Zweite Familie: Regenpfeifer (Charadriidae)

[240] Als die nächsten Verwandten der Trappen sieht man wohl mit Recht die Regenpfeifer (Charadriidae) an, kräftige, kurzhalsige, großköpfige Vögel von geringer Größe, mit meist kurzem, selten mehr als die Hälfte der Kopflänge erreichendem, an der Wurzel weichem, an der kolbenförmigen Spitze hartem Schnabel, mittelhohen, schlanken, im Fersengelenke etwas verdickten Beinen und meist dreizehigen Füßen, ziemlich großen, schmalen, spitzigen Flügeln, in denen die erste oder zweite Schwinge die übrigen an Länge überragen, und deren Oberarmschwingen zu einem sogenannten Afterflügel sich verlängern, kurzem oder mäßig langem, am Ende seicht abgerundetem, aus zwölf Federn bestehendem Schwanze und dichtem und weichem, glatt anliegendem, weniger nach dem Alter als nach der Jahreszeit verschiedenem Gefieder. In der Wirbelsäule finden sich zwölf, höchstens dreizehn Hals-, neun unverwachsene Rücken-und sieben bis neun Schwanzwirbel. Sieben von den zum Brustbeine gehenden neun Rippenpaaren haben Rippenknochen. Das Brustbein ist ziemlich groß, viel länger als breit, hat einen sehr ansehnlichen Kamm und hinten zwei Hautbuchten; die Gabel ist dünn und wenig gespreizt, das Becken flach, der Handtheil der Vorderglieder lang und schmächtig, stets länger als der Oberarmknochen, das Gerüst der Hinterglieder lang und dünn, der Schädel durch seine hohe Stirne und die weit geöffneten Augenhöhlen, die Hirnschale durch zwei häutige Stellen neben dem großen Hinterhauptsloche ausgezeichnet und der Unterkiefer zum Unterschiede von allen übrigen Knochen luftführend. Die Zunge ist schmal, [240] scharfkantig, vorn ungetheilt, hinten gezähnelt, der Zungenkern knorpelig; der Schlund zeigt keine kropfartige Erweiterung; die Muskeln des Magens sind schwach; die Leber ist mäßig groß, die Milz klein, die Niere lang und groß, der Eierstock einfach usw.

Alle Erdtheile beherbergen Mitglieder dieser Familie, welcher man ungefähr einhundertundzwanzig Arten zuweist. Einzelne von diesen verbreiten sich über weite Länderstrecken, jede scheint aber ein gewisses Gebiet und bezüglich eine bestimmte Oertlichkeit mehr oder weniger zu bevorzugen, mindestens zur Brutzeit eine solche zu erwählen. Beliebte Aufenthaltsorte sind die Küste des Meeres oder die Ufer und sandigen Stellen der Flüsse, Seen und größeren Teiche, nicht minder auch die Sümpfe oder richtiger die Moore und endlich Gebirgshöhen, welche von dem schmelzenden Schnee zwar bewässert werden, aber doch weder Sümpfe noch Moore sind. Auf ihren Wanderungen folgen die einen den Gewässern, streichen also ebensowohl längs der Meeresküste dahin oder in Stromniederungen fort; andere dagegen kümmern sich wenig um das ihnen befreundete Wasser. Während der Brutzeit leben alle Arten paarweise, aber unmittelbar neben einander; gelegentlich des Zuges scharen sie sich zu Gesellschaften, welche zuweilen zu Schwärmen anwachsen können; unter allen Umständen aber hält sich jede Art soviel wie möglich zusammen und vereinigt sich, streng genommen, nur scheinbar mit anderen, indem sie die gleiche Oertlichkeit zeitweilig besucht.

Man ist berechtigt, die Regenpfeifer die beweglichsten aller Stelzvögel zu nennen. Die meisten von ihnen scheinen keine eigentliche Tageszeit zu haben; denn sie treiben sich munter umher, vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen, können also nur gelegentlich stunden-, vielleicht bloß minutenlang schlafen; die einen sind jedoch am Tage, die anderen des Nachts thätiger. Ihr Lauf ist vorzüglich, ihr Flug leicht und schnell; die eine Bewegung wie die andere ermüdet sie wenig. Zum Schwimmen entschließen sie sich ungern; wenn sie es aber thun, erfährt man, daß sie sich auch im Wasser zu Hause wissen. Fast alle Arten lassen ein helltönendes Pfeifen vernehmen und geben während der Paarungszeit trillerartig verbundene Töne zu hören, welche man am liebsten Gesang nennen möchte. Ihr Nest ist eine einfache Vertiefung, welche selten mit wenigen Halmen ausgekleidet wird. Das Gelege zählt drei oder vier birn- oder kreiselförmige, buntgefleckte Eier, nie mehr und nie weniger, welche stets so geordnet werden, daß ihre Spitzen im Mittelpunkte sich berühren. Beide Eltern theilen sich in das Geschäft der Bebrütung, und beide führen ihre Brut, welche sofort nach dem Ausschlüpfen und Abtrocknen das Nest verläßt, anfangs aber von der Mutter noch gehudert wird.

Kerb- und Weichthiere, Würmer und kleines Wassergethier bilden die Nahrung dieser Vögel, welche zu dem schmackhaftesten Wildpret zählen und vielfachen Verfolgungen ausgesetzt sind.

An einem der ersten Abende, welchen ich in einem theilweise verfallenen Hause einer der Vorstädte Kairos verlebte, sah ich zu meiner nicht geringen Ueberraschung von den platten Dächern der Häuser große Vögel herniederfliegen, dem Buschwerke im Garten sich zuwenden und hier verschwinden. Ich dachte zunächst an Eulen; aber der Flug war doch ein ganz anderer, und ein lauter Ruf, welchen einer dieser Vögel ausstieß, überführte mich sehr bald meines Irrthums. Je weiter die Nacht vorrückte, um so reger wurde das Treiben unten in dem vom Vollmonde beleuchteten Garten. Wie Gespenster huschte es aus dem Dickichte der Orangen hervor, und ebenso plötzlich, wie gekommen, waren die Gestalten wieder verschwunden. Ein wohlgezielter Schuß verschaffte mir Aufklärung. Ich eilte in den Garten hinab und fand, daß ich einen mir als Balg wohl bekannten echten deutschen Vogel erlegt hatte, den Triel oder Dickfuß nämlich, das Verbindungsglied zwischen Trappe und Regenpfeifer, den Nachttrappen, wie man vielleicht sagen könnte. Später gab es Gelegenheit genug, den sonderbaren Gesellen zu beobachten; denn ich begegnete ihm oder einem seiner Verwandten, welche sich in der Lebensweise nicht im geringsten unterscheiden, in allen Theilen Südeuropas und in allen Ländern Nordostafrikas, welche ich durchforschte.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 240-241.
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