[497] Wir nehmen unsern Ausgangspunkt wieder vom lateinischen Sprachgebrauch. Solange Latein die Gelehrtensprache war, hieß das Zufällige contingens; von contingere (cum und tangere),[497] transitiv: berühren, ergreifen, ansteckend oder anstoßend berühren, ein Ziel erreichen, metaph. einen angehen, einem zustehen, mit einem verkehren, einen treffen; intrans.: zutreffen, eintreffen, eintreten (von Ereignissen), passieren. Contingens also: was unter günstigen oder ungünstigen Verhältnissen eintrifft. In diesem Sinne noch klassisches Latein, dann in der Scholastik: zufällig; contingentia die Möglichkeit, daß etwas eintreffe oder nicht. So auch im Französischen contingence und contingent. Ich lasse die unglaublich reiche Wortgeschichte anderer Bedeutungen beiseite (tâche, Takt, Kontingent, integer). Auch die englischen Formen und Wandlungen von contingence. Voltaire, dem inzwischen schon hasard geläufig war, hörte das Scholastische heraus, wenn er (Cand. 29) lachend sagt: »Ils raisonnaient sur les événements contingents ou non contingents de cet univers.« Seltsam genug mutet uns das Wort contingens in den Schriften von Spinoza an.
Wir vermuten sofort, daß Zufall sich um diese scholastische Bildung nicht kümmerte, vielmehr Lehnübersetzung aus klassischem Latein ist. Casus (von cadere) heißt ursprünglich der Fall im Raume (in der Grammatik Lehnübersetzung von ptôsis) dann das Sinken, Stürzen, aber auch der Fall im Sinne von Ereignis, Vorfall, also Zufall. Casu gleich zufällig; casu fieri aut forte fortuna (Cicero). Das Präfix zu, das doch nicht zufällig sein kann, mag in mancher Verwendung an occasio anklingen (günstige Gelegenheit, kairos) ist aber doch silbengemäße Lehnübersetzung von accidens; dieses hat nun schon den ganzen Begriffsinhalt, der uns bei unserem Zufallsbegriff beschäftigen wird: der Zufall im Gegensatz zur Kausalität, per accidens, ex accidenti, der Zufall als das logisch Nebensächliche, denn mit accidens wird bei spätern Autoren symptôma übersetzt, im Sinne der Nebenerscheinung in einer Krankheit, wofür wir jetzt wieder Symptom sagen; aber auch ein Werturteil liegt schon in accidens, wenn es par excellence einen unglücklichen Zufall bezeichnet. (Heute in der französischen Zeitungssprache accident geradezu ein Unfall, wofür im Lateinischen schon accidentia, im Griechischen noch zweideutig symbasis).[498]
Ich möchte noch nach rückwärts die griechischen Vorbilder der lateinischen Worte und nach vorwärts das französische hasard vergleichen. Vorher noch einen Blick auf coïncidence, das, ohne Zufall zu heißen, sich seltsam oft mit dem Zufallsbegriffe kreuzt, dann nämlich, wenn der philosophische Schriftsteller von zwei Tatsachen aussagen will, daß sie ohne Kausalität, also zufällig zusammentreffen. Coïncidenz geht nicht auf irgendein lateinisches coïncidentia zurück und heißt in der Geometrie soviel wie Kongruenz oder auch nur Gleichheit.
Die Lateiner hatten zu ihrer Lehnübersetzung zwei griechische Kunstausdrücke zur Verfügung: symbebêkos und tychê symbainein hieß zusammentreten, zusammenkommen, zutreffen, bei Aristoteles symbebêkos schon terminus technicus für das Zufällige, später symbebêkotôs als Adverb. Die Vorstellung des Fallens fehlt dabei; nicht aber fehlt sie ganz bei tychê von tynchanein eigentlich (von Wurfgeschossen) treffen, dann ein Ziel treffen, sein Ziel erreichen. Glück haben, daher intrans. gelingen, aber auch allgemein: sich treffen, passieren, zufällig da sein; besonders mit dem Partizip des andern Verbums, z.B. tynchanô ôn ich bin zufällig; tychê was den Menschen trifft, Schicksal, Glück oder Unglück, aber apo tychês, kata tychên = zufällig. Für unser Sprachempfinden ist nun eine solche Bedeutungsgleichheit zwischen Zufall, accidens und symptôma daß der Nachweis der Lehnübersetzung fast nicht mehr geführt zu werden braucht; obgleich der ganze Begriff der Lehnübersetzung so neu ist, daß noch Schopenhauer, da er den Begriff des Zufälligen aus dem bloßen Zusammentreffen (ohne Notwendigkeit) erklärt und die Bezeichnungen in den verschiedenen Sprachen zur Erklärung heranzieht (W. a. W. und V. I 550). die Wörter Zufall, symptôma contingens nebeneinander hinsetzt, als ob jedes von ihnen selbständigen Beweiswert hätte; und nicht einmal in historischer Reihenfolge. Achten wir aber genau auf griechischen und lateinischen Sprachgebrauch, so mag wohl die Kontingenz am engsten mit tychêzusammenhängen, casus und occasio mit dem schon erwähnten symptôma das im Verbum sympiptein eine viel reichere Geschichte hat: handgemein werden, zusammenstürzen,[499] zusammenfallen, verfallen, sich zutragen. Accidens ist offenbar Lehnübersetzung von symptôma wird aber schon in alter Zeit (bei Seneca und direkt als Übersetzung aus Aristoteles bei Boëthius) für symbebêkos gebraucht. Das Wort kann nichts dafür, daß accidens in der Ontologie ganz anders benutzt wurde, im Gegensatz zu substantia oder essentia, so daß accidenteitas, d.h. die essentia accidentis, mit dem Zufallsbegriff wenig mehr zu tun hatte; bei Descartes und Spinoza heißt nur das logisch Accidentelle modus, das Zufällige contingens. Im Deutschen haben wir die beiden sichtbaren Lehnübersetzungen: Fall für casus, ptôsis und zufällig für accidens.
