1. Wissenschaftliche Thätigkeit.

[111] Neben mannichfaltigen Studien so wie neben auf Erwerb gerichteten Arbeiten beschäftigte mich in diesem Zeitraume vornehmlich die Diätetik für Gesunde, für die ich einen eigenen Namen, Hygiastik, gebildet hatte und deren Druck im October 1804 beendigt wurde1.

Nach einer langen Reihe von Jahren nehme ich jetzt diese Schrift wieder vor und bin mit ihr ganz zufrieden. Es spricht sich im Ganzen ein ernster, wissenschaftlicher Sinn, ein freier Geist und ein warmes Gefühl aus; der Vortrag ist da, wo er nicht demonstrativ sein soll, lebhaft und wird an manchen Stellen rednerisch, ohne gekünstelt zu sein; der Inhalt beweist universelle Bildung und eine Belesenheit, die sich nicht prunkend zur Schau stellt, sondern nur da, wo es nöthig ist, sich zu erkennen giebt. Es springt in die Augen, ich wollte keine Katechismusmilch für geistig Unmündige, keine Recepte zum Wohlbehagen für den großen Haufen, sondern ein Werk liefern, welches durch wissenschaftlichen Gehalt, durch Aufstellung umfassender Ansichten und durch Sammlung gediegener Erfahrungssätze eine Lectüre für gebildete Geister werden sollte. Ich finde, daß schon damals die Ansichten der Natur, die noch jetzt die meinigen[111] sind, ihren Grundzügen nach sich in mir entwickelt hatten. Ich versuche, die Principien der allgemeinen Hygiastik aus den Gesetzen, welche die Lebensthätigkeiten und ihren Zustand bestimmen, abzuleiten; aber ich entferne mich dabei bedeutend von der Brownschen Erregungstheorie, indem ich theils die Erregbarkeit nicht für das Charakteristische des Lebens, sondern für eine auch dem Unorganischen zukommende Eigenschaft erkläre, theils bei Reizen und Erregung außer der Quantität überall auch die Qualität beachte. Eben so zeige ich mich, ungeachtet einiger Uebereinstimmung meines Standpunctes mit der Schellingschen Naturphilosophie, keineswegs als Anhänger derselben, denn ich verwerfe geradezu die Methode derselben. Ich bezeichne die Natur als das Product der höchsten Vernunft, erkenne den Organismus des Universums, das allgemeine Leben der Natur, die Einheit des leiblichen und psychischen Lebens, als der verschiedenen Formen eines höheren Begriffes an. Im Widerspruche zur Naturphilosophie nehme ich in allem Endlichen die Herrschaft des Gegensatzes und die Dichotomie an und sage in Bezug auf die gangbare Eintheilung der Lebensthätigkeiten in Sensibilität, Irritabilität und Reproduction: die Vernunft bestimmt uns nothwendig zur Reduction dieser Trinität auf die Einheit, welche unter der Form der Duplicität sich offenbart. Ich erkläre die Psychologie für einen integrirenden Theil der Naturwissenschaft und behaupte, daß sie nicht mehr von unseren Philosophen bearbeitet werden sollte. Indem ich annehme, daß die Seele auch die Fähigkeit besitzt, von in Raum und Zeit entfernten Verhältnissen afficirt zu werden, und daß der Instinct auf Ahnung beruht, sage ich: »der Mensch, als Individuum und als Geschlecht, beschreibt in Rücksicht auf den Glauben einen Cyklus. Das kindliche Gemüth nimmt die Ahnung von Gott und Unsterblichkeit willig an und geht, von ihr geleitet, einen sicheren Pfad. Die erwachende Kraft verschmäht den Glauben und will der Schöpfer ihres Schöpfers werden; was sie nicht begreifen und verstehen, was sie nicht beherrschen kann, leugnet sie; sie will die Tiefen und die Höhen des Universums messen und mißt nur die eigene Schwäche, bis[112] sie endlich bei höherer Bildung zu der kindlichen Reinheit des Sinnes zurückkehrt, die sich nicht schämt, sich dem Glauben hinzugeben, der allein selig macht, d.h. dem Vertrauen auf die durch die Vernunft nicht erweislichen, wichtigsten Wahrheiten, welches einzig und allein im Stande ist, die gestörte Harmonie im Innern des Menschen, die Einheit mit sich selbst und den Frieden seiner Seele herzustellen.« – Mit diesen Worten, die, um nicht mißverstanden zu werden, eigentlich wohl bezeichnender hätten sein müssen, gebe ich zugleich den Gang an, den meine eigene religiöse Ueberzeugung genommen hatte. – Ich bekämpfe das Princip der damals hochgefeierten Makrobiotik und leite den Beweis, daß möglichste Verlängerung des Lebens nicht der Zielpunct des diätetischen Verhaltens sein kann, mit den Worten ein: »Wer wird nicht lieber im sechzigsten Jahre mit dem Bewußtsein, seine Kräfte genutzt, sich veredelt, kräftig und wohlthätig in seinem Kreise auf die Menschheit gewirkt zu haben, die morsche Hülle der mütterlichen Erde zurückgeben, als noch im neunzigsten Jahre ein mattes, egoistisches Leben fortschleppen, welches in seinem ganzen Laufe keine Anstrengung, keinen bedeutenden Aufwand von Kraft und keine der Auszeichnung werthe That enthält?«

Der Verleger des Buches, August Wichmann, war von der Schule her ein genauer Freund von mir, ein Mann von vielen Kenntnissen und gebildetem Geschmacke, nicht allein Polyhistor, sondern auch Polytechniker. Nachdem er in Königsberg den Buchhandel erlernt hatte, ging er als Commis nach Triest, wo er sich in politische Händel verwickelte und eine Zeit lang im Gefängnisse zubringen mußte. Im Jahre 1804 nach Leipzig zurückgekehrt, etablirte er sich, gab aber bald den Buchhandel auf und privatisirte, dichtete, schrieb einige Romane, z.B. den Palmsonntag, malte und dergleichen mehr. Dann arbeitete er als Commis in einigen großen Leipziger Wollhandlungen und machte als solcher Reisen nach Frankreich und den Niederlanden. Durch die Gunst des Leipziger Magistrats (der damals namentlich durch Apel, Stieglitz, Gehler, Blümner ein seltener Verein geistreicher und hochgebildeter, kunstsinniger[113] Männer war) wurde er Steuereinnehmer, verlor nach wenigen Jahren wegen Unordnungen in seinem Amte diese Stelle, privatisirte wieder und verließ endlich Leipzig, um Schauspieler zu werden; als solcher ist er frühzeitig in Mannheim gestorben. – Nachdem er den Buchhandel aufgegeben hatte, kam meine Diätetik in den Besitz der Hinrichsschen Buchhandlung, welche sie im Jahre 1811 als »neue unveränderte Ausgabe« noch einmal auf den Markt gebracht hat.

Uebrigens fing ich um diese Zeit bereits an, Beobachtungen zur pathologischen Anatomie des Gehirns zu sammeln und für das Buch, welches ich zwei Jahre später herausgab, zu verarbeiten.

Fußnoten

1 Die Diätetik für Gesunde, wissenschaftlich bearbeitet von Dr. K.F. Burdach. Leipzig, bei Wichmann. 1804. XXIV u. 296 S. 8.


Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 114.
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