[885] Chariten (griech., Chárites, schlecht: Charitinnen, lat. Gratiae, Grazien), die Göttinnen der Anmut und alles dessen, was der Natur und dem Menschenleben Reiz und Schmuck verleiht. Hesiod nennt sie Töchter des Zeus und der Okeanin Eurynome mit Namen Aglaia (»Glanz«, die jüngste, die Gemahlin des Hephästos), Euphrosyne (»Frohsinn«) und Thalia (»die Blühende«). Nach andern stammen sie von Helios und Ägle (»Glanz«).
In Athen und Sparta kannte man nur zwei C., dort Auxo (»Wachstumbeförderin«) und Hegemone (»Führerin«), hier Kleta (»Schall«) und Phaënna (»Schimmer«) genannt. Nicht sowohl das sinnliche Leben ist ihr Gebiet, als die geistigern Genüsse, Musik, Tanz, Kunst, Poesie und Beredsamkeit, die durch sie erst die rechte Weihe empfingen, so daß ein Dichter erklärt, er wolle keine Aphrodite, ein andrer, er wolle keine Musen ohne die C. Späterer, mehr reflektierender Zeit galten sie auch als Sinnbilder des Wohltuns, des dankbaren Hinnehmens und Vergeltens. Uralt war ihr Kult in dem böotischen Orchomenos, wo sie unter dem Bilde von drei schwarzen, vom Himmel gefallenen Steinen verehrt wurden; mit ihrem Fest (Charitesia) waren nächtliche Mysterien und musische Wettkämpfe verbunden. Die ältere Kunst stellte sie langgewandet dar; der nackte Typus wurde erst seit der hellenistischen Zeit allgemein. Bestimmte Attribute fehlen den C. meistens, nur ist für sie das gegenseitige sich Anfassen und Umarmen charakteristisch (vgl. Abbildung). Diesem Typus, den auch Canova seinem berühmten Werk gegeben, zeigt die herrliche Gruppe in der Libreria zu Siena. Vgl. Krause, Die Musen, Grazien, Horen (Halle 1871); Robert, De Gratiis atticis (Berl. 1877).