3. Literarische Thätigkeit.

[294] Rehmann hatte seit längerer Zeit den Plan gehabt, eine »russische Sammlung auserlesener Abhandlungen für praktische Aerzte« herauszugeben und ließ 1811 den ersten Band auf eigene Kosten drucken, forderte mich aber auf, mich für die folgenden Bände mit ihm zu verbinden, einen Verleger zu verschaffen und die Redaction zu übernehmen. Indeß mußte dieser Plan eine Aenderung erfahren. Kaum war nämlich jener erste[294] Band gedruckt, als eine darin enthaltene Notiz über den Gebrauch von Bleiweiß in Sibirien zu Verhütung der Empfängniß und zu Bewirkung des Abortus ein böswilliges Geklätsch veranlaßte, das sich wie ein Lauffeuer verbreitete. Da Rehmann in seiner Stellung diesen Beschuldigungen nicht mit Anstand öffentlich entgegentreten konnte, so wollte er den Bogen, der die anstößige Notiz enthielt, umdrucken lassen; allein in ganz Petersburg war nichts mehr von demselben Papiere zu haben, und da nun hinzukam, daß er unser gemeinschaftliches Unternehmen im Sinne hatte, so unterdrückte er den ersten Baud ganz. Er gewann für die herauszugebende Zeitschrift die wenigstens nominelle, Theilnahme des Leibarztes Crichton, der an der Spitze des Civil-Medicinalwesens stand, lieferte eigene und fremde Arbeiten; ich übernahm die Redaction und bemühte mich ebenfalls, Beiträge von Aerzten in Rußland zu gewinnen. Die Herausgabe verzögerte sich bis nach meiner Anstellung in Königsberg und erst im November 1814 schickte ich das Manuscript zum ersten Hefte in die Druckerei; der Druck ging aber so langsam vor sich, daß der erste Band erst im Jahre 1816 beendigt wurde1. Rehmann konnte in Petersburg Niemanden finden, der im Stande und willig gewesen wäre, medicinische Schriften aus dem Russischen ins Deutsche fehlerfrei zu übersetzen und ich mußte mich entschließen, in Königsberg das Russische zu erlernen, wozu ich in Dorpat gar keine Veranlassung gefunden hatte; indeß habe ich in diesem Studium solche Mäßigung bewiesen, daß meine Kenntniß nur eben hinreichte, einige Uebersetzungen für die Zeitschrift zu liefern und darauf mir völlig entschwunden ist. Crichton wollte anfänglich 1000 Rubel als Preis für den besten Aufsatz in jedem Bande aussetzen; Rehmann und ich sollten den Preis zuerkennen. Ich lehnte dies ab, weil es eines Theils mißlich war, Abhandlungen über ganz verschiedene Gegenstände nach ihrem allgemeinen[295] Werthe unter einander zu vergleichen, andern Theils Männer von Ehre uns ihre Beiträge würden entzogen haben, da sie weder öffentlich als Preisbewerber hätten auftreten, noch auch unserem Urtheile sich unterwerfen wollen; »die Theil nahme an unserem Unternehmen,« fügte ich in der deshalb gegebenen Erklärung hinzu, »muß frei und unbeschränkt sein, denn nur in der Freiheit gedeiht die Wissenschaft, und nur das Publikum darf hier Richter sein.« Dagegen trug ich darauf an, daß Preisfragen in gewöhnlicher Form gestellt würden; wirklich wurden auch zwei solcher Aufgaben im zweiten Bande angekündigt, nämlich über russische Volksmittel und über die Typhusepidemie in Rußland von 1812 und 13.

Es waltete aber kein günstiges Gestirn über der Zeitschrift. Es fehlte nicht an Materialien, und eben so wenig an meiner Bearbeitung derselben; aber der Druck schritt äußerst langsam vor, und der Verleger verzögerte ihn wegen des geringen Absatzes, der doch durch eine rasche Förderung wohl stärker würde geworden sein. Er verlangte, daß Crichton die russischen Aerzte zum Ankaufe aufmuntern sollte. Crichton seiner Seits schrieb mir im November 1816, daß er mit dem Journale nicht zufrieden sei und bedaure, seinen Namen mit auf dem Titel zu sehen, da er sehr unbedeutende Aufsätze darin finde; außerdem beschwerte er sich darüber, daß ihm und den Subscribenten die Hefte nicht regelmäßig zukämen, und schob die Schuld auf Rehmann »qui pour un médicin de 40 ans a une tête assez legère.« Dann ließ er mir durch den Leibarzt der Kaiserin Staatsrath Rühl erklären, er könne für die Verbreitung des Journals unter den russischen Aerzten deshalb nichts thun, weil es nicht russisch geschrieben sei. – An eine kaiserliche Belohnung hatte ich von Anfang an nicht gedacht, und meine Ueberraschung war um so größer, als ich 1820, wo ich das ganze Unternehmen beinahe schon vergessen hatte, einen Brillantring erhielt, und zwar, wie der Minister Galitzin schrieb, als Beweis des Allerhöchsten Wohlwollens für die Herausgabe eines Werkes, »dont le principal but est, de faire connaître dans l'étranger les services importans rendus à la médicine[296] par la Russie.« Diese Behauptung war unstreitig erfunden, um mir den Ring zu verschaffen; sie erklärte übrigens, weßhalb das Gouvernement für eine von deutschen Aerzten in Rußland gelieferte Zeitschrift sich nicht interessirte.

Eine andre von meinem eigentlichen Ziele seitwärts liegende Arbeit war die Besorgung einer zweiten Ausgabe meiner Arzneimittellehre. Wenn ein Buch über diese Disciplin schnellen Absatz findet, so hat der Verfasser noch wenig Grund, darauf stolz zu sein, da diejenigen Aerzte, denen die Kunst bloß auf dem Besitze von vielem Handwerkszeuge zu beruhen scheint, nach jedem neuen Buche dieser Art gierig greifen. Indessen dauert es wenigstens einige Zeit, ehe er sich von dieser herben Wahrheit überzeugt; und so nahm denn auch ich die Forderung einer zweiten Auflage als die thatsächliche Anerkennung der Vortrefflichkeit meines Systems, und dieses noch fester zu begründen, hielt ich für ein schuldiges Opfer der Dankbarkeit. Ich arbeitete also im Jahre 1816 den allgemeinen Theil desselben ganz um, so daß er einen eigenen Band ausmacht, und revidirte im folgenden Jahre das Uebrige des Werkes2.

Eine andere Art von Dankbarkeit war es, welche mich verpflichtete einzuwilligen, als Perthes der Sohn einen Nachtrag zu meiner »Literatur der Heilwissenschaft« als dritten Band derselben von mir forderte, um dieses Werk von Neuem in Gang zu bringen, da nicht mehr als 220 Exemplare davon abgefetzt waren, woran der durch den splendiden Druck bedeutend gewordene Preis einige Schuld haben mochte. Ich übernahm es in dankbarer Erinnerung an die 1810 in Wien genossenen Freuden, zu welcher mir die von Perthes dem Vater aufgetragene, allerdings mühselige Arbeit den Weg gebahnt hatte. Um mich aber von dieser Last bald zu befreien, arbeitete ich in möglichster Eile, so daß das ganze Buch, die Literatur der letzten zehn Jahre und ein Sachregister über alle drei Bände[297] enthaltend, binnen zehn Wochen fertig wurde. Dem dritten Bande wurde noch ein eigener Titel beigegeben3.

Der Buchhändler Rücker wünschte eine zweite Auflage von meinem Recepttaschenbuche; da ich indeß nicht mehr, wie damals, als ich dies Büchelchen zusammenschrieb (S. 141), wegen eines Weihnachtsgeschenks für meine Kinder verlegen war, so ließ ich mich nicht daraus ein.

Ersch forderte mich auf, Mitarbeiter an seiner großen Encyklopädie zu werden; ich lieferte ihm einige Artikel für die ersten Bände, und kam dadurch mit dem vielgeschäftigen Manne in einen lebhaften Briefwechsel, sagte mich aber bald von der fernern Theilnahme an jenem Werke los.

Pierers Aufforderung, an der Bearbeitung seines anatomisch-physiologischen Wörterbuchs Theil zu nehmen, lehnte ich ad.

Noch weniger konnte ich mich dazu verstehen, die mir 1819 angetragene Redaktion der Königsberger Kriegs- und Friedenszeitung zu übernehmen, ich weiß nicht, ob ich der Versuchung widerstanden haben würde, wenn der Antrag nach 1840 an mich gelangt wäre.

Meine Hauptarbeit war die Untersuchung des Gehirns. Ich beschrieb im ersten Berichte von der anatomischen Anstalt das untere Ende des Rückenmarks; meine Angaben über dessen Endfaden wurden von Bock bestätigt. Noch zu Ende des Jahrs 1818 beendigte ich den ersten Band meines Werks über das Gehirn4. Ich habe darin unter Anderem eine morphologische Ansicht vom Nervensysteme der wirbellosen Thiere aufgestellt, von der ich mir einbilde, daß sie zu wenig beachtet und nicht widerlegt worden ist.

Außerdem lieferte ich in den zweiten Band der »russischen Sammlung« Aufsätze über die Ansichten der Natur (S. 13-63),[298] über einige in Hinsicht auf Bildung der Stimme von mir angestellte Versuche (S. 149-160) und über die Haargefäße (S. 401-433).

Schon im August 1817 hatte mir Langermann freundschaftlich anvertraut, daß man mir in Berlin nachsagte, meine Vorlesungen trügen das Kleid und die Fesseln der Zeit, wären nur reich an modischen Constructionen, Parallelismen u.s.w. und gäben nicht den einfachen Vortrag des Faktischen, wie er in Berlin gefordert würde. Nun hatte ich zwar allerdings in meinen ersten Vorlesungen über Physiologie in Königsberg die Erfahrung gemacht, daß allgemeine Ansichten meine Zuhörer nicht ansprachen; aber ich war weit entfernt, sie ihnen aufdringen zu wollen, und trug daher schon im Winter 1816/17 die Physiologie zweimal vor, einmal rein empirisch für Chirurgen und Studirende, und sodann für Letztere allein nach den aus der philosophischen Behandlung der Empirie sich ergebenden wissenschaftlichen Ansichten. Indeß wenn einmal ein solches Urtheil gefällt ist, bleibt man gern dabei stehen. In der 1817 geschriebenen Vorrede zur zweiten Auflage meiner Arzneimittellehre nahm ich auch eine billige Beurtheilung meiner Individualität in Anspruch mit den Worten: »jeder Einzelne wirke, wie seine besondere Wesenheit es verlangt: der Eine fasse die Erscheinungen selbst scharf auf; der Andere, dem diese Gabe versagt ist, sammle die Beobachtungen zu Erkenntniß des Begriffs; beide in vereintem Wirken leiten zum Wissen. So tritt ein reines Bild hervor, nachdem das Licht durch zerstreuende und sammelnde Medien hindurchgegangen ist.« Als ich dann dem Minister von Altenstein mein Programm über die Aufgabe der Morphologie geschickt hatte, äußerte er in dem Antwortschreiben sein Bedenken darüber, daß ich nach Seite 64 im Vortrage für diejenigen Studirenden, welche die gesammte Anatomie bereits erlernt hätten, »die allgemeinen Bildungsgesetze aufstellen, die Bedeutung jedes einzelnen Gebildes entwickeln und die mannichfaltigen Formen, unter welchen dasselbe in der gesammten Thierreihe erscheint und fortschreitend sich entwickelt,« nachweisen wollte; er besorgte nämlich, daß dadurch[299] »bei den jungen Leuten Hypothesensucht und vages Raisonnement veranlaßt werden könnte.« Ich begriff, daß unter den jungen Leuten ich selbst gemeint werde, und daß unter dem Herrn Minister Professor Rudolphi zu verstehen sei. Ich antwortete darauf in der Vorrede zum ersten Berichte von der anatomischen Anstalt, die ich mit den Worten schloß: »Das bequeme Kopfschütteln einzelner Herren wird die fortschreitende Gestaltung der Morphologie wahrlich nicht aufhalten.«

Ich wurde 1814 von der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg, 1817 von der deutschen Gesellschaft hierselbst und von der kaiserlichen Gesellschaft der Naturforscher zu Moskau zum ordentlichen, dann von der menschenfreundlichen Gesellschaft in Petersburg und 1818 von der Akademie der Wissenschaften daselbst zum correspondirenden Mitgliede ernannt. 1819 wählte mich die deutsche Gesellschaft zu ihrem Director; als solcher trug ich im folgenden Jahre die Geschichte derselben vor, schilderte ihren gegenwärtigen Zustand ohne alle Schmeichelei, und veranlaßte Beschlüsse zu ihrer neuen Belebung, namentlich durch gesellige Zusammenkünfte zu freiem Austausche der Gedanken, durch Stellung öffentlicher Preisaufgaben, und durch Herausgabe von Abhandlungen.

Fußnoten

1 Russische Sammlung für Naturwissenschaft und Heilkunst, herausgegeben von Dr. Alexander Crichton, Dr. Joseph Rehmann und Dr. K.F. Burdach. Riga und Leipzig, in der Hartmannschen Buchhandlung. I. Bd. 1816. X u. 680 S. – II. Bd. XII u. 764 S. 8.


2 System der Arzneimittellehre von K.F. Burdach. Zweite umgearbeitete Ausgabe. Leipzig in der Dyk'schen Buchhandlund. I. Bd. 1817. XVI und 278 S. – II. Bd. 1818 XIII und 564 S. – III. Bd. 1819. XX und 572 S. – IV. Bd. 1819. XVI und 423 S. 8.


3 Handbuch der neuesten in- und ausländischen Literatur der gesammten Naturwissenschaften und der Medicin und Chirurgie, bearbeitet von K.F. Burdach. Gotha bei Perthes 1828. XVI und 329 S. 8.


4 K.F. Burdach, vom Bau und Leben des Gehirns. Leipzig in der Dyfschen Buchhandlung. I. Bd. mit zwei Kupfern. 1819. IV und 283 S. 4.


Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 300.
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