[546] Tiersage, eine Gattung der Sage (s. d.), die von dem Leben und Treiben der Tiere und zwar vorzugsweise der ungezähmten Tiere des Waldes handelt, die man sich mit Sprache und Vernunft ausgestattet denkt. Die Wurzeln der T. liegen in der Natureinfalt der ältesten Geschlechter, die noch in unbefangenem, sei es freundlichem oder feindlichem, immer nahem Verkehr mit den Tieren standen; aus der harmlosen Freude des Naturmenschen an dem Treiben der Tiere, seiner Beobachtung ihrer besondern Art und »Heimlichkeit« entsprang die einfache Erzählung dessen, was er an und mit den Tieren erfuhr und erlebte, und sie eben bildet das charakteristische Merkmal dieser Art Naturpoesie, die zunächst als Tiermärchen bei den verschiedensten Nationen auftritt. Die Tiere werden hier in ihrem wirklichen Leben vorgeführt, aber sie werden mit Gedanken und Sprache ausgestattet und von Trieben geleitet, denen Absicht und Bedeutung geliehen sind. In dieser Verschmelzung des menschlichen und tierischen Elements liegt die Bedingung und zugleich der höchste Reiz aller Tierdichtung. Erhält das Tiermärchen eine ausdrückliche lehrhafte Beziehung auf das menschliche Leben, so entsteht die Tierfabel. Auch diese ist eine Gattung internationaler Naturpoesie; ihre literarische Ausbildung erhielt sie in Europa vor allem durch die Fabeln des Äsopus. Indem sich eine Reihe solcher Tiermärchen und Fabeln um eine der Hauptfiguren dieses Kreises kristallisiert oder sich unter einem leitenden Motiv verbindet, entwickelt sich die Tiersage. In Frankreich, den Niederlanden und Deutschland können wir diesen Vorgang an der allmählichen Ausbildung eines zyklischen Tierepos, dessen Grundmotiv die Feindschaft zwischen dem listigen Fuchs und dem ungeschlachten Wolf bildet, seit dem 8. Jahrh. literarisch verfolgen (vgl. Reineke Fuchs). Das Tierepos will ebenso wie das Heldenepos vor allem durch die Erzählung selbst interessieren; aber die von vornherein gegebene Parallele des Tierlebens zum Menschenleben und der historische Zusammenhang mit der Fabel führt hier zu satirischen Nebenbeziehungen. Die Annahme Jakob Grimms, daß die T. eine uralte Schöpfung germanischer Volksphantasie sei, läßt sich nicht aufrecht erhalten, aber anderseits ist auch der Einfluß mündlich überlieferter Tiermärchen bei der allmählichen Ausgestaltung des Tierepos neben den schriftlichen Quellen nicht abzulehnen. Vgl. Müllenhof in der »Zeitschrift für deutsches Altertum«, Bd. 18, I; K. Krohn, Bär und Fuchs (Helsingf. 1888).