verbale Welt

I.

[359] Neben der adjektivischen Welt, der allein wirklichen Welt der Erfahrung oder des Sensualismus, gibt es in unserm Denken oder in unserer Sprache auch noch eine substantivische Welt[359] des Seins oder des Raums, die wir als die mythologische Welt und (auf einer höhern Stufe) als die Welt der Mystik kennen gelernt haben; es gibt aber weiter noch eine verbale Welt, die Welt des Werdens. Der Raum ist die Bedingung der substantivischen Welt, die Zeit ist die Bedingung der verbalen Welt. Raum und Zeit unterscheiden sich hauptsächlich dadurch, daß Raum immer nur in Beziehung auf eine bestimmte Zeit verbraucht wird, Zeit aber beinahe wie eine Kraft immer verbraucht wird, sobald etwas geschieht. In den Abgrund des Ursachbegriffs scheint es mir hinabzuleuchten, daß man von Raum und Zeit sagen kann, sie seien die Bedingungen der Erfahrung, Raum sei die Bedingung des Seins, Zeit sei die Bedingung des Werdens, daß man aber in keinem dieser Fälle Zeit und Raum Ursachen nennen darf.

Kant hat diese Schwierigkeit, die Hume wohl gar nicht bemerkte, dadurch umgangen, daß er Raum und Zeit als Formen der Anschauung dem Subjekt allein zusprach, den Dingen-an-sich, die er ja doch für Ur-Sachen hielt, absprach. Aber die Zeit wenigstens, als die Bedingung des Werdens, ist weder vom Subjekte noch vom Objekte loszulösen, wenn man nicht mystisch die Zeit überhaupt wegdenkt. Die verbale Welt sieht nichts als die Art der Wirksamkeit, welche wir die Relationen der Dinge zu uns und die Relationen der Dinge zueinander nennen. Das Werden und Vergehen, also die objektive Welt, befreit vom Aberglauben des naiven Realismus, ist Gegenstand der verbalen Welt: das Wirken; aber auch das Wirken auf uns, das unmittelbar als die adjektivische Welt erfaßt wird, gehört – sobald wir es erst als ein Wirken erkannt haben – ebenfalls der verbalen Welt an. Das Wissen von der adjektivischen Welt, das Begriffsbilden, das Denken oder Sprechen ist verbal.

Der allgemeinste Begriff für dieses Werden, für den Fluß der Dinge, wäre der Begriff der Bewegung. Und da scheint der Ausdruck verbale Welt nicht ganz zu stimmen, weil die Verben nicht immer Tätigkeiten oder Bewegungen oder allgemein Veränderungen bezeichnen, sondern (jetzt wenigstens)[360] ebenso oft Zustände der Ruhe. Ich sagte »jetzt wenigstens«, weil die Vermutung doch nicht ganz abzuweisen ist, daß unsere Zeit- oder Tätigkeitswörter ursprünglich in der Regel eine sinnfällige Tätigkeit bezeichneten, wenn ich auch die weitergehende Annahme alter Sanskritisten nicht zugeben kann, daß alle sogenannten Sprachwurzeln ursprünglich immer solche Tätigkeitsbegriffe gewesen seien.

Ich will auch gar nicht leugnen, daß in dem Ausdrucke verbale Welt (für die Welt des Werdens und unseres Wissens vom Werden) einige Schönheitsfehler enthalten sind. Die eigentlichen Tätigkeitswörter, an welche ich bei der Lehre vom Zweck im Verbum (Kr. d. Spr. III², S. 59) zunächst dachte, haben in der Psychologie der Sprache nicht genau den gleichen Charakter wie die Verben, welche eine Tätigkeit der physikalischen Natur bezeichnen: eine Bewegung z.B. des Wassers, des Schalls, des Lichts oder der Wärme; auch unterscheidet die Grammatik je nach ihrem Standpunkte transitive und intransitive, objektive und subjektive Verben. Zuletzt aber glaube ich doch, daß in allen unsern Sprachen die Verben, welche geistige Tätigkeiten oder gar Zustände der Ruhe ausdrücken, nur Analogiebildungen nach der Form und nach der innern Sprachform der Tätigkeitswörter waren; die Verbalendungen erinnerten daran, daß das Subjekt etwas mache, etwas tue. Und diese unklare Vorstellung verbinden wir immer noch mit allen Zeitwörtern.