Für die internationale Wortgeschichte ist es nun ganz lehrreich, daß höchstwahrscheinlich (nach einer Vermutung von Mahn) ein arabisches Wort zehar, mit dem Artikel azzahar, azzar, altitalienisch zaro zu dem französischen hasard, englisch hazard, (ins Italienische als azzardo zurückgewandert) den ganzen Bedeutungsvorrat des scholastischen accidens mit übernommen hat.
Die Franzosen besitzen freilich eine alte Lehnübersetzung von accidens oder casus, wie man will, wenn man mir nämlich das Recht gibt, einen Fall eine Lehnübersetzung zu nennen, den die Sprachwissenschaft eine Doublette nennen könnte. Chance (von cadentia, wie cheoir von cadere) bedeutete freilich ein Würfelspiel, und ich finde bei Littré einen Beleg aus dem 15. Jahrhundert, der zu beweisen scheint, wie man hasard und chance auseinanderhielt: Quand il cognaist qu'en hasart gist sa chance. Die Vorstellung vom Spiele war wohl die Ursache, daß die Worte la chance livrée fast nur noch den Sinn von alea jacta bekamen. Noch unbrauchbarer wurde chance für den reinen und unparteiischen Zufallsbegriff dadurch, daß es im Spielerjargon mehr und mehr die günstige Chance bedeutete (porter chance); man achte darauf, daß im Deutschen Zufall dazu neigt, wie accident unglückliches Ereignis zu bezeichnen. So war der Weg für das Lehnwort hasard frei.
Interessant ist es nun, daß chance als Spielerausdruck etwa zweihundert Jahre lang ein ganz geläufiges Lehnwort im Deutschen war: Schanze. Schanze im Sinne von Erdwall ist nicht erklärt, Schanze im Sinne des Würfelfalls, also das französische [500] chance, füllt in zahlreichen Redensarten vier Spalten des D. W. Geblieben ist die einzige in die Schanze schlagen, besonders sein Leben; es mag sein, daß der neuere Gebrauch volksetymologisch an den Festungswall mit denkt. Aber die Entstehung scheint mir deutlich aus dem Spieleraberglauben zu kommen. Rompre la chance sagt der Gegner im Spiel, wenn der andere einige Zeit im Gewinn war und dessen Spielerglück, sein Würfelfall, seine cadentia, durch irgend eine Änderung (in der Person oder im Platz) gebrochen werden soll. Man sagte früher auch deutsch: in die Schanze fallen, greifen; Luther hat aber gar wörtlich die Schanze brechen: »denn Gott bricht dem Teufel oft die Schanz und läßt ihn nicht immer treffen«. Noch Opitz sagt (Psalmen S. 44) nicht »in die Schanze«, sondern »sie dürfen um den Rock die Schanze schlagen«. Auch sonst: seine Schanze setzen, die Schanze wird gewonnen, verloren. Hält man fest, daß bei Schanze an ein Spiel gedacht wurde, vielleicht an ein bestimmtes Würfelspiel, so ist der Übergang von werfen in schlagen leicht erklärt, sobald an Stelle der Vorstellung vom Würfelspiel die vom Kartenspiel getreten war. Karten schlägt man auf den Tisch. Für diese Annahme spricht es, daß das Wort Mummenschanz, bevor es mißverständlich für Maskenscherz gebraucht wurde, ein Würfelspiel bedeutete. Bei Wickram findet sich die Zusammenstellung: mummen und karten, und der Mummenschanz wurde bald geworfen, bald geschlagen.
Aus was immer für Gründen, hasard hatte den Zufallsbegriff übernommen. Gewiß bedeutete das Wort zuerst ein Würfelspiel. Ein Bericht aus dem 13. Jahrhundert, nach welchem das Würfelspiel hasart zum erstenmal vor einem Schlosse Hasart (El Azar), bei dessen Belagerung, in Aufnahme kam und daher seinen Namen hatte, ist unkontrollierbar. Das barbarische Wort erbte alle Begriffseinheiten der Griechen, der Scholastiker und nachher der Cartesianer, aller positiven und negativen Begriffseigenschaften, und hatte überdies den Vorteil, sich im Scherz und Ernst zu einer Personifikation besser zu schicken als Worte, die schon an einen Sinn geknüpft waren. Weder von accidens noch von contingens hätte Voltaire so hübsch schreiben können, was Friedrich II. gern wiederholte: »Sa sacrée Majesté le hasard décide de tout.«[501]
Historisch ernsthaft auf den Zusammenhang der ganzen Übersetzungskette mit dem Homerischen potmos oder gar mit dem Sanskritstamm pat zurückzugehen, bin ich außerstande. Genug der Etymologie. Ist es doch ein winziges Beispiel für das Walten des Zufalls in der Sprachgeschichte, daß der Verbalstamm für fallen, nachweisbar zuerst im Griechischen, das Amt übernahm, ein Wort zu schaffen für die Nichtkenntnis einer Ursache; daß die Weltherrschaft Roms, dann das Aufkommen der germanischen Völker und andere Weltgeschichten die zufällige Ursache wurden für eine Übersetzung der griechischen Kultur ins Lateinische, für eine Übersetzung der lateinischen Kultur ins Deutsche. Das ist die Geschichte des deutschen Wortes Zufall. Es hätte bloß vor zweitausend Jahren für den eigentlich negativen Begriff eine Negation gebildet zu werden brauchen, z.B. anaitia (was aber Schuldlosigkeit bedeutete), so hätten wir bei sonst gleichen Weltgeschichten vielleicht ein lateinisches incausativa (plur.) und ein deutsches Ungrund. An solche Negationen hätte manche Personifikation des Zufalls sich nur schwer knüpfen lassen; aber dem ganzen Ausbau des Begriffs hätte der negative Charakter nicht geschadet; auf der Welt kann es nichts Negativeres geben als die Null, und doch hat die Null das abendländische Rechnen umgeschaffen und ist selbst zum Worte für jede positive Zahl geworden (Zero = cifra = chiffre).
Doch wir verlassen die Möglichkeiten und halten uns an das wirkliche Wort. Ich will zunächst einmal von Windelbands Abhandlung »Die Lehre vom Zufall« ausgehen. Trotzdem Windelband an eine immanente Logik zu glauben scheint, wenn er gleich auf der zweiten Seite ausruft: »Diesen verschiedenen Beziehungen muß ein gemeinschaftlicher Begriff zugrunde liegen.« Die Wortgeschichte weigert sich sehr oft, zu tun, was sie müßte. Aber Windelband hat die lange bekannten verschiedenen Beziehungen des Zufalls zum Ursachbegriff, zum Zweckbegriff, zum Gesetzesbegriff und endlich zur Logik überhaupt, sehr gut dargestellt, hat im Zufall nicht nur, wie alle ernsten Philosophen, die Negation[502] der Notwendigkeit erblickt, sondern für dieses Verhältnis auch ein überraschend hübsches Wort geprägt: »Der Zufall ist der Schatten der Notwendigkeit.« Daß Windelband am Gottesglauben mit einer schamlosen Verbeugung vorübergeht, als ob Schopenhauer nie gelebt hätte, soll uns nicht kümmern.
Das erste wichtige Ergebnis ist: daß der Zufall ein relativer Begriff ist, daß es eine absolute Zufälligkeit nicht gibt. Man braucht keine philosophischen Studien gemacht zu haben, man mag den Erkenntnisproblemen gegenüber sogar auf dem Standpunkte des naiven Realismus stehen, und wird doch, wenn mit der Nase darauf gestoßen, zugeben müssen, daß absolute Zufälligkeit sich mit der Vorstellung nicht verträgt, alles auf der Welt habe seine Ursache. Und diese Vorstellung der Kausalität ist ja auch dem naiven Realismus nicht fremd. Nur daß so ein Philister zwar also nicht an den Begriff der absoluten Zufälligkeit glaubt, wohl aber an die Freiheit des menschlichen Willens, die doch in letzter Instanz ebenfalls absolute Zufälligkeit wäre.
Am deutlichsten machen wir uns den Gegensatz zwischen relativer und absoluter Zufälligkeit, wenn wir bei der ersten an zwei Ereignisse oder Tatsachen denken, bei der zweiten an ein einziges Ereignis. Das einzelne Ereignis gehört an irgend einer Stelle immer in die durchaus notwendige Kausalkette; wir nennen es nur zufällig, wenn wir seine Ursache oder seine Motivierung nicht kennen oder nicht beachten. Zwei Tatsachen aber nennen wir in Beziehung aufeinander auch dann noch zufällig, coïnzident, wenn wir die Notwendigkeit jeder einzelnen kennen und beachten. Ein Felsstück fällt in dem Augenblicke auf die Schienen herunter, wo es einen heranrasenden Schnellzug zum Entgleisen bringt. Wir können die Notwendigkeit des Sturzes (nach Zeit und Raum gemessen) sehr gut verstehen, wir müssen sogar die Notwendigkeit nach dem allgemeinen Kausalitätsprinzip zugeben. Ebenso kennen wir genau nach Zeit und Raum den Fahrplan der Eisenbahn. Fiele der Stein eine Meile von den Schienen entfernt nieder, so wäre gar nichts Beachtenswertes geschehen. Fiele der Stein hinter dem Zuge nieder, so sprächen wir von einem glücklichen Zufall. Bringt der Stein den Zug durch ein unglückliches Zusammentreffen[503] in Zeit und Raum zum Entgleisen, so bringen wir die beiden Bewegungen des Zugs und des Steins nicht auf eine gemeinsame Ursache oder auf ein gemeinsames Motiv, mögen wir die Kausalkette zurückverfolgen, soweit wir wollen. Denn der regressus in infinitum, der ja wohl auf Gott führen würde, ist nicht mehr in unserm Denken, nicht mehr in unserer Sprache.
Ich bemerke dazu, daß die Auffassung der Menschengeschichte, die sich gern Weltgeschichte nennt, als einer chronologischen Reihe von relativen Zufällen, daß also die Leugnung historischer Gesetze und die Ablehnung einer Philosophie der Geschichte wortgeschichtlich gar sehr begründet ist. Geschichte ist, was geschieht, quod accidit, ein Accidens also. (Vgl. Art. Geschichte.)
Dazu kommt noch, daß die Geschichte (ursprünglich: das geschieht) im Ahd. und im Mhd. noch casus, eventus bedeutet und in den Redensarten von geschicht, durch geschicht noch lange zufällig heißt. Erek (5, 811) bringt den Gegensatz mit muote (absicht) und von geschichte.
Diese Auffassung des Zufallsbegriffs ist neu nur für den naiven Realismus. Alle klaren Denker haben seit Jahrtausenden ausgesprochen, daß es einen Zufall in der Wirklichkeit nicht gebe, daß der Zufall ein relativer, ein menschlicher Begriff sei, gebildet, unsere Unwissenheit zu verschleiern. Der Philosoph der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Quételet, drückt es so aus: »Le mot hasard sert officieusement à voiler notre ignorance.« Schon bei Spinoza kann man das lesen: »Res aliqua nulla alia de causa contingens dicitur nisi respectu defectus nostrae cognitionis.« Aber der alte Hippokrates hat es, wenn der Satz wirklich auf ihn zurückgeht, schon besser und allgemeiner ausgesprochen: hêmin men automaton, aitia d' oukautomaton. Grundsätzlich gibt es keinen Zufall; einen Zufall gibt es nur für uns. Der Zufall ist ein menschlicher Begriff.
All das ist so oft gesagt worden und ist so einleuchtend, daß alle freidenkenden Menschen im Gebrauche des Zufallsbegriffs übereinstimmen müßten. Zufall bezeichnet zugleich eine Negation und eine Relation. Es ist nicht jedermanns Sache, diese beiden Einschränkungen schon in dem Satze zu begreifen: Zufall[504] ist ein Wort der Menschensprache. Aber jedermann müßte einsehen, daß Zufall die (relative) Abwesenheit einer Ursache bedeutet, daß also Zufall nicht selbst Ursache sein kann. Und doch hat der mächtigste Trieb der menschlichen Sprache, der anthropomorphische Trieb der Personifikation, immer die Neigung gehabt, hinter dem Zufall etwas Wirkliches oder Wirkendes zu sehen, einen Faktor des Geschehens. Wenn wir nur rücksichtslos genug sind, so finden wir den Gott Zufall, sa sacrée Majesté le hasard, nicht nur in scherzhaften und spielerischen Gedichten, nicht nur im Kopfe von traumgläubigen Lottospielern, sondern bei sonst starken und verehrungswürdigen Philosophen. Eigentlich steht Spinoza ganz allein mit seiner unzerreißbar ehernen Kette der Notwendigkeit.
Wir werden nachher, wenn wir den Gegensatz Zufall und Absicht betrachten, erfahren, daß die scheinbar so disparaten Begriffe Zufall und göttliche Vorsehung in einer und derselben Personifikation zusammentreffen. Aber auch hier, wo wir noch den Gegensatz Zufall und Ursache allein im Sinne haben, stoßen wir an die Grenzen von Sprache und Denken, sobald wir das Bild als Bild zu erkennen vergessen, sobald wir über das Anthropomorphische hinaus zu gelangen versuchen. Windelband weicht dieser Gefahr nicht immer aus: ihm ist es eine »Aufgabe aller Metaphysik, jenseits alles Bedingten das Unbedingte zu suchen«, die auf den Begriff der transzendentalen Freiheit »hindrängt« (S. 17). Wir aber glauben, daß in der Wirklichkeitswelt weder eine positive Ursache noch ein negativer Zufall mitarbeitet, daß beide Begriffe nur an die menschliche Auffassung der Wirklichkeitserscheinungen geknüpft sind, und daß es darum vollkommen sprachliche Willkür ist, wenn man bei einem regressus in infinitum die Grenze menschlichen Wissens überschreitet und zu der leeren Worthülse einer letzten Ursache kommt. Es ist sprachliche Willkür, ob man diesen Endpunkt des Denkens, den logischen Standpunkt, den man zum ontologischen Anfangspunkte macht, einen Zufall oder eine Ursache nennen will. Bekanntlich ist auch Kant dieser Versuchung erlegen und hat, wie sein erster starker Kritiker schon rügte, das Kausalitätsgesetz, das nur für die Welt der Erscheinungen[505] gelten sollte, auf das Verhältnis zwischen Erscheinung und Ding an sich denn doch angewandt. Windelband hat ganz fein darauf hingewiesen, daß selbst der vage Ausdruck Kants, der Erscheinung müsse etwas entsprechen, was an sich nicht Erscheinung ist, was also erscheint, – daß selbst dieser vage Ausdruck ein kausales Verhältnis zwischen Ding-an-sich und Erscheinung unabsichtlich verberge. Es überschreitet die menschlichen Grenzen, etwas über den ontologischen Anfangspunkt der Wirklichkeitswelt aussagen zu wollen. Und es ist Wortaberglaube, gar noch die Zufallslaute Ur-sache dahin auszudeuten, daß das Ursein ursächlich, kausal gewesen sein müsse. Als ob es im Plane göttlicher Vorsehung gewesen wäre, Metaphysik in deutscher Sprache abfassen zu lassen. Als ob der Bibelspruch hieße: im Anfang war das deutsche Wort.
Der Gegensatz zwischen Zufall und Ursache schleicht ganz nahe an den Gegensatz zwischen Zufall und Gesetz heran. Mill, der Schöpfer unserer neueren Logik des Naturverstehens, wirft die beiden Gegensätze noch durcheinander: »Zufällig verbundene Tatsachen sind einzeln die Wirkungen von Ursachen und daher von Gesetzen; aber von verschiedenen Ursachen und von Ursachen, die durch kein Gesetz miteinander verbunden sind.« Ich glaube nicht, daß das eine glückliche Fassung des Begriffs sei.
Durch Newtons große Arbeit ist die Bahn einer Kanonenkugel und die Bahn eines Planeten ganz ähnlichen Rechnungen unterworfen worden. Der Ort eines Planeten läßt sich aber mit absoluter Genauigkeit gesetzlich vorausbestimmen; die Kugel wird zufällig um einige entscheidende Meter an ihrem Ziele vorbeifliegen. Was nennen wir in diesen beiden Fällen Gesetz und was Zufall?
Wir sehen dabei von dem Unterschiede zwischen empirischen und deduktiv-mathematisch bewiesenen Gesetzen ab, obgleich bei den ersten der Gegensatz zwischen Zufall und Gesetz, bei den zweiten der Gegensatz zwischen Zufall und Ursache sich in so etwas wie ein System bringen ließe. Ich möchte auf etwas anderes die Aufmerksamkeit richten.
Die Gleichförmigkeiten der Planetenbewegungen waren vorhanden,[506] bevor ein Mensch sie wahrnahm und sie Gesetze nannte. Die Gleichförmigkeiten der Planetenbewegungen waren vorhanden und dienten schon zu richtigen Vorausberechnungen, als diese Gesetze noch mit dem Ptolemäischen Weltsystem falsch und unsäglich kompliziert dargestellt oder erklärt wurden. Die Gesetze der Bewegungen blieben, als Kopernikus das Koordinatensystem, Kepler die Kurve, Newton die Kraft ganz anders bestimmt hatten. Die Ursache nur hatte sich geändert, das Gesetz nicht. Und es ist hoffentlich nicht ein Plan der Vorsehung gewesen, sondern ein relativer Zufall, d.h. unberechenbare Notwendigkeit, wenn die gleichen Fallgesetze Galileis, die Newton zu Sternengesetzen machte, fast zu gleicher Zeit die Ballistik entwickeln halfen, so daß man der fliegenden Kanonenkugel mit Naturgesetzen beikommen konnte. Nun haben wir Bewegungen der Planeten, die keine menschliche Kraft beeinflussen kann, und die doch von Natur keinen Zufall zulassen; und wir haben die Kanonenkugel, der die Menschen mit feinster Mechanik alle gesetzlichen Bedingungen ihrer Bewegung vorgeschrieben haben und die dennoch zufällig an ihrem Ziele vorüberfliegt, wo dann für die Wirkung ein Meter und ein Kilometer oft keinen Unterschied macht. Wir können aus diesem Beispiele sehen, wie sich der Zufallsbegriff (der relative, der der Ursache gegenübersteht) dem Gesetze gegenüber geändert hat. Relativ zufällig nannten wir, wessen Ursache wir nicht kannten oder nicht beachteten. Bei der Planetenbewegung aber, ob wir nun deren Gesetze bloß ungefähr oder mathematisch kennen, gibt es nur darum keinen Zufall, weil unsere Instrumente für Wahrnehmung der Zufälligkeiten nicht ausreichen, weil wir die »zufälligen« Nebenbewegungen der Planeten nicht kennen. Sobald wir, wir auf der Erde, solche kleinere Bewegungen erst bemerkt haben, ruhen wir nicht eher, als bis auch sie in Gesetzesformeln gebracht sind.
Bei der Kanonenkugel nun wäre es sicher möglich, auch die kleinsten Aberrationen mathematisch darzustellen und sie unter Gesetze zu bringen. Daran haben wir aber ein sehr geringes Interesse. Das Interesse will nicht die Erklärung des Fehlschusses, sondern des Treffers. Und der Artillerist ist schon[507] zufrieden, wenn er den Zufall durch eine große Zahl von Treffern praktisch eliminiert hat.
Da haben wir denn bei einer so streng logischen Untersuchung an einer einzigen Stelle gleich nicht weniger als zwei Vorstellungen, in denen wir ein Naturgeschehen ganz beschränkt vom menschlichen, sprachlichen Standpunkte aus verstehen, also doch wohl mißverstehen.
Erstens sind es ja doch wohl Menschen allein, die Gesetze in der Natur finden und aufstellen. Ich fürchte, der Gedanke ist immer noch paradox; und doch weiß ich nicht, wie ich etwas so Einfaches besser als durch die einfache Wortfolge verdeutlichen soll: es gibt keine Ordnung in der Natur, Ordnung ist nur im menschlichen Verstande; Gesetze sind nur, sind erst im menschlichen Verstande. Hoffentlich versteht mich niemand so gröblich falsch, als ob ich nun das, was in der Natur ist, und was uns zur ordentlichen Fassung des Ordnungsbegriffs, des Gesetzbegriffs geführt hat, für minderwertig hielte gegenüber den armen Menschenbegriffen. Wir haben ja nur den Regelmäßigkeiten der Natur (ich weiß, daß ich aus der Tautologie nicht herauskomme) bildlich menschliche Gesetze unterlegt. Das Gesetz ist eine menschliche Hilfsvorstellung.
Seit Hume ist der Gedanke ferner nicht ganz abzuweisen, daß auch der Ursachbegriff Menschenwerk ist, daß wir mit Sicherheit im Verhältnis von Ursache und Wirkung nur die Zeitfolge kennen. Wüßten wir, was die Zeit ist, so würde die Ursache vielleicht zu einer Funktion der Zeit.
Und nun zu diesem ersten Punkte eine Bemerkung, die uns fast unheimlich ein Maskenspiel der Sprache sehen läßt. Wir haben oben den Zufall einen menschlichen Begriff genannt. Nun sehen wir, daß die Gegenbegriffe des Zufalls (Ursache und Gesetz) erst recht menschliche Produkte sind, so daß wir geneigt sein könnten, alles auf einen blitzschnellen Wechsel des Menschenstandpunktes zurückzuführen: sehen wir im relativen Zufallsbegriff nur menschliche Unwissenheit, dann erscheint der Naturlauf als eine Kette, besser als ein Gewebe von Kausalität und Gesetz; sehen wir aber wieder in Kausalität und Gesetz arm[508] menschliche Orientierungsversuche, dann wird der Naturlauf frei von solchen Begriffsketten, dann wird die Natur, wie schon früher Geschichte, zu einem Spiel des Zufalls.
Sodann spielt, wenn wir den Ort des Einschlagens bei einer Kanonenkugel einen relativen Zufall nennen und bald von einem günstigen Zufall (Treffer), bald von einem ungünstigen reden, doch ganz offenbar ein menschliches Werturteil mit, bei dem niemand zweifeln wird, wie doch bei Ursache und Gesetz, daß es mit der Sache selbst nichts zu tun habe: das Interesse. Der Zufall tritt in Gegensatz zu einem neuen Begriff, zu einem ganz grob menschlichen: zum Zwecke. Von einem höchsten Standpunkte der Erkenntnistheorie aus ist der Zweckbegriff nicht menschlicher als der Gesetzesbegriff und der Kausalbegriff; gröber menschlich ist der Zweckbegriff etwa nur, weil ein gesetzter Zweck Absicht, Überlegung, Bewußtsein voraussetzt. Ich komme gleich darauf zurück.
Das menschliche Interesse steckt tief im menschlichen Zweckbegriff. Wir wissen, daß das deutsche Wort Zweck, der Pflock oder das Pflöckchen in der Scheibe, der Zielpunkt also (vgl. Art. Zweck), in der Gemeinsprache wie in der philosophischen Terminologie für telos finis eingetreten ist. Uns kommt es natürlich so vor, als ob der Gegensatz des Zufalls durch Zweck, but deutlicher ausgedrückt würde als durch das griechische telos daß zweckmäßig verständlicher sei als teleologisch. Wird wohl Selbsttäuschung sein. Gewiß ist nur, daß das Jahrtausend christlicher Weltanschauung im Abendlande viel dazu beigetragen hat, die Zweckmäßigkeit (namentlich der Organismen) volkstümlicher, gemeinsprachlicher zu machen und doch zugleich zu einer Stütze des Gottesglauben. Die Teleologie der Griechen, ja selbst die Entelechie des Aristoteles hatte mit Religion so gut wie nichts zu tun. Die Griechen hatten keine religiösen Dogmen. Heute spaltet sich die Bevölkerung des Abendlandes in zwei Gruppen, von denen die eine die erstaunliche Tatsache (ich möchte gerne ein tautologisches Wort vermeiden und kann es nicht), die erstaunliche[509] Tatsache, daß in den Organismen etwas stimmt, daß die Organismen leben können, daß sie Sinne für unsere Sinnenwelt, einen Magen für ihre Nahrung und Atmungsorgane für ihre Umwelt haben, auf Zufall und natürliche Gesetze (d.h. auf beides zugleich) begründet, – von denen die andere einen menschenähnlichen Gott annimmt, der Menschenzwecke bei der Schöpfung dieser Organismen mit menschlicher Weisheit ausführte. Und damit das heilige Lachen über die arme Menschenweisheit nicht ganz aufhöre, sind bei den besten Vertretern beider Gruppen Denkrichtungen vorhanden, die schnurstracks zu der Gegenpartei führen. Die neueste Philosophie des Zweckbegriffs redet von unbewußten Zwecken, die aus unbewußtem Willen und unbewußten Vorstellungen hervorgehen, und will oder kann nicht sehen, daß der Zweckbegriff menschlich ist, absichtsvoll, bewußt, nicht Zweck mehr, wenn unbewußt. Und die neuesten Vertreter eines geläuterten Darwinismus, der Zufall und Naturgesetz zusammenbraut, weisen dem relativen Zufall der Naturgesetze Zielstrebigkeit zu und wollen oder können nicht sehen, daß ein Ziel (telos finis, Zweck) von blindem Zufall, von blinden Naturgesetzen nicht gesehen und nicht erstrebt werden kann.
Und es hieße wahrhaftig zum Kinde werden, das aus seinem Wunderknäuel die Überraschungen abwickelt, die ein gütiger Fabrikant hineingewickelt hat, wollte man nach Spinoza, Hume, Kant und Schopenhauer immer noch den lieben Gott bemühen, Schopenhauers alten Juden, um diese Verwirrung von Zufall und Zweck zu entwirren. Es ist doch wohl kein Zufall, wenn in diese Darstellung das Wort Wunder sich hineinverirrt hat. Man achte wohl auf die Antinomie, zu der die christliche Theologie durch ihre Vorstellung von Gottes Wundern, die sich um jedes Haar auf jedes Menschen Kopfe zu kümmern hatten, hätte geführt werden müssen.1 Das Wunder hebt die Ursächlichkeit der Naturgesetze[510] auf. In der Welt des Wirklichen gibt es keine Freiheit, keine Freiheit des Unorganischen, keine Freiheit des Organischen, auch nicht den sogenannten freien Willen des Menschen. Gäbe es nun einen Gott, der Wunder tut, indem er die Sonne stille stehen heißt oder ein gesundes Haar herunterfallen läßt, so wäre dieser allmächtige Wille der einzige freie Wille auf der Welt, wäre die Willkür, und weil diese Willkür der Ursächlichkeit und den Naturgesetzen schroff gegenübersteht, so wäre dieser Gott gar nichts anderes als der uns schon wohlbekannte personifizierte Zufall. Nun haben wir Ursache und Naturgesetz als menschliche Sprachprodukte erkannt; der alte Jude wäre also, womit ihm vielleicht doch zu nahe getreten würde, nicht einmal ein Wort wie andere, sondern nur die Negation eines menschlichen Sprachprodukts. Aber wir wissen auch schon, daß der Zweckbegriff eine noch gröbere Menschenvorstellung ist als Ursache und Gesetz; und der liebe Gott, der der Ursächlichkeit und dem Naturgesetz gegenüber der reine Zufall wäre in allen seinen Wundern, der casus purus putus, ist als Zweck der Zwecke, als das Bewußtsein aller Zwecke für den Gläubigen wirklich und wahrhaftig die Aufhebung und die Negation alles und jeden Zufalls. Man könnte Hegels Terminologie anwenden und auf diesen Zufall an sich und außer sich eine schöne neue Theologie begründen. Und nicht einmal eine ganz neue Theologie. Der Mißbrauch der Logik hat bereits früher zu einer Negation geführt, die Gott oder Zufall zu nennen eigentlich in das Belieben des Adepten stellen mußte. Und gestellt hat. Man denkt wahrscheinlich zunächst an Hegel, aber die Wirrsal des Zufallsbegriffs reicht viel weiter hinauf, nach Alter und auch nach Ansehen. Bis auf den unklaren Wortgebrauch des Aristoteles geht die Neigung zurück, nur das Allgemeine oder etwa die Mehrheit der Fälle unter den Ursachbegriff zu bringen, jede Einzelheit jedoch als zufällig anzusehen, oder doch wenigstens als behaftet mit singulären, also[511] unwesentlichen, also zufälligen Umständen. Nur der Ideologe Hegel konnte so weit gehen, jedes Zufällige oder Wirkliche als eine Ohnmacht der Natur zu verachten, als einen Abfall der Natur von der Idee. Aber tief im Wesen der Sprache ist es begründet, alles Denken oder sogenannte Schließen auf das Allgemeine oder Wesentliche zu beschränken und unter diesem Banne der Sprache das Allerallgemeinste und Wesentlichste, das Wesen oder das Sein göttlich zu verehren, dagegen aber das Unwesentliche zu verachten und ihm den Spitznamen Zufall zu geben. Aus diesem Sprachaberglauben ist dann ganz logisch der ontologische Beweis für das Dasein Gottes hervorgegangen. Man abstrahierte immer weiter, man verallgemeinerte immer weiter, bis man zum leeren oder absoluten Begriffe des Wesens oder des Seins gelangte; und dieser allerleerste Begriff sollte doch noch unter den Begriff der Ursache gebracht werden, die Existenz sollte Ursache oder Wirkung des Seins sein. Es ist wirklich nicht auszudenken. Das Unbedingte, das Absolute, was nicht mehr erschlossen werden kann, das ist dann am Ende je nach der Gemütsverfassung des sprechenden Menschen entweder ein blinder Zufall oder eine allsehende Gottheit.
Dieser Unterwerfung unter den Logismus der Sprache hat sich leider auch Kant schuldig gemacht; aber doch nur in dem einzigen Punkte, wo unausgesprochen und doch unabweislich der Kausalitätsbegriff von der Erscheinungswelt hinweg auch auf das Ding-an-sich ausgedehnt wird, das Ding-an-sich, das doch schließlich nur die letzte Abstraktion, das unbedingte Sein ist. Jedoch mit dem Vorwurfe, Kant habe aus dem überkommenen Begriff der unbedingten Notwendigkeit eine widerspruchsvolle Vorstellung vom Zufall geschöpft, hat Schopenhauer (W. a. W. u. V. I, 552) unrecht. Schopenhauer hat da einmal leichtsinnig zitiert, und seine Nachschreiber haben ihm allzu sehr vertraut. Kant sagte nicht »Alles Zufällige hat eine Ursache« und fügt nicht hinzu »Zufällig ist, dessen Nichtsein möglich«. Ich setze die Stelle vollständig her; man wird sehen, daß Kant die beiden Sätze ironisch abfertigt. »Der vermeinte Grundsatz: alles Zufällige hat eine Ursache, tritt zwar ziemlich gravitätisch auf, als habe er seine eigene[512] Würde in sich selbst. Allein frage ich: was versteht ihr unter Zufällig? und ihr antwortet: dessen Nichtsein möglich ist, so möchte ich gern wissen, woran ihr diese Möglichkeit des Nichtseins erkennen wollt, wenn ihr euch nicht in der Reihe der Erscheinungen eine Sukzession und in dieser ein Dasein, welches auf das Nichtsein folgt (oder umgekehrt), mithin einen Wechsel vorstellt; denn daß das Nichtsein eines Dinges sich selbst nicht widerspreche, ist eine lahme Berufung auf eine logische Bedingung, die zwar zum Begriffe notwendig, aber zur realen Möglichkeit bei weitem nicht hinreichend ist; wie ich denn eine jede existierende Substanz in Gedanken aufheben kann, ohne mir selbst zu widersprechen, daraus aber auf die objektive Zufälligkeit derselben in ihrem Dasein, d. i. die Möglichkeit ihres Nichtseins an sich selbst, gar nicht schließen kann« (Kr. d. r. V., Ausg. d. Akad. III, 206).
Darin aber hatte Schopenhauer recht gegen Kant, daß die unbedingte Notwendigkeit ein Unbegriff ist. Man muß eigentlich die Notwendigkeit schon personifizieren, wie Spieler und andere Gläubige den Zufall personifiziert haben zu einer sacrée Majesté, um die Notwendigkeit unbedingt, absolut oder so ähnlich nennen zu können. Und so erfahren wir jetzt, daß auch die Notwendigkeit ein relativer Begriff ist, erkennen also etwas spät, daß auch der Zufall, die Negation der Notwendigkeit, relativ sein mußte, daß es immer nur einen relativen Zufall geben konnte.
Wir gelangen also zu einer Antinomie, die natürlich als Widerspruch erscheint, sobald sie in Sprache ausgedrückt wird: nicht nur der Zufall ist nicht in der Natur, ist nur menschliches Denkprodukt, mag er nun Abwesenheit einer Ursache, eines Gesetzes oder eines Zweckes bedeuten wollen; auch Ursachen, Gesetze und Zwecke sind nur Produkte der menschlichen Sprache, sind nicht in der Natur, trotzdem die Kette oder vielmehr das Gewebe, das unzerreißbare Gewebe der Notwendigkeit sicherlich wie über den kreisenden Planeten, so über jedem fallenden Haar auf meinem Kopfe herrscht, ja bis hinunter über jedem Worte und jedem Komma dieses Satzes. Nur der mittelalterliche Wortrealismus, der mit einer Art von ontologischem Beweise Notwendigkeit[513] und Zufall als Gottheiten verehrt, sieht einen Widerspruch, wo der konsequente Nominalismus mir recht gegeben hätte.
Wenn der Zufall wirklich nicht ein rein negativer Begriff wäre, nicht überdies ein Begriff der Menschensprache, wenn Menschenabsicht der alleinige Gegensatz zu diesem Zufallsbegriffe wäre, wenn man zu der Frage ein Recht hätte, ob die Welt aus einem Würfelbecher voll von Atomen, oder von einem menschenähnlichen Schöpfer mit List und Verschlagenheit hergestellt worden sei, dann hätte das altberühmte Gleichnis einen guten Sinn, und die Antwort müßte lauten: das zufällige Herausfallen der Planeten und der Blumen und der Schmetterlinge aus dem großen Würfelbecher sei über alle Maßen unwahrscheinlich, die Herstellung durch einen menschenähnlichen Schöpfer sei höchst wahrscheinlich. Aber so kindlich darf man die Trage wirklich nicht stellen. (Vgl. im Art. Wahrscheinlichkeit die Berechnung der Chancen für den Zufall.) Selbst der Darwinismus hat den Zufallsbegriff da besser gefaßt, anstatt des absichtslosen Zufalls eine Zufallsgeschichte angenommen, anstatt eines Autors der Welt, eines Urhebers oder Dichters, die Entwicklung gesetzt, die ein Auctor oder Mehrer ist.
Wir aber wissen, daß der Zufallsbegriff Menschenwerk ist. Menschenwerk auch der Schönheitsbegriff und der Ordnungsbegriff. Menschenwerk der Gottesbegriff. Menschenwerk der Ursachbegriff. Da ist es für uns der Gipfel wortabergläubischer Menschlichkeit, die Frage auch nur zu stellen und sie nun gar durch ein kindisches Gleichnis beantworten zu wollen: ob der Zufall oder Gott die Ursache der Weltordnung und der Weltschönheit sei.2[514]
1 | Diese gottselige Hyperbel, die so recht dem nüchternen abendländischen Satze minima non curat praetor entgegensteht, findet sich öfter im Neuen Testament: Apostelgeschichte 27, 34, Ev. Lucae 21, 18, am breitesten Ev. Matthaei 10, 29 bis 31: »Kaufet man nicht zween Sperlinge um einen Pfennig? Noch fället derselben keiner auf die Erde, ohn euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupte alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht, ihr seid besser denn viele Sperlinge.« (Bei Lucas: »ein Haar soll nicht umkommen,« woraus wohl unser »kein Haar krümmen«.) |
2 | Zu den Wörtern ohne Sinn, also zu den Scheinbegriffen, wird Zufall schon von einem Autor gezählt, dem man eine solche Freiheit kaum zutrauen sollte. In einem auch sonst lesenswerten Regelbuche der philologischen Kritik, in des Joannes Clericus »Ars Critica« (1697) finde ich unter der Kapitelüberschrift »Voces esse, quibus nulla subjecta est potestas« folgende Worte (I. 328): Hinc factum ut quaedam etiam, quae oculis aut aliis sensibus non usurpemus, nominibus afficiamus, licet nusquam sint, et propter nomina nota cognosci a nobis putemus. Cum quidpiam contingit, cujus causa prorsus ignota est, dicimus factum id esse casu seu fortuna, et rem acu tetigisse putamus, cum tamen in vocibus nullam subjecerimus notionem. |
Buchempfehlung
Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.
70 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro