Recht

[637] Recht. Das deutsche Hauptwort Recht bedeutet erstens, wie das lat. jus, eine Befugniß zu handeln oder die moralische Möglichkeit, entweder selbst etwas thun zu dürfen oder zu verlangen, daß ein Anderer zu unserm Vortheile etwas thue oder unterlasse. Eine solche Befugniß wird auch Gerechtsame oder Gerechtigkeit, z.B. Jagdgerechtigkeit, Fahrwegsgerechtigkeit genannt. Zweitens versteht man unter Recht diejenigen Regeln und Vorschriften, welche die Menschen als vernünftig sinnliche Wesen in ihren gegenseitigen Verhältnissen als Richtschnur ihrer freien Handlungen zu beobachten haben. Dasjenige, was mit diesen Vorschriften, die im Allgemeinen auch Gesetze genannt werden, übereinstimmt, bezeichnen wir mit dem Beiworte recht, und die auf dem eignen, innern Antriebe des Menschen und auf seiner Neigung zum Guten beruhende Übereinstimmung der Handlungen desselben mit den Vorschriften des Rechts heißt Gerechtigkeit (justitia). Dem Recht im erstern Sinne stehe der Begriff der Pflicht (s.d.) gegenüber. Sowie das Recht eine moralische Möglichkeit, ein Dürfen begründet, so die Pflicht eine moralische Nothwendigkeit, ein Sollen. Dem Recht des Einen entspricht immer eine Pflicht des Andern, und damit jenem Genüge geschehe, muß diese erfüllt werden. Jeder Mensch soll nun zwar nach dem Gebote der Vernunft olle seine Pflichten aus eignem Antriebe erfüllen, wenn er dies aber nicht thut, so fragt es sich: ob und inwiefern er durch äußern Zwang dazu angehalten werden kann? Dies kann nicht bei allen Pflichten geschehen, und man unterscheidet daher zwischen unvollkommenen, Liebes- oder Gewissenspflichten, deren Erfüllung nicht durch äußern Zwang bewirkt werden kann, und vollkommenen oder Zwangspflichten, unpassend auch Rechtspflichten genannt. Die ihnen gegenüber bestehenden Rechte müssen mit ihnen gleiche Eigenschaften haben, und es gibt daher auch unvollkommene und vollkommene Rechte. Die unvollkommenen Rechte und Pflichten gehören in das Gebiet der Moral, und nur mit den vollkommenen Rechten und Zwangspflichten hat es die Jurisprudenz zu thun. Der rechtliche oder juristische Zwang kann aber nicht von den Berechtigten selbst geübt werden, denn Selbsthülfe ist verboten, sondern er muß von der höchsten Gewalt im Staate ausgehen, welche dazu bestimmt ist, das Recht und die Freiheit des Einen gegen die Verletzungen und Eingriffe Anderer zu schützen. Außer dem Staate gibt es keinen Rechtszustand unter den Menschen, sondern nur einen Gewaltszustand, oder das sehr uneigentlich sogenannte Recht des Stärkern. Es ist aber auch die heiligste Pflicht des Staates, den Rechtszustand, von dem sein eignes Bestehen abhängt, aufrecht zu erhalten und den Hülfesuchenden nicht rechtlos zu lassen. Am allerverwerflichsten ist es aber, wenn ganze Classen von Staatsangehörigen als solche schon für rechtlos erklärt oder gar blos als Sachen betrachtet werden, wie die Leibeigenen und die Sklaven. In einem vernunftgemäß geordneten Staatswesen muß Rechtsgleichheit, d.i. Gleichheit sämmtlicher Staatsbürger vor dem Gesetz, herrschen.

Die Mittel und Wege, sein Recht auf geeignete Art im Staate zu verfolgen, sind sehr verschieden. Das gewöhnlichste Rechtsmittel sind die Klagen (s. Proceß), im engern Sinne versteht man unter Rechtsmittel aber die Anrufug eines höhern Richters, wenn man mit. dem Ausspruche des niedern nicht zufrieden ist, (S. Appellation.) Das Recht im zweiten Sinne wird nach seinem Erkenntnißgrunde eingetheilt in Naturrecht und positives Recht. Unter ersterm, welches auch wol die philosophische Rechtslehre oder die Metaphysik des Rechts genannt wird, aber nicht mit der Philosophie des positiven Rechts zu verwechseln ist, versteht man das Recht aus reinen Vernunftbegriffen, oder die Lehre von den allgemeinen und nothwendigen Bedingungen, unter denen die äußere Freiheit der Menschen im Staate erreichbar ist. Positives Recht hingegen ist Recht aus historischen Thatsachen, oder der Inbegriff derjenigen Wahrheiten, welche in einem bestimmten Staate als Rechtswahrheiten anerkannt sind und demzufolge als solche wirklich gelten. Der Grund alles positiven Rechts liegt also darin, daß eine Nation etwas als Recht anerkennt und befolgt, und darauf haben bei jedem Volke die Sitten und der eigenthümliche Charakter desselben, die Religion und die Staatsverfassung, sowie viele zufällige Ereignisse und Begebenheiten den bedeutendsten Einfluß. Hieraus erklärt sich auf der einen Seite die Verschiedenheit des positiven Rechts bei verschiedenen Völkern, während dos Naturrecht allenthalben ein und dasselbe ist, auf der andern Seite, daß dieses letztere, eben weil es von der Vernunft ausgeht, die Grundlage eines jeden positiven Rechts ausmacht oder doch ausmachen sollte. Das positive Recht beruht seiner Entstehung und seinen Quellen nach theils auf ausdrücklichen, von der höchsten Gewalt im Staate vorgeschriebenen Gesetzen (sogenanntes geschriebenes Recht), theils auf Sitte, Gewohnheit und Herkommen (Gewohnheitsrecht). Es [637] ist ferner entweder einheimisches oder fremdes (recipirtes) Recht, je nachdem es bei dem Volke selbst entstanden oder von einem andern Volke entlehnt ist. Eine solche Aufnahme fremder Rechte hat in den meisten Ländern Europas, namentlich in Deutschland, in Ansehung der römischen und kanonischen Rechtssammlungen und des longobardischen Lehnrechts stattgefunden. Das aufgenommene fremde Recht kann entweder eine unbedingte Gültigkeit erhalten, oder auch blos zur Ergänzung der einheimischen Rechte (subsidiarisch, in subsidium) angewandt werden. Sowol die Aufnahme eines fremden Rechts als auch die subsidiarische Anwendung desselben führen große Übelstände mit sich, und es bleibt immer das Wünschenswertheste, wenn ein Volk unter aus ihm selbst hervorgegangenen und deshalb seinen Ansichten, Sitten und Gewohnheiten am besten angepaßten und in sein Bewußtsein am leichtesten übergehenden Rechtsnormen lebt. Von einem so hoch gebildeten Volke wie dem deutschen sollte man am allerwenigsten behaupten, daß es für eine eigne Gesetzgebung noch nicht reif sei. Und doch ist dies sehr oft von ausgezeichneten Gelehrten geschehen und geschieht noch fortwährend. Diejenigen Rechtsgrundsätze, welche im ganzen Umfange eines Staates Gültigkeit haben, heißen das gemeine, diejenigen, welche nur in gewissen Districten oder Provinzen gelten, das particulare Recht. In Deutschland hat sich aus dem römischen, kanonischen, dem Lehnrechte, den Reichsgesetzen und den eigentthümlichen deutschen Rechtswahrheiten und Rechtsgewohnheiten ein gemeies deutsches Recht gebildet, welches noch heutiges Tages in allen den deutschen Staaten gilt, die nicht eigne Gesetzbücher haben. Hinsichtlich des Gegenstandes, den es betrifft, zerfällt das positive Recht eines jeden Volkes endlich in Staatsrecht und Privatrecht (s.d.). Eine in seinen einzelnen Theilen nach Gründen des innern Zusammenhanges geordnete gründliche und vollständige Darstellung der sämmtlichen Rechtswahrheiten nennt man Rechtswissenschaft (Jurisprudenz), und Den, welcher diese Wissenschaft cultivirt oder ausübt, einen Rechtsgelehrten (Juristen). Die deutsche Rechtswissenschaft umfaßt, außer dem jeder Rechtswissenschaft zum Grunde liegenden Naturrechte: A. Das Privatrecht, mit den Unterabtheilungen des bürgerlichen oder Civilrechts (auch Privatrecht im engern Sinne), des Kirchenrechts, des Policeirechts, des Criminalrechts und des Proceßrechts. B. Das öffentliche Recht, zu welchem gehören: das Staatsrecht, das Regierungsrecht, das Finanz-und Kameralrecht und das Völkerrecht.

Wenngleich im engern Sinne zur Jurisprudenz allein die Kenntniß der in einem Staate geltenden Rechtswahrheiten gehören, so werden doch von einem Juristen auch diejenigen Kenntnisse mit Recht verlangt, welche zum vollständigen Verstehen, zur zweckmäßigen Anwendung und nöthigenfalls auch zur Verbesserung des geltenden Rechts erfoderlich sind. Zum Verständniß der Gesetze ist vor allen Dingen Kenntniß der Sprachen, in welchen sie abgefaßt sind, nothwendig. Da jedes Recht mit dem Entwickelungsgange des Volkes, dem es angehört, und der Gesellschaft, in welcher es sich bildete, und überhaupt mit der ganzen Vergangenheit genau zusammenhängt, so wird eine genaue Kenntniß der Geschichte, insofern sie mit der Entwickelung des Rechts in Verbindung steht, ebenfalls unerlaßlich. Damit ist das Studium derjenigen Alterthümer zu verbinden, welche über die Rechtskunde Aufklärung verbreiten können. In einer noch genauern Verbindung mit der Jurisprudenz steht die Erzählung der Veränderungen, welche mit dem Rechte selbst vorgegangen sind, die Rechtsgeschichte. Sie wird in die äußere und die innere eingetheilt. Jene enthält die Geschichte der gesetzgebenden Gewalt, der juristischen zur Rechtsquelle gewordenen Literatur und solcher Institute, welche auf die Bildung des Rechts Einfluß gehabt haben, während in der innern Rechtsgeschichte die Veränderungen in den Rechtssätzen selber, die durch Gesetze, Literatur und Praxis bewirkte Umgestaltung in den juristischen Lehren dargestellt werden soll. In demselben Verhältniß wie die Rechtsgeschichte zu der Kenntniß des ältern Rechts steht die Kenntniß der bürgerlichen Einrichtungen und Verhältnisse der jetzigen Zeit zu dem Verstehen der in neuester Zeit entstandenen Rechtsnormen. Die Statistik der deutschen Bundesstaaten ist deshalb ebenfalls zu den Hülfswissenschaften der deutschen Jurisprudenz zu zählen. Dahin gehört ferner die Hermeneutik oder die Auslegungskunst und die Kritik, welche letztere die Echtheit der Rechtsquellen und der einzelnen Theile des Textes beurtheilen und die Regeln kennen lehrt, nach welchen die Wiederherstellung des echten Textes zu bewirken ist. Die Bekanntschaft mit den Gesetzen und Rechtsverfassungen anderer Staaten (vergleichende Jurisprudenz) kann dem Rechtsgelehrten für das Studium seines Faches manche Vortheile gewähren, ebenso die Kunde Desjenigen, was bisher zur Beförderung einer wissenschaftlichen Kenntniß des Rechts geleistet ist. Für den Criminalisten ist das Studium der Psychologie und gerichtlichen Medicin wichtig und nothwendig. Allein zur Bildung eines brauchbaren juristischen Geschäftsmannes ist die wissenschaftliche Kenntniß des Rechts immer noch nicht hinreichend, sondern es muß auch die Fertigkeit erworben werden, die erlangten Kenntnisse im praktischen Leben richtig anzuwenden. Diese Fertigkeit wird nun freilich am besten erst durchs Leben selbst erlangt und durch Erfahrung, oft theuer genug, erkauft. Doch hat man auch eigne Disciplinen ausgebildet, um die praktischen Geschäftskenntnisse schon vor dem Eintritte ins Geschäftsleben den Wißbegierigen mitzutheilen. So wird namentlich die Anfertigung von juristischen Aufsätzen, die Referir- und De cretirkunst gelehrt. Die Cautelarjurisprudenz lehrt Vorsicht bei der Abfassung von juristischen Aufsätzen und macht mit den gebräuchlichen und nothwendigen Clauseln bekannt, sowie die Notariatskunst die Form notarieller Instrumente und den Umfang der notariellen Praxis kennen lehrt. Die Form der Ausfertigungen über Gegenstände des öffentlichen Rechts wird in der Staats- und Kanzleipraxis gelehrt. Für den Rechtsgelehrten, welcher auch als Gesetzgeber auftreten soll, ist noch die Politik und die Wissenschaft der Gesetzgebung (jurisprudentia legislatoria) wichtig. Eine kurze Übersicht über das ganze Gebiet der Rechtswissenschaft gibt die Encyklopädie (s.d.) derselben, womit deshalb auch gewöhnlich das Studium begonnen wird. – Rechtsgrund nennt man einen solchen, der sich auf ein Recht stützt. Bei der Verfolgung von rechtlichen Ansprüchen ist der Besitz von Rechtsgründen nöthig. – Rechtsstand heißt der auf das Recht gegründete Zustand gegenüber dem bloßen Besitzstande und der nur thatsächlichen Ausübung gewisser Rechte. – Rechtswohlthaten[638] heißen Begünstigungen, wodurch Ausnahmen vom strengen Recht begründet werden. – Rechtlos und Rechtlosigkeit ist der Name eines Zustandes, in welchem der Mensch keine Ansprüche auf den Schutz der bürgerlichen Gesellschaft mehr hat, wie er in frühern Zeiten durch die Sklaverei begründet wurde, die den Menschen zur bloßen Sache herabwürdigte und in Folge der Erklärung in die Acht (s.d.) gesetzlich eintrat. In civilisirten Staaten kommt dergleichen nicht mehr vor, da sich aus den Beziehungen zwischen Recht und Pflicht ergibt, daß der für rechtlos Erklärte und danach Behandelte dadurch auch seinerseits von jeder Pflicht entbunden würde.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 637-639.
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