amtsrichters verlangt unfreie Unterwerfung. Man muß es im Laiengericht mitgemacht haben, wie die Geschworenen, wenn sie überhaupt denken, das Für und Wider gegeneinander halten und nicht leicht zu einem entschiedenen Ja oder Nein kämen, hätte ihnen nicht der gelehrte Richter in seinem Resumé den Fall juristisch so präpariert, daß die juristische Suggestion zu einer raschen Entscheidung führt. Wahrhaftig, der gewissenhafte Käsehändler wägt das verlangte Viertelpfund genauer ab, als am Ende der Richter das von der Gerechtigkeit verlangte Strafmaß abwägen kann. Die Jurisprudenz und die Sehnsucht nach dem behaglichen Mittagessen drängen zu einer Entscheidung. »À la mort, et allons dîner« läßt Voltaire die Richter des Sokrates sagen.

Dieser Gegensatz zwischen dem wirklichen, adjektivischen Gefühl für Gerechtigkeit und der substantivischen Konstruktion des Rechts wiederholt sich immer, wo wir uns von dem Schein der substantivischen Welt befreien und die alleinige Wirklichkeit der adjektivischen Welt erkennen. Der Kranke fühlt sich krank, ganz genau so krank wie er sich fühlt; der gelehrte Arzt soll eine Arznei verschreiben und müßte in der Dosierung des Mittels schwanken; er hat aber Eile wie der Richter und der Geschworene, schwankt nicht und verschreibt sein Mittel gegen die Krankheit auf ein Gran genau von jeder Arznei. Du findest ein Bild, ein Buch, eine Symphonie schön, genau so schön, wie du es[27] empfindest; du kannst den Grad deiner Empfindung nur ebenso wenig in Worte fassen wie der Kranke sein Gefühl; aber der gelehrte Ästhetiker versteht sich auf die Schönheit, mißt die verschiedenen Schönheiten gegeneinander ab, und wenn er überdies ein Händler ist, wie es ja vorkommen mag, so bestimmt er genau den Wert dessen, was dir wert ist.

Diese Sucht der Ärzte, der Richter und der Kunstrichter, unter allen Umständen zu entscheiden, ein Ja oder Nein auszusprechen, unbekümmert um die feinen Wertunterschiede der adjektivischen Gefühlswelt, mag jetzt zusammengehalten werden mit dem, was ich (Kr. d. Spr. III2 367) über den Satz vom ausgeschlossenen Dritten und seine Torheit vorgetragen habe. Wir haben jetzt vielleicht und an einer Stelle, wo wir es kaum erwarten konnten, den letzten Grund für diesen Gipfel aller Tautologien gefunden.

Auch die berühmten logischen Denkgesetze gehören der substantivischen, der unwirklichen Welt an. Ich habe gezeigt, daß die Albernheiten »das Mittelalter ist nicht gelb« oder »die Elektrizität ist nicht vierfüßig« erst dann geantwortet werden, wenn jemand vorher so albern war zu fragen: Ist das Mittelalter gelb oder nicht? Ist die Elektrizität vierfüßig oder nicht? Nicht viel anders scheint es mir um die Entscheidungssucht der verschiedenen Richter und Ärzte zu stehen. Es scheint ihnen standesgemäß, immer mit einem entschiedenen Ja oder Nein zu antworten, weil die Parteien so töricht fragen.

III.

Wir sind es gewöhnt, das Werturteil unseres Gerechtigkeitsgefühls und das richterliche Urteil mit dem gleichen Worte auszudrücken, oder doch mit einem ganz ähnlichen; gerecht, recht, richtig und Recht. Unter allen abendländischen Sprachen ist im Deutschen die Verwechslung des Gerechtigkeitsgefühls und der Gesetzesanwendung am weitesten gediehen; die slawischen Sprachen haben die deutschen Worte übersetzt: pravi = richtig, gerecht, auch die Rechte. Ich glaube nachweisen zu können, daß dieser Sprachgebrauch von der lateinischen Bibelübersetzung beeinflußt,[28] auf das lat. rectus, in immer neuen Lehnübersetzungen, zurückgeht.

Der zadik des Alten Testaments war ein sehr unklarer Begriff, der sich auf religiöse wie auf forensische Verhältnisse beziehen konnte. Der zadik konnte der rechtliche Mann sein oder auch der fromme Mann. Gott war der Gerechte par excellence. Selbst Beziehungen auf den Messias finden sich schon im zadik. Mit der Rechtsprechung hatte der Begriff nichts zu tun. Der Richter in Israel, eine Art Diktator, hieß Schofet, was die Septuaginta ganz wörtlich und gut mit kritês zu übersetzen pflegt, selten mit dikastês. Das Neue Testament gab den Gerechten mit dikaios wieder, sprach so von Gott wie von den Menschen, meinte damit einen sozialen oder religiösen Wert und kümmerte sich wenig um den profanen Sprachgebrauch der Griechen. Der unterschied sich wesentlich von dem unsrigen; eine ganze Menge Wortstämme sind nötig, um das auszudrücken, was wir unter recht, richtig und gerecht zusammenfassen. Was gesetzmäßig ist, heißt: nomimon was rechtlich ist: dikaios was handgerecht, passend: harmozôn das subjektive Recht, der Rechtsanspruch: exousia der entscheidende Prozeßrichter heißt dikastês wer sonst zu entscheiden hat: kritês die rechte Hand (im Gegensatz zur linken): dexios aufrecht, wofür wir ja auch recht sagen, heißt orthos der rechte Winkel heißt orthogônia gerade, in horizontaler Richtung, hieß euthos. Dieses orthos nun, das schon im Griechischen metaphorisch verwendet wurde, machte Glück in der lateinischen Lehnübersetzung rectus (von regere, wie orthos von ornymi die Grundbedeutung: antreiben, lenken); alle unsere Verwendungen von recht finden sich schon bei rectus: gerade, senkrecht, aufrecht, recht, richtig, geradsinnig, geradeaus, rechtlich.

Weil der Übergang von rectus zu ritto, diritto, droit klar vorliegt, darum zweifelt kein Romanist daran, daß droit direkt von directus herkomme; die Germanisten aber, trotzdem die Gleichheit von recht und rectus in die Augen springt, sprechen von einer »Urverwandtschaft«. Ein altpersisches râsta (gerade, recht) wird ins Treffen geführt. Während aber die germanischen[29] Worte (got. raihts, altnord. rêttr, engl. right usw.) auf kein andres Wort zurückgeführt werden können, erscheint rectus eben als ein ganz regelrecht gebildetes Partizipium von regere.

Die romanischen Sprachen haben freilich nicht rectus selbst übernommen, sondern jus und justus (übrigens in gindice, juge, giudizio usw. erhalten) ist bei ihnen durch die Weiterbildung von directus verdrängt worden, das schon im Lateinischen gerade, schlicht, aber auch schlicht und ehrlich in metaphorischer Bedeutung ausdrückte. (Es muß auch ein Wort directarium gegeben haben, Winkelmaß, woraus rum. dreptar wurde.) Im Italienischen ist es als diritto, diretto, dritto, ritto erhalten. Spanisch: derecho. Provençalisch: dreit und drech, woraus franz. droit wurde.

Für die Herkunft unseres recht von rectus scheint es mir nun zu sprechen, daß droit (von directus) fast in seiner ganzen Bedeutungsentwicklung mit recht zusammenfällt: gerade, senkrecht, rechtlich, Recht, alles wird durch droit ausgedrückt1. Und auf die verfehlten Versuche, droit (für die rechte Hand) von dexter abzuleiten, das doch als destre bis ins 16. Jahrhundert üblich war, scheint mir die Übereinstimmung mit dem deutschen recht wieder ein Licht zu werfen; um so mehr, als auch im Deutschen ein älteres Wort, zese (got. taihswa, das doch wohl das Lehnwort dexter ist) von recht erst verdrängt werden mußte. Nur kann ich der Kühnheit (die nicht ganz eine Kühnheit Grimmscher Art ist) des D. W. (Heyne) nicht beipflichten, die die Bedeutung rechts von der Urbedeutung gerade ableitet, weil »man sich die Richtung von der das Schwert führenden Hand des Mannes aus als die zielgeradere dachte« (?). Ich sehe die Schwierigkeit nicht, rechts von recht abzuleiten, und begreife nicht, waru[30] Littré für droit (= rechts) einen besondern Artikel verwendet. Überall fließen ja die Bedeutungen recht und richtig ineinander; die rechte Hand ist die richtige Hand, die geschicktere, im Gegensatze zu der ungeschickten, linkischen Hand. Dexteritas ist Gewandtheit; schon dexios hieß auch geschickt. Der Komparativ (dexiteros dexterior, auch im Deutschen früher häufig) ist aus einer Vergleichung beider Hände zu erklären. Und bei der Vergleichung wurde die rechte Hand immer gelobt, die linke getadelt. Die Griechen waren keine Erkenntnistheoretiker; dikaios, dexios, kalos, agathos floß ihnen durcheinander. Die geschicktere, stärkere Hand war ihnen (und wohl allen alten Völkern) die tüchtige, die tugendhafte, die schöne, die gute, die richtige Hand. Auch unsere Kinder lernen frühzeitig ihre rechte Hand von der andern unterscheiden und nennen sie in der Ammensprache das gute Händchen. Die Rufe bravo (tapfer), gut, recte, kalôs entsprechen einander.

IV.

Ein objektives Recht (Gesetz und gesetzlicher Anspruch) gibt es nur im Staate, der darum und dazu ein Staat ist. Außerhalb des Staates, in der Anarchie, gibt es keine Justizgewalt, also kein Recht; das adjektivische Gefühl, recht zu handeln oder recht zu empfinden, hat mit dem Staate nichts zu tun. Was schon die Römer, noch dazu in ihren Institutionen, Naturrecht genannt haben, jus naturale (damals noch mit dem jus gentium zusammengeworfen, dem allgemein menschlichen, überall anzutreffenden Rechtsgefühl, – weil von einem Völkerrecht im modernen Sinne nicht einmal in der Theorie die Rede sein konnte) quod natura omnia animalia docuit, das mag durch Jahrhunderte das objektive Recht beeinflußt haben, als eine Sehnsucht, eine Philosophie, eine öffentliche Meinung; die Bezeichnung Recht hat es dennoch niemals verdient2. Das Naturrecht ist nie etwa[31] andres gewesen als das adjektivische Rechtsgefühl, wenn es auch gelegentlich zu einer Revolution gegen das geltende, staatliche, substantivische Recht führte. Die Naturrechtler, welche aus ihrem Rechtsgefühl heraus das objektive Recht bessern wollten, haben sich um das verdient gemacht, was wir etwa die menschliche Kultur nennen; aber gerade die konsequenten Naturrechtler, die alles positive Recht natürlich fanden, waren eigentlich nur die Vorläufer der historischen Schule, der im Grunde alles vernünftig ist, was wirklich ist. Just von der Juristerei ist der Historismus vor hundert Jahren ausgegangen.

Ein Naturrechtslehrer der Lutherzeit, Oldendorp, lehrt: »Lex est notitia naturalis a Deo nobis insita, ad discernendum aequum ab iniquo«. Stärker konnte die Verwechslung von recht und Recht nicht mehr ausgesprochen werden. Von Gott kam die Natur des Menschen, auch seine gesellschaftliche Natur; aus dieser gesellschaftlichen Natur entwickelte sich das Recht, natürlich, also war auch das Recht von Gott. Alle Naturrechtler waren und mußten sein: Optimisten, also schlechte Christen; sie glaubten an die Güte der Menschennatur und fanden entweder, ganz verblendet, das natürliche Rechtsgefühl im geltenden Rechte schon verwirklicht oder hofften doch, später einmal werde das Richtige Recht werden. Ein so nüchterner Kopf wie Wolf konnte denken und sagen: Lex naturae nos obligat ad committendas actiones, quae ad perfectionem hominis atque status ejusdem tendunt, et ad eas omittendas, quae ad imperfectionem (!) ipsius atque status ejusdem tendunt. Das große leere Wort Vollkommenheit verdarb, was zu verderben war; und die Vernunft, die vermeintlich allwissende, scheiterte an dem Begriffe der Vollkommenheit.

Man hat mit Recht behauptet, es bestehe gar kein Unterschied zwischen dem Naturrecht und dem Vernunftrecht, dem jus naturale und dem jus rationale. Beiden Systemen des adjektivischen[32] Rechts steht das positive Recht, das substantivische, das Gesetz, gegenüber. Und die ganze Verwirrung, welche in dem Worte Natur sich ausgeprägt hat, kehrt in Naturrecht wieder. Nehmen wir Natur als Wirklichkeit, so gibt es in der ganzen Natur kein Naturrecht; denken wir aber an die Natur des Menschen, so hat diese Natur, zwiespältig, eben überall nur positive Rechte oder Rechtsordnungen geschaffen und ihnen in derselbigen Seele ihrer Menschen ein rechtes Gefühl gegenüber gestellt, das sie Naturrecht nennen, obgleich es kein Recht ist und in rerum natura nicht anzutreffen. Es gibt kein Recht, das nicht erzwungen werden kann; und zwingen kann den Einzelnen nur der Racker von Staat, der Staat als einziger Übermensch (im üblen Sinne).

Die Unterwerfung des Einzelnen unter die Justizgewalt des Staates wurde von den Naturrechtlern, lange vor Rousseau, für etwas wie die Wirkung eines Vertrages erklärt. Es blieb unklar: sollte der contrat social das Idealbild sein für den Gesetzesstaat der Zukunft, oder sollte durch das pomphafte Wort die Erscheinung des gegenwärtigen Staates erklärt werden. Die Entstehung dieser Fiktion scheint mir, abgesehen von dieser Unklarheit, leicht gedeutet werden zu können. Freie Denker sahen die Divergenz zwischen recht und Recht. Dabei wurde von jedem Bürger, auch vom Verbrecher, freiwillige, willige Erduldung des Rechts verlangt; wenn auch Hegels bodenlos frivoles, ja infam witziges Wort »die Strafe ist das Recht des Verbrechers« noch nicht geprägt war. Die freiwillige Unterwerfung wurde auch der Sitte, der Religion gegenüber verlangt. Aber: die Religion war undiskutierbar, weil der liebe Gott doch da ganz besonders allweise und allmächtig war (und trotzdem mit seinem auserwählten Volke einen Vertrag, einen Bund, zweimal nacheinander sogar, geschlossen hatte); die Unterwerfung unter die Sitte erforderte keinen Vertrag, weil diese Unterwerfung (so sagten die törichten Juristen) nicht gesetzlich erzwungen werden könnte. Nur unter das Gesetz des Staates wurde jeder Einzelne gezwungen, mit eiserner Faust; und sollte doch sein Haupt und sein Gemüt unter dieses feindliche Gesetz beugen, als wäre es [33] Gottes Wille, sollte immer und allezeit recht und Recht identisch finden. Der Mörder sollte es als gerecht empfinden, wenn er hingerichtet wurde; der arme Schuldner sollte es als gerecht empfinden, wenn er zugunsten des reichen Gläubigers gepfändet wurde. Das war entweder nicht wahr, oder die Gesetze mußten durch Übereinkunft, durch einen Vertrag zustande gekommen sein. Von dem nur kein Lebender wußte, wann und wo er geschlossen worden war. Diese wie andere Konstruktionen des Naturrechts waren verdienstvoll, nicht zuletzt darum, weil sie im Sinne der Aufklärung vom Rechte Philosophie oder Vernunft verlangten und weil sie gegen die Alleinherrschaft der römischen und der späteren italienischen Rechtsbegriffe protestierten. Aber alle Naturrechtler haben übersehen, daß der Mensch und die menschliche Vernunft mit zur Natur gehören, daß sie ein Stück Natur sind.

Die Überzeugung freilich, daß recht und Recht nichts miteinander zu schaffen haben, daß der Staat ein Notbehelf, ein pis aller, eigentlich eine notwendige Scheusäligkeit sei, diese Überzeugung war durch den Optimismus der Naturrechtler nicht aus der Welt zu schaffen. Pessimisten hatten die nötige Schärfe der Augen, den Staat in seiner wahren Gestalt zu sehen. Niemand ist dem Staate gegenüber je scharfsinniger gewesen als Hobbes.

Hobbes ist mit seinen beiden Forderungen, einer souveränen Zentralgewalt und einem Rechte auf Freiheit, weit mehr, als es gewöhnlich anerkannt wird, der Staatslehrer der neuen Zeit, der Vorgänger der großen französischen Revolution gewesen. Um so mehr sollten die Franzosen ihn auf den Schild heben, höher als ihren Rousseau, weil die Engländer ihren Landsmann gern verleugnen; sie lieben nicht seine pathetische Sprache, sie lieben nicht seine radikale Gesinnung; Hobbes hatte auf seinen Reisen die englische respectability eingebüßt.

Hobbes ist kein Menschenverehrer. Von ihm stammen die beiden harten Sätze: »homo homini lupus« und »bellum omnium contra omnes«. Wie kann daraus, aus dem wahren Natur-Recht, der Idealzustand entstehen, in welchem homo homini Deus wird? Hobbes geht auf eine einfachere Frage zurück: quaerendum prius[34] esse, unde esset quod quis rem aliquam suam potius quam alienam esse diceret. (De Cive, Epist. dedic., Parisiis 1. XI. 1646.) Wie ist es gekommen, daß jemand etwas sein Eigen genannt hat? Durch Vertrag, durch verba de futuro allein konnte der natürliche Krieg aller gegen alle vermieden werden. Der Wille zum Frieden (aus Egoismus) ist subjektives Recht; der Vertrag, der immer eine Entäußerung ist (aus Egoismus), schafft objektives Recht. Im Staate, dem Leviathan. Man nennt diese gegenseitige Lebensversicherung Gerechtigkeit. Gerecht ist, wer sein Wort hält. Solange ein Staat besteht, wird die Fiktion aufrecht erhalten, daß in der Zentralgewalt der Wille, der allgemeine, vorhanden sei, daß seine Gesetze gerecht seien. Wer die Gerechtigkeit der Gesetze oder der Handlungen des Souveräns erst zu prüfen sich vorbehält, wer die Autorität seiner eigenen Vernunft der Staatsautorität gegenüberstellt, der kehrt damit schon in den Naturzustand zurück. Es wird nicht getadelt, nur konstatiert. Der Zweck heiligt die Mittel3; Lüge der eigenen Partei wird Klugheit genannt. Rebellion ist kein Verbrechen, weil der Rebell in den Naturzustand zurückgekehrt ist; Rebellen kann man feindselig behandeln, nicht strafen. Der Staat ist der modus vivendi der argen Menschen. Die Menschen sind nicht gut.

Je mehr Rechte Hobbes seinem Staat-Leviathan gibt, desto weniger ist von dem adjektivischen Rechtsgefühl die Rede. Der kongeniale Landsmann des Nominalisten Occam würde gar nicht sagen können, was unter den Begriffen recht, gut zu verstehen sei. Frei, ja, frei wollen und sollen sogar die Menschen sein; sein Haß gegen die Hierarchie der Kirche, sein schlecht verhehlter Atheismus läßt ihn inkonsequent genug – die Inkonsequen[35] geht sowohl den nominalistischen Philosophen an wie den monarchistischen, ja absolutistischen Politiker – Freiheit des Bürgers, Gewissensfreiheit für alle fordern. Hier ist auch Lockes zu gedenken, der ruhiger und stärker als die Monarchomachen das Recht auf Revolution lehrte; gegen jede Tyrannis, auch gegen die der Freistaaten.

Wie abhängig Spinoza (in seinem Theologisch-politischen Traktat) und Rousseau (in seinem ganzen politischen Wirken) von Hobbes waren, das soll hier nicht näher ausgeführt werden. Der eigentlich resignierte, bei aller Tapferkeit im Grunde nur beschauliche Jude hat des Hobbes Lehre zur Forderung der Toleranz gewendet; der wilde Franzose hat mit äußerster Konsequenz und mit einer Sprachgewalt, die dem abwechselnd englisch und lateinisch schreibenden Engländer und dem fast nur lateinisch schreibenden holländischen Juden versagt blieb, die beiden Rechtsgedanken des Hobbes zum Dogma von der Volkssouveränität vereinigt. (Vgl. Art. res publica.)

Sieht man genauer zu, so bestand der Gegensatz zwischen Naturrecht und positivem Recht nicht nur während der paar Jahrhunderte, in denen das Wort Naturrecht einen guten Klang hatte. Seit jeher hat der Gegensatz bestanden. Immer hat es die große Menge von Verteidigern des historischen Rechts (sie wußten es nur nicht) gegeben und einzelne Weltverbesserer. Platon z.B. hat als Weltverbesserer seinen Idealstaat beschrieben, in dem etwa das Naturrecht der Weibergemeinschaft gepredigt wurde; als alter Herr, in den »Gesetzen«, stellt er sich mehr auf den Boden des historischen Rechts und gesteht selbst den Bürgern erster Klasse eigene Weiber und sonstiges Eigentum zu.

Auf die Griechen muß ich zurückgehen, wenn ich die Grundlüge erkennen will, die seit Menschengedenken dazu verführt, recht und Recht, die doch wenig miteinander zu tun haben, miteinander zu versöhnen. Sokrates scheint diesen Grundirrtum in die Welt gesetzt und mit seiner Autorität gestützt zu haben: Tugend sei lehrbar, Tugend sei Wissen. Bei der Unklarheit der griechischen Erkenntnistheorie flossen überdies die Begriffe des Schönen, des Guten, des Rechten[36] im Tugendbegriffe zusammen. Wer das Rechte erkannt hatte, konnte gar nicht anders als gerecht sein. Wir spotten heute über eine solche Logik. Aber die gesamte Rechtsphilosophie des Historismus, von der unsere Zeit beherrscht wird, begeht einen fast noch ärgeren logischen Schnitzer. Auf Grund eines ungleich reicheren Wissens natürlich. Wir haben zu untersuchen, wie das gegenwärtige Recht geworden ist; Entlehnungen von Volk zu Volk, Einflüsse nationalökonomischer Massenbewegungen und Einflüsse tyrannischer Gesetzgeber, nicht zuletzt auch Einflüsse des national häufig sehr verschiedenen »ewigen« Naturrechts haben das Recht so werden lassen, wie es ist; und weil es so geworden ist, soll es uns so recht sein. Das aber wußten schon, und besser als die Nachwelt, die vorplatonischen Griechen, daß wir mancherlei wissen können von dem Werden der Welterscheinungen, nichts jedoch von ihrem Sein. Und wir können das so ausdrücken: was wir irgend wissen können, das geht auf die adjektivische Welt unserer äußern und innern Erfahrungen, bestenfalls auf die verbale Welt des Werdens. All dieses Wissen geht auf die Vergangenheit, da ja auch die gegenwärtigen Erfahrungen vergangen sein müssen, um Wissen zu werden. Nicht eigentlich vom Werden wissen wir etwas, sondern nur etwa vom Gewordensein. Auch die Weltverbesserer können nur das gewordene Recht kritisieren nach ihrem gegenwärtigen Rechtsgefühl; physikalisches Wissen kann ein Vorhersagen der Zukunft versuchen, nicht historisches Wissen; darum hat keine Zeit einen Beruf zur Gesetzgebung, zu einer Gesetzgebung nämlich, welche recht und Recht versöhnen wollte. Das positive Recht oder das Gesetz ist immer veraltet, ist immer unrecht. Das Rechtsgefühl, das adjektivische Recht, ist niemals zu befriedigen. »Weh' dir, daß du ein Enkel bist.«

Es wäre denn, daß es irgendwo in rerum natura ein substantivisches Recht gäbe, das dem Rechtsgefühl entspräche. Das Recht. Das wird aber immer nur auf der ersten Seite juristischer Kompendien definiert und behauptet; nachher ist nur noch von Gesetzen die Rede, vom jus, niemals wieder vom richtigen Recht.[37]

V.

Das richtige Recht Stammlers ist das neueste Schlagwort von Juristen, die mit Theorie und Praxis ihrer Wissenschaft unzufrieden sind und dennoch Juristen bleiben wollen. Die Heißsporne unter ihnen möchten das Recht reformieren, wie Luther das Christentum reformiert hat. Mit Beibehaltung des Teufels oder des Unrechts. Die Bewegung ist nicht ohne gute Folgen geblieben. Da und dort, in Frankreich und in Deutschland, gibt es auf kleinen Provinzposten einen bon juge, der das ungeschriebene, adjektivische Recht höher stellt als das geschriebene Gesetz und zum Entsetzen der Juristen, unter dem Beifall der kleinen Leute, einmal einen armen Teufel laufen läßt, der sich mit dem Eigentum eines andern den leeren Magen vollgeschlagen hat. Der bon juge hat sogar wissenschaftliche Verteidiger gefunden. Einige besonders brutale Paragraphen sollen gemildert werden. Diebstahl bleibt Diebstahl, aber der Diebstahl eines Apfels soll nicht verfolgt werden. Die ganze Bewegung wird ob ihrer Kühnheit angestaunt. Welch ein Programm: nur was recht ist, soll Recht sein.

Man wird aus meinen Ausführungen wohl ersehen haben, daß der bon juge mir sympathischer ist als der harte Staatsanwalt. Trotzdem kann ich die Forderung des richtigen Rechts als eine Großtat nicht empfinden. Man lasse sich nicht von einem Sprachinstinkt verführen, der geneigt ist, die Werturteile richtig oder recht ganz abergläubisch auf ein substantivisches Recht, auf das Recht zu begründen. Ist ja nicht wahr. Trotz unserer Erkenntnistheorie und unserer Systematik halten wir es genau so wie die Griechen vor mehr als 2000 Jahren und mengen unsere Werturteile durcheinander. Man versuche doch einmal, sprachlich genau zu unterscheiden, wann wir eine menschliche Handlung recht, gut oder schön nennen sollen. Wir verwechseln die Begriffe nicht nur in liederlichem Sprachgebrauch. Nein, auch ganz prägnant nennen wir oft recht, was schön oder gut ist. Der bon juge spricht frei, durcheinander aus ästhetischen, aus moralischen und aus naturrechtlichen Gründen. Wir sind gar nicht so scharfsinnig, wie wir glauben. In unserm Wirklichkeitserleben[38] gibt es etwas, das wir bejahen; wir nennen es gut, schön oder recht und meinen immer dasselbe: daß es uns gefällt Ein Psychologe würde sagen: daß es Lustgefühle in uns anregt.

Und wenn ich recht strenge gegen mich sein wollte, müßte ich jetzt fragen, ob es richtig war, dem positiven Rechte, d.h. den Gesetzen und den gesetzlichen Ansprüchen, das subjektive Rechtsgefühl auch nur als gleichberechtigt gegenüberzustellen. Was wissen wir denn davon? Was recht ist, was uns an den Handlungen der Menschen und an unserem eigenen Wert-Erleben gefällt und nicht gefällt, das hängt ja nicht von irgend einem geheimnisvollen Abstraktum ab, dem Rechte, das entsteht ja in uns als ein Werturteil notwendig unter dem Banne unseres Wesens und unserer erworbenen und ererbten Gewohnheiten. Schon die alten Skeptiker wußten, daß die Werturteile nicht die gleichen sind bei verschiedenen Völkern und bei verschiedenen Menschen, nicht die gleichen bei demselben Menschen zu verschiedenen Zeiten. Niemand kann definieren, was das ist, das rechte. Und ich hätte wieder einmal kürzer sein und sagen können: wir finden in uns ein undefinierbares Rechtsgefühl, und wir finden draußen gilt definierte Gesetze. Über Beziehungen zwischen diesen beiden Erscheinungen ist nichts zu sagen.

Die Rechtswissenschaft denkt anders. Aber die Zeit wird kommen, wo die Völker einsehen werden, daß die Rechtswissenschaft nur eine Formwissenschaft ist und daß es nicht gut ist, wenn der Richter sich bei seinen Entscheidungen einseitig an die Form halten müsse. Gelingt es nicht in absehbarer Zeit, eine Reform der Rechtswissenschaft herbeizuführen, an Haupt und Gliedern, so könnte es geschehen, daß der Wunsch rege würde, die formale Gesetzeswissenschaft der Juristen ebenso aus dem Zusammenhange der Hochschulen zu lösen, wie dieser Wunsch längst bezüglich der dogmatischen Theologie besteht. Jüngst haben sich freie Juristen und weitblickende Naturwissenschaftler zu einer Agitation für eine solche Reform vereinigt.

Goethe der dezidierte Nichtphilosoph, der abtrünnige Kandidat der Rechte, habe wieder einmal das letzte Wort: »Die Natur bekümmert sich nicht um irgend einen Irrtum; sie selbst[39] kann nicht anders als ewig recht handeln, unbekümmert, was daraus erfolgen möge.«

1

Doch hat franz. droit, besonders in der Mehrzahl, häufig eine viel konkretere Bedeutung als unser Recht; Gebühren, Zölle, Auflagen, aber auch sehr konkrete Einnahmen von bevorrechteten Privatpersonen werden droits genannt; wir müssen dann je nachdem mit Bezüge, Vorrechte, Gerechtsame übersetzen; ganz konkret auch droit des chiens (de l'oiseau), die Eingeweide des Beutetiers, was bei uns weidmännisch Jägerrecht heißt. Übrigens glaube ich, daß unser Kretscham (Dorfschänke) nicht, wie behauptet wird, ein aus dem Slawischen entlehntes Fremdwort ist, sondern eine slawische Umbildung von Gerechtsame.

2

Um die Zeit, da Christian Wolf mit dem Grafen Manteuffel über seine Rückberufung nach Preußen merkwürdige Briefe wechselt, kurz vor dem Regierungsantritte Friedrichs des Großen, schreibt der Philosoph, dem weniger als 20 Jahre nach dem Ansturm der orthodoxen Feinde im Wandel der Zeiten schon materialistische, voltairianische Gegner sich entgegenstellten: »Schmaus (geb. 1690), der Professor Juris Naturae ist, invequieret sich über das jus naturae und lehret, es sei ein Non sens, nennet sich auch selbst einen Professoren non sentis, indem er kein Recht verstatten will, als was die Menschen ihnen selbst ihres Nutzens wegen gemacht.« (Wuttke: Christian Wolfs Lebensbeschreibung Seite 60).

3

Heuchelei des Liberalismus ist es, den Jesuiten diesen selbstverständlichen Satz »cui licitus est finis, etiam licent media« als eine Abscheulichkeit vorzuwerfen. Pascal scheint diese Heuchelei eingeführt zu haben, da er, der Jansenist der Lettres Provinciales, einen Jesuiten sagen läßt: »nous corrigeons le vice du moyen par la pureté de la fin«. Hobbes hat unwidersprechlich gelehrt (De Cive, I. 8): »Quoniam jus ad finem frustra habet, cui jus ad media necessaria denegatur, consequens est: cum unusquisque se conservandi jus habeat, ut unusquisque jus etiam habeat utendi omnibus mediis et agendi omnem actionem, sine qua conservare se non potest.«

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 22-40.
Lizenz:
Faksimiles:
22 | 23 | 24 | 25 | 26 | 27 | 28 | 29 | 30 | 31 | 32 | 33 | 34 | 35 | 36 | 37 | 38 | 39 | 40
Kategorien:

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon