Lieste (Halcyoninae)

[304] Die Lieste (Halcyoninae) unterscheiden sich von den Eisvögeln durch die mehr entwickelten, bei einzelnen sogar sehr ausgebildeten Flugwerkzeuge. Auch ist der Schnabel, welcher dem der Eisvögel im ganzen ähnelt, regelmäßig viel breiter als bei jenem, und ebenso pflegen die Füße stärker und hochläufiger zu sein. Das Gefieder ist lockerer und besitzt nicht die fette Glätte wie das der Eisvögel, prangt übrigens ebenfalls in lebhaften Farben: einzelne Arten gehören zu den prächtigsten aller Vögel.

Afrika, Südasien und Australien nebst den zwischen diesen beiden Erdtheilen gelegenen Eilanden sind die Heimat der zahl- und gestaltenreichen Gruppe. In Amerika und Europa fehlen sie gänzlich. Sie sind mehr oder weniger Waldvögel, und nur die wenigsten bekunden eine Vorliebe für das Wasser. Einzelne sollen zwar mehr oder weniger nach Art der Eisvögel fischen; die Mehrzahl aber kommt hinsichtlich der Lebensweise eher mit den Bartvögeln überein. Viele Arten haben sich vom Wasser gänzlich unabhängig gemacht und beleben die trockensten Gegenden, vorausgesetzt, daß sie nicht baumlos sind; denn Bäume scheinen zu ihrem Wohlbefinden unumgänglich nothwendig zu sein.

Entsprechend den wohl entwickelten Flugwerkzeugen sind die Lieste viel bewegungsfähigere Geschöpfe als die Eisvögel; sie übertreffen selbst die flugbegabtesten unter diesen durch die Leichtigkeit, Zierlichkeit und Gewandtheit ihres Fluges, welcher an den der Bienenfresser erinnert. Von einem erhabenen Sitzpunkte aus überschauen sie die Umgebung mit aufmerksamen Blicken, fliegen, sobald sie eine Beute erspähen, auf diese zu oder ihr nach und kehren wieder zu dem alten Sitzorte zurück. Auf dem Boden sind sie fremd. In der Fertigkeit, das Wasser auszubeuten, stehen sie den Eisvögeln weit nach: mir ist es sogar wahrscheinlich, daß bloß einzelne und auch diese nur ausnahmsweise Fische oder andere Wasserthiere aus dem Wasser selbst herausholen. Die Stimme ist laut und eigenthümlich, das Wie läßt sich schwer mit Worten ausdrücken. Ueber die geistigen Fähigkeiten wage ich ein allgemeines Urtheil nicht zu fällen. Diejenigen Arten, welche ich im Leben beobachten konnte, schienen mir in dieser Hinsicht wenig begabt zu sein: sie bekundeten Vertrauensseligkeit und Schwerfälligkeit, welche nicht auf große Verstandeskräfte schließen ließen; ich muß dem jedoch hinzufügen, daß ich auch Ausnahmen kennen gelernt habe.

Die Nahrung der Gesammtheit besteht aus Kerbthieren aller Art, vorzugsweise aus Heuschrecken und großen Käfern; die stärkeren Arten der Familie vergreifen sich aber auch an Krabben [304] und kleinen Wirbelthieren aller Klassen. Einzelne sind geachtet wegen ihrer Verfolgung der Schlangen; andere stehen in dem Rufe, arge Nestplünderer zu sein. An Raublust kommen sie den Eisvögeln vollständig gleich.

Das Fortpflanzungsgeschäft unterscheidet die Lieste ebenfalls von ihren Verwandten. Die meisten Arten brüten in Baumhöhlen, einzelne in natürlichen Erd- oder Steinhöhlen, und alle bauen ein mehr oder weniger vollkommenes Nest. Das Gelege scheint nicht besonders zahlreich zu sein. Die Eier sind reinweiß und glänzend wie die der Eisvögel.

Die Lieste ertragen die Gefangenschaft leicht und dauernd, weil sie sich bald an ein passendes Ersatzfutter gewöhnen lassen. Man kann sagen, daß sie mehr auffallend als anziehend sind, darf dann aber nicht vergessen, daß auch sie eine innige Freundschaft mit den Menschen eingehen und dahin gebracht werden können, ihrem Gebieter mit größter Liebenswürdigkeit entgegenzukommen und warme Zärtlichkeit für ihn an den Tag zu legen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band: Papageien, Leichtschnäbler, Schwirrvögel, Spechte und Raubvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 304-305.
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