[453] Amphiktyōnen (Amphiktionen, griech., »die Umwohner«), bei den alten Griechen die zu einem Bund (Amphiktyonie) zusammengetretenen Umwohner eines Heiligtums, deren Bundesgenossenschaften später auch politische Bedeutung erlangten. Solche Amphiktyonien gab es zu Argos, Kalauria, Onchestos, auf Delos etc.; die bedeutendste war aber die pyläisch-delphische, die ihre Versammlungen (jährlich zwei) am Demeterheiligtum in Anthela bei den Thermopylen und bei dem Apollontempel in Delphi abhielt und ihre Entstehung auf Amphiktyon zurückführte. Hellas verdankte ihr nicht nur den Schutz seines reichsten und größten Orakels, sondern auch die Erhaltung der Einheit seines religiösen Kultus, während ihr politischer Einfluß in der Blütezeit Griechenlands gering war. Mitglieder dieses Bundes waren ursprünglich die Doloper, Thessalier, Änianen oder Ötäer, Magneten, Malier, Phthioten und Perrhäber, Phoker, Lokrer, Dorier, Böotier und Ionier in Attika und Euböa. Zweck des Bundes war zunächst Schutz der beiden genannten Heiligtümer, gemeinschaftliche Feier gewisser Feste, namentlich der pythischen Spiele zu Delphi, dann aber die Aufrechterhaltung völkerrechtlicher Grundsätze, wie: daß keine der amphiktyonischen Städte von Grund aus zerstört, keiner das Wasser abgeschnitten und keine von dem gemeinschaftlichen Opfer und vom Bundesheiligtum ausgeschlossen werden dürfe. Bei den Versammlungen, in denen jeder der zwölf Stämme zwei Stimmen hatte, vertreten durch die Pylagoren und die auf ein Jahr gewählten Hieromnemonen, wurden Streitigkeiten geschlichtet, bürgerliche und peinliche Verbrechen, besonders Vergehungen gegen das Völkerrecht und gegen den Tempel zu [453] Delphi, bestraft.
Wurde die einer Stadt auferlegte Geldbuße nicht bezahlt, so konnte der Bund mit Waffengewalt einschreiten; dies zeigen die Heiligen Kriege (s. d.). Mit der Zeit wuchs die Anzahl der Mitglieder bis auf 30; immer aber wurden die Stimmen auf die ursprünglichen zwölf Stämme beschränkt, so daß z. B. die Ionier, Dorier und Lokrer zusammen Eine Stimme hatten. Die Amphiktyonie blieb unverändert bestehen bis zum zweiten (oder dritten) Heiligen Kriege, nach dessen Beendigung (346 v. Chr.) auf Betreiben König Philipps die Phoker ausgestoßen wurden; ebenso die Lakedämonier, weil sie die Phoker unterstützt hatten. Dafür traten die Makedonier ein und übten eine Zeitlang den größten Einfluß aus, dann die Ätolier und nach ihnen die Römer, unter denen der Bund allein noch der Abhaltung von Festen diente. Zuletzt wird er in der Zeit der Antonine erwähnt. Sein Aufhören fällt wohl mit dem des delphischen Orakels zusammen. Vgl. Bürgel, Die pyläisch-delphische Amphiktyonie (Münch. 1877).