Nur nicht mit dem allgemeinsten und darum leersten aller Zeitwörter, mit dem Begriffe sein. Ich kann wieder nicht leugnen, wie es mich in eine sprachliche Verlegenheit bringt, daß dieses allergemeinste Verbum in die verbale Welt nicht hineinpaßt, sondern just ein Synonym der substantivischen Welt ist. Ich kann mir nur so helfen, daß ich mich auf den Sprachgebrauch berufe: wir verlegen die Ursachen der adjektivischen Welt in Substantive hinein, von denen wir die Realität oder das Sein erst dann aussagen, wenn wir von den Relationen dieser dinglichen Hypostasen etwas zu wissen glauben.[361]

II.

Die Einteilung der drei Welten nach den wichtigsten Rede-teileri der Grammatik ist also selbstverständlich nur cum grano salis zu verstehen. Die Unbestimmtheit des grammatischen Sinnes (vgl. Kr. d. Spr. III², S. 1 f.) zeigt sich besonders deutlich darin, daß wir nicht genau sagen können, was ein Adjektiv, was ein Substantiv und was ein Verbum sei; die Logik, die Schullogik nämlich, ist freilich durch eine welthistorisch gewordene Unklarheit des Aristoteles aus der Grammatik hervorgegangen, aber die Grammatik ist dadurch nicht logisch geworden. Dem Ideal logischer Begriffe entsprechen eigentlich nur die Substantive, insofern sie Individuen und dann höhere und immer höhere Gattungsbegriffe bezeichnen. Die Adjektive sind von Hause aus sprachliche Bezeichnungen für Sinneseindrücke oder Empfindungen, sind aber in der Schullogik immer noch als Prädikate von Subsumptions-Urteilen und -Schlüssen gut zu verwenden. Verben jedoch sind im Sinne der Subsumptionslogik gar keine Begriffe, sie bezeichnen, wie wir gelernt haben (Kr. d. Spr. III², S. 59), nicht begrifflich die Summe gleicher oder ähnlicher Wahrnehmungen, sie fassen vielmehr eine Summe fortschreitender Veränderungen unter einem Zweckbegriff zusammen. Von den Verben ist in der Schlußlehre der Schullogik eigentlich nur der Begriff sein sauber zu verwenden, als Copula; und dieser Begriff paßt, wie wir eben gelernt haben, besser in die substantivische Welt als in die verbale.

Nun habe ich eben auch den Formfehler meiner Dreiteilung der sprachlichen Welten zugestanden: daß nämlich ein Zweck im Verbum unmittelbar nur bei den Wörtern für sinnliche Tätigkeiten wahrnehmbar sei, am allerdeutlichsten bei den objektiven Tätigkeitswörtern, deren substantivisches Objekt nur eine tautologische Wiederholung des Zwecks im Verbum ist, z.B.: eine Grube graben, ein Gebäude bauen usw.

Ich verschweige nicht, daß bei meiner Lehre vom Zweck im Verbum der Fehler einer Generalisierung vorlag. Diesen selben Fehler haben aber unsere Sprachen vor mir begangen, da sie nach der Analogie der sinnlichen Tätigkeitswörter eine Unmenge[362] von Zeitwörtern bildeten, denen ein so handgreiflicher Zweck der Handlung nicht unmittelbar oder gar nicht anzuhören war. Ich will den Begriff Zweck im Verbum für einige große Gruppen zu verteidigen suchen.

Die sinnlichen Tätigkeiten eines Menschen werden durch Verben ausgedrückt, welche unzählige mikroskopische Teilveränderungen unter einem Zwecke zusammenfassen, oder das Ganze der Veränderungen von einer sogenannten Endursache ableiten; die Veränderungen in der außermenschlichen Natur, von denen wir als von Relationen der Dinge zueinander etwas wissen, gehen nach dem wissenschaftlichen Sprachgebrauche nicht auf Endursachen zurück, sondern auf sogenannte wirkende Ursachen. Wir glauben aber aus unserer Sprachkritik gelernt zu haben (vgl. die Art. Richtung und Zweck), daß alle Kräfte auch der unorganischen Natur gerichtete Kräfte sind, daß diese sich dem Kausalitätsbegriffe entziehen, daß Richtung in diesem Sinne brauchbar wäre, vorläufig brauchbar, als der lang gesuchte Oberbegriff für die alten Ursachen und die alten Endursachen. Die Sehnsucht unserer Zeit, die der mechanistischen Weltanschauung müde ist, flüchtet gern zu der Vorstellung des Panpsychismus, der ja – ohne den Richtungsbegriff ausgearbeitet zu haben – Teleologie und Kausalität nicht mehr als Gegensätze betrachten wollte. Für eine solche Anschauung scheint es mir nun gar nicht ungereimt, ja sogar notwendig, den Zweck im Verbum von den sinnlichen Tätigkeitswörtern auch auf die unzähligen Zeitwörter zu übertragen, welche irgend ein Wirken der Dinge aufeinander, welche die Relationen der Substantive zueinander bezeichnen. Ich hätte ja anstatt von einem Zweck im Verbum prägnanter, und dieser Erklärung entsprechender, von einer Richtung im Verbum reden können; aber es ist eine gute Probe für neue Gedanken, wenn sie sich durch schlichte Worte ausdrücken lassen; auch war ich vor zwölf Jahren mit dem Richtungsbegriffe wohl noch nicht ins reine gekommen.

Eine andere große Gruppe der Zeitwörter läßt sich so auffassen, daß man den Begriff des Iterativums auf sie ausdehnt; sie sind in alten Sprachen, dann im Türkischen und in vielen[363] afrikanischen Sprachen viel häufiger als bei uns. Es werden da viele oder unzählige Teilhandlungen unter einem Verbalbegriffe zusammengefaßt, der zwar nicht immer eine zweckmäßige Gesamthandlung ausdrückt, aber sehr oft eine biologisch, also teleologisch nützliche Tätigkeit des Organismus (atmen, verdauen). In sehr vielen Fällen haben die Zustandsverben, die keine Bewegung bezeichnen, einen Sinn, der mit dem der Iterativen verwandt ist. Bei vielen Zustandsverben freilich liegt einzig und allein der Zeitbegriff zugrunde; eine Verbindung mit den Iterativen wäre ohne Konstruktion kaum durchführbar. Aber ich kann mich in diesem Zusammenhange damit begnügen, daß die Verben alle bei uns mit Recht Zeitwörter heißen, und brauche mich nicht damit abzumühen, Ordnung zu bringen in die Verwirrung, welche Analogiebildung und Grammatik in die Klassifikation der Verben unserer bekanntesten Sprachen – die Verben der »Wilden« lassen sich sehr oft nicht »indogermanisch« klassifizieren – gebracht haben. Es wäre ein vergebliches Mühen.

III.

Wir haben jetzt in der Zufallsfolge des Alphabets die drei Welten kennen gelernt, welche die Gegenstände unseres Denkens oder unserer Sprache sind. Ich nenne sie (und bin mir der Unzulänglichkeit des dritten Namens bewußt): die adjektivische Welt der Erfahrung, die substantivische Welt des Seins, die verbale Welt des Werdens. Ich fürchte, ich muß noch eine Warnung hinzufügen, damit kein wortgläubiger Leser in Versuchung geführt werde, an eine Trinität von Welten zu denken, an eine Dreiheit, die nur durch ein Wunder zu einer Einheit zurückkehren kann. Ich meine natürlich nur drei Bilder von einer und derselben Welt; ich meine nur drei Sprachen, in denen wir je nach der Richtung unserer Aufmerksamkeit unsere Kenntnis von einer und derselben Welt ausdrücken. Daß die Welt nur einmal da ist und nicht noch ein zweites Mal oder gar noch ein drittes Mal, das habe ich oft und energisch genug zu lehren versucht, gegenüber dem Dualismus, aber auch gegenüber einem[364] falschen, dogmatischen Materialismus, welcher sich Monismus nennt.

Hätte der Sensualismus recht, so wäre der Welt durch eine adjektivische Sprache allein beizukommen; hätte der Idealismus recht, so besäßen wir die Wahrheit, was ich recht genau zu überlegen bitte, in der substantivischen Sprache, in der mythologischen Welt des Seins; hätte die Lehre vom Flusse aller Dinge recht, die man heute Entwicklungslehre nennt, so könnten wir aus der verbalen Sprache, aus unserer verbalen Welt vielleicht zu unserer Überraschung lernen: wie es möglich war, daß der Zweckbegriff in eine zweckfremde Welt hineinkam, durch den Zweck nämlich, der jedem Verbum zugrunde liegt.

Die Wahrheit aber ist bei keiner dieser drei Sprachen allein; sie müssen einander ergänzen (was man so ergänzen nennt, wir kennen kein Ganzes), sie müssen einander helfen, uns ein bißchen in der einen Welt zu orientieren.

Die drei Sprachen oder die drei Welten dürfen einander aber nicht etwa so helfen wollen, daß die schwierige Frage der einen Sprache aus Verlegenheit in einer ganz andern Sprache beantwortet wird. Diese törichte Manier scheint beliebt gewesen zu sein in der Zeit, als die Griechen ihre berühmten und oft so kindischen Sophismen ausarbeiteten. Man denke z.B. an das Sophisma, das unter dem Namen Achilleus bekannt ist. Der schnellfüßige Achilleus kann den Vorsprung der Schildkröte wirklich niemals einholen, – wenn der Preisrichter von der Zeit abstrahiert, sich an eine zeitlose Welt des Raumes hält. Nur besinnen sollen sich die Forscher jeder der drei Welten darauf, daß es jenseits des Gebietes ihrer besondern Welt stets zwei andere Welten gibt, für welche die letzten Ergebnisse der besondern und beschränkten Forschung nicht ganz richtig sind. Diese Besinnung wird immer Bescheidung lehren oder die Sehnsucht nach einem hohem Aussichtspunkte.

Und jetzt bin ich so weit, das höhere Stockwerk jeder der drei neu benannten Welten mit einem altvertrauten Namen bezeichnen zu können. Die adjektivische Welt ist als die Welt des Sensualismus[365] ungefähr gleich der sinnlichen Erfahrungswelt; die unmittelbare und inbrünstige Erfassung dieser sinnlichen Welt kann sich in begnadeten Naturen steigern bis zu einer Welt der Kunst.

Die substantivische Welt ist ungefähr gleich der Welt des Seins, deren Bedingung der Raum ist. Der älteste Aberglaube der Menschen und wohl auch der Tiere ist der Glaube an die Realität der Dinge im Raume; und so abergläubisch wie dieser naive Realismus, so mythologisch ist der Glaube an die Realität oder an die Wirksamkeit der abstrakten Substantive. Unser Denken in substantivischen Begriffen ist Mythologie. Aber das inbrünstige Erfassen dieser Welt des Seins kann sich in begnadeten Naturen steigern zu einer Welt der Mystik, die der Erfahrungswelt gegenüber das höhere Stockwerk ist. In welchem man nicht dauernd wohnen, in welchem man aber ruhig träumen kann.

Die verbale Welt ist ungefähr die Welt des Werdens, deren Bedingung die Zeit ist; die verbale Welt glaubt nicht an die substantivische Welt und begnügt sich nicht mit der adjektivischen Welt; sie sieht in allen Veränderungen, um die allein sie sich kümmert, nur Relationen, Relationen der sogenannten Dinge zu uns und Relationen dieser Dinge zu einander; sie erhebt sich also in der Wissenschaft (von der Erfahrung und von den Dingen), über die adjektivische und über die substantivische Welt. Das Sein wird zum Werden. Und in begnadeten Naturen steigert sich ein inbrünstiges Wissen zu etwas, das der Kunst verwandt sein muß durch unmittelbares Erfassen der Sinnlichkeit und durch den sprachlichen Ausdruck dieses Erfassens, das der Mystik verwandt sein muß durch die Stimmung des Einswerdens mit den beiden andern Welten. Die Welt, deren Bedingung die Zeit ist, glaubt nicht mehr an das Substantiv Zeit. Das Wissen wird zu einer docta ignorantia.

Kunst, Mystik und Wissenschaft sind drei Sprachen, die einander helfen müssen.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 359-366.
Lizenz:
Faksimiles:
359 | 360 | 361 | 362 | 363 | 364 | 365 | 366
Kategorien:

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon