I.

[137] Ich hatte zuletzt der traurigen Vorgänge des Augustmonats 1845 gedacht, welche auch meiner Familie Verlust drohten und unserm verehrten Königshause so besonders schmerzlich sein mußten. Ist es doch schon in engern Verhältnissen immer ein peinliches Gefühl, wenn man erkennt, wie zwischen an sich bessern und mit manchen Banden aneinander geknüpften Naturen oft Mißverständnisse sich drängen, welche die löblichsten Intentionen vereiteln und viel des an sich Wohltuenden in Schlimmes verkehren; aber wenn dergleichen Mißverständnisse nun zwischen Volk und Fürsten hereinwuchern, wenn dadurch die so unerläßlichen Bande gegenseitigen Vertrauens gelockert werden, während doch beiden Teilen manches Streben nach Edelm und Gutem nicht abgesprochen werden kann, und wenn im Fürstenhause namentlich (wie es mir täglich vor Augen lag) eine so treffliche Gesinnung und ein so reiner Wandel besteht wie in diesem Falle, so übt dieses auf den Betrachtenden unfehlbar immer um so quälendern Einfluß, mit dem auch ich denn wohl mannigfaltig zu kämpfen hatte und mit dem ich um so weniger leicht fertig werden konnte, da niemand noch abzusehen vermochte, wie und wodurch und wann endlich alle diese Gereiztheit und Mißstimmung sich wieder lösen könnte.

Am Ende mußte ich freilich vorderhand all diese Dinge[137] auf sich beruhen lassen, da etwas zu ihrer Änderung zu tun mir nicht gegeben war, und so vertiefte ich mich denn möglichst in meine Arbeiten, feilte noch während des nun rasch vorschreitenden Drucks an der »Englischen Reise«, arbeitete fort an der »Psyche«, verhandelte nebenbei mit Weichart (dem Nachfolger meines guten Gerhard Fleischer) über eine zweite Ausgabe meiner »Physiologie« und hatte zugleich durch ein kürzlich erschienenes französisches Werk – die »Chirognomie« von d'Arpentigny – mich in eine neue Aufgabe tauchen lassen, indem diese Beobachtungen über die Charakteristik der so sehr verschiedenen Handformen sich bald anfingen, in meinem Geiste zu einem neuen Resultat zu konzentrieren, welches später erst in einer Vorlesung und dann in einem besondern Heft mit schönen, zum Teil von Freund Hübner gezeichneten Abbildungen erschienen ist.

Dabei war denn auch in Dresden selbst vielfältige Bewegung. Wir hatten wieder eine Ständeversammlung, und all der politische Sauerteig, dessen ich oben schon gedachte, wirkte in der mannigfaltigsten Art und warf Blasen auf, die in Formen mancher ziemlich glänzenden Reden zersprangen, und zwar doch meist nutzlos und erfolglos zersprangen; ja zuweilen gab wohl auch ein unrichtiges Anfassen der Angelegenheiten durch damalige Minister noch besondern Veranlaß zu teils absichtlichen, teils unabsichtlichen Mißverständnissen, dergestalt, daß ich einmal davon schrieb: »Was möchte sich die Regierung wohl erspart haben, wenn sie manchen etwas seltsamen Erlaß unterdrückt hätte! Daß man nicht lernen will, der Zeit sacht nachzugehen! Und sich nicht hütet, der eben ruhig dahinziehenden Zeit immer wieder einen Klotz in den Weg zu legen, an den sie nun notwendig aufbraust! Aber freilich, das ist eben das Wunderbare einer solchen Periode der Reizung! Gewöhnlich ist es, als wenn dann[138] durchaus niemand ruhig Maß halten könnte, und über all dies bricht denn das Feuer endlich wirklich aus.«

Übrigens war es sonderbar genug, daß dergleichen Aufregungen damals nicht bloß in der Politik vorkamen, sondern daß auch die Kunst, und namentlich die Musik, mit ähnlichen Überstürzungen bedroht werden sollte. Wir hatten seit einiger Zeit hier Richard Wagner als zweiten Kapellmeister bekommen, und alle Welt weiß, daß er – und zwar auch zuerst in Frankreich durch Berlioz dazu inspiriert – die Musik durch und durch zu reformieren den Anlauf nahm. Wie Feuerbach von einer Religion der Zukunft, so träumte er von einer Musik der Zukunft, die denn nun absichtlich etwas ganz Neues, schlechterdings Originales werden sollte, eben mit diesem Absichtlichen aber sich selbst zuletzt den Stab brach, da es nun einmal in der Ordnung der Dinge besteht, daß das wahrhaft Neue organisch wachsen und freiwillig sich gestalten muß, während das künstlich Gemachte es nie zu einer wirklich lebendigen Existenz bringen kann. Natürlich trennte jetzt auch das Publikum sich in zwei Parteien und hatte übrigens hier insgesamt den unleugbaren Vorteil, daß nun die Künstler selbst von beiden Seiten sich anstrengten, jedenfalls etwas Ausgezeichnetes zu leisten, so daß, während aus den älteren Schulen Werke wie Glucks »Armida«, »Iphigenia« und »Alceste« wieder zutage kamen, auf der Seite der Neuen die doch immerhin auch sehr merkwürdigen Werke Wagners: »Rienzi«, »Der fliegende Holländer« und »Tannhäuser« hervortraten und teils durch treffliche Aufführung, andernteils aber zugleich doch auch durch ihre nicht zu verkennende tiefere poetische Grundlage die Aufmerksamkeit lebhaft fesselten.

Ich schrieb damals über diese Dinge: »Der ›Tannhäuser‹ von Wagner ist eigentümlich und neu und in der reichen Ausstattung wohl ein tüchtiges Werk zu nennen – aber[139] bei alledem ist es ein Stück der Tendenz – einer romantischen Tendenz –, und die Musik würde Sie geradezu zur Verzweiflung bringen, denn es bleibt im Grunde unverkennbar und aufs höchste eine Art romantisches Rokoko.«

Indes wie gesagt, auf diesem unblutigen Felde des Kampfes war dem Freunde der Musik doch mancherlei Genuß – wenn auch hier und da mit etwas Ärger vermischt – gesichert, und ich darf wohl sagen, daß ich nicht ohne vielfachen Gewinn durch all dies Hinüber und Herüber gegangen bin.

Was meine Begegnungen mit Fremden betraf, so war diesmal Ranke aus Berlin die hervorragendste Persönlichkeit. Wir fanden uns im Spätherbst zusammen bei der früher erwähnten Gräfin Lehndorf und gerieten sehr bald in eine ziemlich lebhafte Diskussion. Im ganzen schien mir das Negative in ihm vorherrschend, und in diesem Sinne konnte ich einen mehr abstoßenden Eindruck, den er auf mich machte, nicht verbergen. Nichtsdestoweniger sprach aber ein kluger, vielerfahrener und reichbelesener Geist gar sehr aus jedem seiner Worte. – Dahlmann, dessen Buch über die französische Revolution ich nur eben gelesen hatte, würde mich persönlich vielleicht stärker angezogen haben; obwohl es mir in dieser Beziehung oft sonderbar genug gegangen ist, indem zuweilen Menschen, die mich anfänglich fast abstießen, späterhin gerade mir sehr lieb geworden sind, während das Gefühl einer ersten leichten Anziehung, mitunter sogleich des Verwandten zu viel voraussetzen läßt, dann aber dadurch, daß man das Unzureichende der Nachwirkung erkennt, unmittelbar in das Gegenteil umschlägt.


Das Jahr 1846 brach nun an, und auch an seiner Stirn glänzte wieder am 3. Januar als leuchtender Stern eine[140] prächtige Aufführung des »Orpheus« von Gluck, am Flügel dirigiert durch den damaligen Musikdirektor Hiller und gesungen von der Devrient, mehrern Sängerinnen vom Theater und einem Dilettantenchor, wobei unsere Karoline und Eugenie. Wohl hatte ich den »Orpheus« früher auf dem Theater gehört, aber erst diese von allem Tand der Szene entkleidete und doch so außerordentlich vollendete Darstellung gab die rechte Gelegenheit, die prachtvolle Größe und Einfachheit einer solchen Musik nicht nur zu bewundern, sondern auch zu begreifen. Es war wirklich etwas Übermannendes, alle Hörer Entzükkendes in diesen Tönen und bewegte zumal mich in tiefster Seele; ahnungsvoll vielleicht zum Teil, denn welche Gestalten aus meinem Leben noch scheiden zu sehen war mir bestimmt, aber ohne daß ich vermocht hätte, sie aus dem finstern Orkus zurückzuführen!

Während alles dieses war indes nun nicht nur der Druck der englischen Reise vollendet und das Buch von mir an manche Freunde versendet worden, sondern es befand sich auch bereits der größere Teil der englischen Übersetzung in meinen Händen. Ich erhielt denn damals unter andern auch von dem trefflichen von Lindenau zwei lange Briefe über meine englischen und schottischen Schilderungen, bei denen er fast Schritt für Schritt meinen Betrachtungen gefolgt war und größtenteils meinen wenigen statistischen und staatsökonomischen Bemerkungen seine Zustimmung aussprach. Zumal wo der Menschenfreund eintritt, wurde sein Herz warm. So z.B. bei meinen Schilderungen der großen Fabrikstädte schreibt er: »Wenn Ihrer gerechten Bewunderung jenes kolossalen Fabrikbetriebs mitunter doch auch trübe Bemerkungen beigemischt werden, so sind mir diese aus der Seele geschrieben, da ich vom heutigen Gewerbsverkehr, bei dem die Maschinen Haupt-, die Menschen Nebensache sind, nicht Wohlfahrt des Volks,[141] sondern nur dessen physisch-moralische Verkrüppelung erwarten kann – eine Ansicht, welche durch die englischen, schlesischen und belgischen Zustände zur Genüge belegt wird!«

Die »Psyche«, über deren Herausgabe ich nun verfügt hatte, wurde jetzt noch einmal für mich abgeschrieben, vieles darin nochmals durchgesprochen; und da Rietschel sich eben auch noch einmal an meinem Kopfe versucht und in einem lebensgroßen Medaillon jedenfalls das ähnlichste Bild von mir gegeben hatte, so sollte der Stich einer verkleinerten Kopie desselben den Titel dieses Werkes zieren, welches, indem es unter den eigentümlichsten Konstellationen und unter der gedachten eigen schönen Wechselwirkung entstanden war, ich wohl in vieler Hinsicht als das mein Wesen ganz besonders Bezeichnende und somit als am entschiedensten mein eigen und mir zugehörend betrachten durfte. Und unter solchen Vorbereitungen gingen denn die ersten zwei Monate dieses Jahres vorüber, im März aber schrieb ich an Regis: »›Der Frühling ist kommen, der Winter ist aus!‹ – so sang uns gestern abend die Devrient als den Schluß eines schönen Liedes von Schubert! Und so ist es wirklich! Dieses gewaltige Vordringen der Natur mahnt mich an so manches in meinem eigenen Leben, was auch so unaufhaltsam – wenn auch nicht immer so vorzeitig, manches sogar erst sehr spät – hervordrang! In allen diesen Dingen ahnt man das wunderbare organische Walten eines höhern Mysteriums und läßt sich in eigentümlichem Selbstaufgeben und doch zugleich Selbstwahrnehmen und Selbstgewinnen so allmählich mit dahinschwimmen!« – Worte, in welchen ich wohl eigentlich zum erstenmal das Bedürfnis aussprach, dem Spiralgange meines eigenen Lebens, dessen Erfahrungen seit der Zeit der englischen Reise sich jetzt wieder so vielfach vermehrt hatten, nun auch einmal eine eigene[142] Aufzeichnung zu widmen, welches nun in Wahrheit durch Niederschreiben der ersten Bogen dieser »Lebenserinnerungen« im Frühjahr 1846 sich anfing zu verwirklichen.

War es doch damals überhaupt eine Zeit, welche sich viel mit Darstellung der Entwicklungsgeschichte bedeutender psychischer Individualitäten beschäftigte! Neben dem, was mich, wie gesagt, antrieb, jetzt mit meinem eigenen Leben mich zu beschäftigen, wurde namentlich über Goethe viel gedacht und geschrieben. Nach Riemer trat Schöll auf und brachte sehr frühe Briefe von jenem Außerordentlichen; Briefe, aus denen jeder Einsichtige bald erkennen mußte, daß ein Gewächs, welches mit solchen Keimen die Erde durchbricht, später zur kräftigen Palme bestimmt sein müsse und nicht bloß Wiesenblumen tragen oder ein Busch für Zäune werden könne. Selbst ein Brief von Friederike von Sesenheim wurde jetzt noch bekannt und versetzte ganz in die erste idyllische Periode des Dichters. Das kurioseste Buch aber brachte jedenfalls ein junger Mann, Karl Grün (»Über Goethe vom menschlichen Standpunkte«), und zwar aus Paris! Dem Verfasser fehlte es nicht an glühender Liebe für den Dichterfürsten, aber tollerweise stellte er ihn jetzt so ziemlich an die Spitze des Kommunismus und mißverstand ihn natürlich in den meisten Beziehungen vollkommen. Ja endlich gehörte es mir auch mit zu diesen Goethe-Erläuterungen, daß mit vorrückendem Frühjahr wieder der »Faust«, und zwar großenteils mit der Musikbegleitung des Fürsten Radziwill, zur Aufführung kam, denn konnte ich auch hier keineswegs alles billigen, so war doch an vielen Stellen ein guter Geist deutlich fühlbar und mein Interesse dafür somit lebhaft genug.

Von sonstigen Novitäten nahmen mich ferner Speckters Buch über Italien1 und Bürcks »Ulrich von Hutten« in[143] Anspruch. Das erste, zwar noch etwas jung und breit, war doch aber mit großer Lebendigkeit, Frische und Naivität geschrieben, so daß es die schönen Bilder aus den Jahren 1828 und 1841 mir wohl lebhaft wieder hervorrufen mußte, wobei ihm übrigens noch besonders zugute kam, daß wirklich diese Briefe nicht für den Druck geschrieben waren, sondern erst zehn Jahre nach dem Tode des Verfassers erschienen, als wodurch denn das Naturwüchsige und Einfache derselben entschieden gefördert erschien. Was den »Ulrich von Hutten« betraf, so war er durch Einfügung vieler originaler Stellen aus seinen Reden und Briefen besonders anziehend. Ich hatte früher zufällig gerade nie etwas Ausführlicheres über ihn gelesen und fand mich daher eigen überrascht von diesem Geiste. Dieser Hutten ist eigentlich der Heilige all unserer spätern Publizisten und Journalisten! Er vertrat in der damaligen Zeit im guten Sinne die Stelle der meisten dieser Schreier, war jedoch an sich so viel tüchtiger, mannhafter und zugleich so viel mehr persönlich für seine Meinung einstehend als die meisten Neuern; etwas von der unsteten breiten, überall sich eindrängenden modernen Art schlägt jedoch unverkennbar auch bei ihm schon deutlich durch.

Übrigens regte sich noch sonst viel Neues in diesem Jahre in Dresden. Besonders gab der Plan für das projektierte Galeriegebäude viel zu denken und zu sprechen. Professor Semper, ein frischer produktiver Geist, dem wir bereits die originelle Schöpfung des Theaters verdankten, der auch durch die schönen Privatbauten für die uns befreundete Familie Oppenheim sowie durch die Ausführung der Synagoge und des Frauenspitals sich ausgezeichnet hatte, entwarf drei Pläne, die er die Güte hatte, unter andern auch mir nach und nach vorzulegen, und deren immer einer schöner war als der andere. Der erste Entwurf[144] zeigte das neue Museum der Brühlschen Terrasse gegenüber, auf mächtigen Substruktionen an dem Neustädter Elbufer – ein wahrer Prachtbau –, doch diese Schätze freilich etwas weit aus der Mitte der Stadt und vom königlichen Schlosse entfernend. Der zweite stellte in sehr pitoresker Weise diese Bauten an der nordwestlichen Seite des Zwingers dar. Der dritte endlich schloß den Zwinger selbst vollständig ab, indem er das Hauptgebäude des Museums dahin setzte, wo, den alten Plänen nach, damals das königliche Schloß hatte hinkommen sollen und wo dafür lange Zeit nur eine hohe einförmige Mauer den Platz der Orangerie abgrenzte. Letzterer Plan war jedenfalls der am meisten praktische, und man sieht ihn denn jetzt auch im ganzen schön und geschmackvoll ausgeführt zu aller Freude.

In diesem Sommer erhielt ich nun auch die ersten Nachrichten über die endlich ans Licht gezogenen Briefe Goethes an Frau von Stein, und zwar durch den Kanzler von Müller, welcher noch einmal auf einige Tage nach Dresden kam. Die meisten derselben (es waren nur Goethes Briefe, die eigenen hatte Frau von Stein verbrannt) waren durch Schöll im engsten Kreise beim Großherzoge vorgelesen worden, Müller selbst hatte sie, durch Krankheit abgehalten, nicht gehört, allein schon das, was ihm darüber mitgeteilt worden, hatte ihm die bestimmte Überzeugung gegeben, es sei hier das wichtigste und gehaltvollste Material für den Einblick in Goethes innerste Geistesentwicklung geboten, was mich denn um so mehr spannte, als ich nicht lange zuvor einen Brief von Frau von Stein aus ihren späten Jahren abgedruckt gefunden hatte, wo sie von ihrem »ehemaligen Freunde« in einer Weise schreibt, daß es ganz den Eindruck macht, als könne sie Goethe doch überhaupt nie im vollsten Sinne des Worts geliebt haben. Natürlich aber ging mir dann auch weiter daraus[145] hervor, daß sie ebensowenig in Goethe die volle Begeisterung entzündet haben werde, welche ich nach frühern Nachrichten wohl vorausgesetzt hatte. Später freilich, als mir die Briefe wirklich zu Händen kamen, habe ich in mancher Beziehung doch anders darüber denken lernen, wovon denn noch weiter unten das Nähere. Kanzler von Müller versicherte mir übrigens, jenes Verhältnis sei überhaupt mehr als ein abstraktes und nicht als ein absolutes zu denken, was vielleicht abermals einiges Weitere erklären dürfte. Auch für die Kestnerschen Briefe Goethes an Lotte brachte er Aussicht zur Veröffentlichung; eine Hoffnung, die indes doch erst sehr viel später sich realisieren sollte.

Als eine dankenswerte Reminiszenz dagegen erschienen damals schon die Briefe Goethes an den Sohn jener Frau von Stein, worin wieder sein Wesen von einer ganz neuen Facette gesehen wird. Und so »ging es und geht es noch heute« mit Goethe wie mit dem Boden Italiens! Jedes Jahr förderte und fördert neue bisher ungekannte Schätze seines Wesens zutage!

Den Hochsommer dieses Jahres (Juli und August) verlebten wir wieder in Pillnitz, und vieles traf zusammen, diesen Aufenthalt diesmal zu einem der schönsten zu gestalten. Schon die Meinigen waren erfreut, daß nun mein zweiter Sohn Wolfgang, nach manchen auch mir sorgenvoll und erschwerend gewordenen Studienjahren, als Doctor philosophiae aus Leipzig zu uns zurückkehrte und jetzt in einen mehr geordneten Lebensgang sich zu finden schien.

Achtzehnmal haben sich mir nun schon die Sommer hier wiederholt, vielfach ist es in mir, ist es in der Welt anders geworden in dieser Zeit, aber noch keinen so schönen, so in sich vollendeten Sommer habe ich erlebt als den diesjährigen. Gereift ist für mich wieder manches in diesen[146] hier verlebten Wochen, der Inhalt des Lebens ist in vieler Beziehung ein höherer und größerer geworden, und mit nachhaltigem Dankgefühl richtet an so vielem Schönen mein Geist sich auf zum höchsten ewigen Mysterium der Welt.

Gemalt habe ich diesmal hier nur ein paar kleine Studien, dafür darf ich sagen: wesentlich habe ich gelebt – mich am Schönen erfreut – wir haben viel zusammen gelesen – mitunter Musik gehört und manche angenehme Partie gemeinsam ausgeführt, aber alles das wird spätern Arbeiten im besten Sinne zugute kommen!

Dafür gab es in Dresden selbst in den ersten Herbstmonaten allerhand Bewegungen, und zwar teils im Felde der Kunst, teils in dem der Wissenschaft. In ersterer Beziehung trat ein neues Element heran, mit welchem eine Reaktion gegen die bisher fast allein herrschende Düsseldorfer Schule sogleich verbunden erschien – es war die Ankunft und Einrückung des Direktors Julius Schnorr von Carolsfeld, ebendesselben, von dem ich im Beginn dieser Lebensschilderung sagte, daß wir als Knaben uns in Leipzig einst schon befreundet gewesen waren. Ich schrieb damals über dies für Dresdens Kunstleben wichtige Ereignis: »Schnorr ist nun hier eingeführt, und die Künstler haben ihm ein großes Fest auf der Terrasse in dem neuen schönen Saale gegeben, woran ich teilnahm. – Sonderbar! Die entschiedenste Opposition gegen Bendemann und Hübner hebt sich nun sogleich in vielen hervor! Geht es doch nicht anders bei dem stets heftig bewegten Treiben dieser Zeit! Kein ruhiges Geltenlassen verschiedener Tüchtigkeit nebeneinander ist mehr möglich! Kaum ist die eine erhoben, so tritt eine andere heran, und schon möchte man die erste stürzen.«

Eine willkommene Erholung war es unter all diesen vielfachen Vorbereitungen aber jedenfalls, als gegen den beginnenden[147] Winter hin mir die eben erschienenen Briefe von Goethe und Jacobi in die Hände fielen. Ich schrieb damals darüber: »Es sind doch wieder ganz prächtige Sachen darunter. Denn indem die große gesunde Natur Goethes sich merkwürdig von der des stets etwas kränklichen Jacobi abhebt, tritt das Bild beider Charaktere wieder mit neuer Deutlichkeit hervor. Eigene Gedanken hat mir gegeben, was Jacobi als Kritik über den ›Tasso‹ an Goethe schreibt; – welch seltsames verzogenes Spiegelbild warf hier ein so ausnehmendes Werk in diesen sonst doch lieben und edeln Geist! Ich traf da neulich einmal beim Prinzen Johann mit unserm alten Oberhofprediger von Ammon zusammen, der diesen Briefwechsel auch schon gelesen hatte (wie ihm denn überhaupt nicht leicht etwas von neuern Memoiren ungelesen bleibt), und da ließ ich mir nun von ihm über Jacobi selbst noch vielerlei erzählen, den er früher öfters gesehen hatte. Das Bild, das er von ihm gab, stimmte sehr mit dem, was ich mir schon aus dessen Schriften geformt hatte. Auch von Goethe erzählte er manches, z.B. wie er ihn in Göttingen bei Schlözer gesehen habe, wo er eben mit einer Dame sich über Bratöfen unterhielt(!!). Wir wären denn wohl beide nicht gerade neugierig auf die Bekanntschaft dieser Dame gewesen, obwohl es mich sehr gefreut haben würde, dem Gespräche ungesehen zuzuhören.«

In seiner Antwort teilte Regis völlig meine Ansicht über jene Briefe, die auch er sogleich gelesen, dabei schrieb er mir nebenher von dem etwas konfusen Urteil, das ihm ein dortiger alter Arzt über meine »Psyche« ausgesprochen hatte. Ich erwiderte ihm:


»Es ist wohl sonderbar! – Schiller sagt einmal:


Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort

Das schwer sich handhabt wie des Messers Schneide!
[148]

Aber manchmal ist das Alter noch weit rascher bei der Hand mit seinen Entscheidungen, die doch oft so sehr verknöchert und verkümmert sind!« Und wie oft habe ich noch späterhin Gelegenheit gehabt, in solcher Beziehung Erfahrungen zu machen; denn von jeher waren die Naturen selten, welche noch bis in die Eisregionen des Alters den lebendigen Blick und ein frisches Gefühl sich zu erhalten imstande blieben!

Und gerade hier nun komme ich dazu, das Scheiden einer solchen Seele, die eine so schwere Aufgabe in selten schöner Weise gelöst hatte, in diese Blätter einzuzeichnen!

Schon seit Anfang dieses Dezember nämlich sorgten wir uns um meine Mutter. Am 8. Dezember früh vier Uhr verschied sie ... Eine seltsame Lücke ist in meinem Hause! Das kleine Stübchen, in welches ich beim Fortgehen und Wiederkommen nie verfehlte zuerst einzutreten, steht leer! Gestern begab es sich, daß der Hund, den meine Kinder seit ein paar Jahren halten (ein schönes großes russisches Windspiel), in das Zimmerchen kam, während meine Karoline (die besonders treue Pflegerin meiner Mutter) darin war. Das Tier wanderte überall umher, schnüffelte am Sofa und allen Stühlen und setzte sich dann mitten in die Stube und heulte aus Leibeskräften! Wunderbare Abspiegelung tiefster menschlicher Empfindungen selbst an der Oberfläche einer Tierseele!

Das alte Jahr schloß ich somit in trauriger Weise, und das Jahr 1847 schien mir in einem andern Farbentone heraufzusteigen, seit ich die Stimme meiner Mutter entbehrte. Konnte daher außer der treuen Liebe der Meinigen etwas beitragen, diese Entbehrung doch endlich einigermaßen verschmerzen zu lassen, so war es die geistige Einwirkung unserer nachbarlichen Freundin Frau von Lüttichau, deren Freundes- und Trostesworte oft schon Tieck so bedeutend empfand und der ich es insbesondere[149] verdanken durfte, daß selbst ein solcher Schmerz meine Arbeiten nicht auf zu lange Zeit lähmte!

Um dem Leser einen Begriff zu geben, wie eigentümlich in dieser Seele Welt und Verhältnisse sich zu spiegeln pflegten, so lasse ich übrigens hier ein paar Betrachtungen folgen, die wahrscheinlich bald nach dem Tode von Dorothea Tieck niedergeschrieben worden sind und an welche ich später noch einiges Ähnliche anreihen zu können hoffe:

»Jedesmal beim Tode eines geliebten Menschen erleben wir das, was vielleicht künftig sich uns vorbereitet. Ein großes mächtiges Blatt tritt gleichsam geistig uns vors Auge, und das ganze Stück Leben, was uns mit ihm zusammenband, steht da; alles Längstvergessene, die kleinsten Züge, die längstvergangenen fast am deutlichsten, die ganze Erscheinung mit geisterhafter Deutlichkeit, unsere innigsten Beziehungen zu ihm, die geheimsten Fäden, aus denen alles zusammengesetzt war, werden uns klar, Liebe – und Vergehungen an dieser Liebe auch – allein es schmilzt doch harmonisch ineinander, denn wir verstehen nun alles, wie es zueinander gestellt war – und wie im Zeitmaß, im Rhythmus, so gibt es ungeheuere Pendelschwingungen in unserm Leben, die nach Zeitabschnitten von Jahren wiederkehren, wo wir dieselbe große Geisterglockenuhr schlagen hören – die uns längst bekannte und vertraute –, und es ist, als hätten wir unterdessen geschlafen, und wir hören deutlich, was es an der Zeit ist, und die Uhr geht vorwärts und nicht rückwärts, sie hat auch nicht stillgestanden, und wir fühlen alles, was in dem Zeitmaß liegt.«

Ein andermal schreibt sie: »Ich weiß nicht, bin ich hartherziger wie andere Menschen: ich verstehe nicht die Vorwürfe, die sich so viele machen, wenn sie jemand durch den Tod verloren haben, und daß einem da der Mensch[150] plötzlich anders und mehr im Recht erscheine als bei seinem Leben. Man verkennt ja niemand willkürlich und tut eben nur, was man kann in allen Dingen. Ebenso also wie man sich nicht zu loben hat, wenn man seine Kinder gut erzogen oder seine Eltern gepflegt hat, braucht man sich nicht allerhand Skrupel zu machen über alles, was man versäumt hat oder hätte tun können. Wenn man jemand geliebt hat, hat man nichts versäumt, und wenn man ihn nicht geliebt hat, hat es unfehlbar mit an ihm gelegen, und auf eine Lüge, die man gut durchgeführt hätte, brauchte man schwerlich sich viel zugute zu tun, daher stellt sich alles somit immer nur in das rechte Verhältnis.«

Und so reihe ich hier auch noch einen für alle tiefer gehende Naturanschauung mächtigen Satz an, den ich selbst um diese Zeit einst niedergeschrieben hatte und der sich in einer Abschrift der genannten Freundin allein vollständig erhalten hat:

»Jeder weiß, daß man nicht einen Tropfen Eiweiß, geschweige denn einen Tropfen Blut, aus Kohlenstoff, Stickstoff, Wasser- und Sauerstoff zusammensetzen kann, und so mit allem Organischen! – Sie sind eben! – Wir können sie wohl zerlegen und zerstören, aber nicht wieder schaffen. – Glaubt ihr denn nun, daß es nicht auch in unserm Geiste organische Erkenntnisse gibt, die man als seiend annehmen und finden muß – und zu deren Begriff man nie kommen wird aus anderm?

Eine solche Erkenntnis aber ist die der Seele – der Idee – des Geistes – ja zuhöchst Gottes! Du mußt all diese nehmen als Totalitäten, als Ganze und Ursprüngliche! Kannst du das nicht, so versuchst du ganz vergeblich, aus mechanischen, chemischen oder physikalischen Kräften dir irgend etwas der Art zusammenzusetzen! Immer wirst du nur ein Kunststück – ein Artefakt erhalten, aber nie ein lebendiges Ganzes.«[151]

Doch ich kehre nun zur weiteren Schilderung meines Lebensganges zurück! – Im übrigen wurde meine angestrengteste Tätigkeit gefordert, teils für eine damals gerade äußerst ausgebreitete ärztliche Praxis, teils für die Überarbeitung der »Physiologie« für die neue Auflage. Hierzu kam nun noch, daß der Verleger der »Psyche« mir schrieb: es sei unerläßlich, daß vor Ostern 1848 noch eine zweite Auflage auch dieses Buches gedruckt werde, womit er zugleich das dringende Ansuchen verband, demselben noch ein Seitenstück in einer »Physis« zu geben.

Von der weiten und mannigfaltigen Wirkungsweise der letzteren kam mir übrigens im März dieses Jahres insofern wieder ein merkwürdiger Beleg zu, als ich von einem Pastor Schulz, dessen ich schon oben als eines eifrigen Lesers meiner Arbeiten gedenken konnte, einen größern wohlausgeführten Aufsatz in der »Protestantischen Kirchenzeitung« erhielt: »Über das Verhältnis der Psyche von Carus zum Christentum und dessen Dogma«, ausgestattet mit einer Menge hierher zu beziehender Bibelstellen, dessen im ganzen verfolgte Gedanken in nachstehendem Schlußresultat sich von dem Verfasser zusammengestellt fanden: »Wir erkennen bei diesem theologischen Überfluge, daß sich diese Psychologie zum Christentum durchweg positiv, zur systematischen Theologie mehr negativ verhält, und es wäre daher wohl sehr an der Zeit, daß die ganze theologische Systematik nach physiologisch-psychologischen Forschungen einmal vollständig umgearbeitet würde« – Ansichten, welche ich denn natürlich gänzlich auf sich beruhen lassen mußte und welche mich um so weniger nahe berühren konnten, da meine Verehrung und mein Verhältnis zur Christuslehre und der von ihr ausgehenden großen Menschheiterneuerung als in meinem Sinne wesentlich im Innersten der Gefühls- und Willensregion festgestellt, stets von systematischen[152] Streitigkeiten und Systembauten der Theologen am liebsten sich ferngehalten hatte.

Nachdem ich somit im Vorhergehenden mancher Wirkung meiner Arbeiten nach außen hin gedacht habe, muß ich doch auch darüber etwas ausführlicher mich verbreiten, wie nun eben damals zugleich eine neue Literaturperiode sich entwickelte, und mitteilen, inwieweit ich selbst etwa von daher eine besondere Einwirkung erfuhr, obwohl ich im allgemeinen der Wahrheit gemäß sagen darf, daß ich für mich nur wenig des letztern zugestehen kann, indem meine frühern Berührungen mit Goethe und mein späterer langjähriger Verkehr mit Tieck mich allerdings in so vieler Beziehung minder empfänglich gegen diese modernen Einflüsse gemacht hatten.

Für Dresden konnte man aber damals Gutzkow, dessen bestes Stück »Uriel Acosta« in diesem Jahre zuerst hier aufgeführt wurde, gewissermaßen als Repräsentanten einer solchen neuern Periode betrachten, und späterhin reihte sich, obwohl in einer wesentlich abweichenden Richtung, Auerbach ihm an, während Gräfin Ida Hahn, zu jener Zeit auch einige Jahre hier lebend, doch im ganzen für die Literatur zu keiner tiefer greifenden Geltung gelangte. Das Merkwürdigste, wodurch sich insbesondere diese Neuzeit unterschied, war nun, daß man es hier eigentlich mit einer Art von Geschäftsmännern zu tun hatte, welche sich allerdings wesentlich dichterisch produzierend verhielten, zugleich aber als Zeitungsredaktoren zu Stimmführern öffentlicher Meinung sich zu erheben suchten, im Politischen die Opposition namentlich zu vertreten pflegten und übrigens durch buchhändlerische Spekulation gelegentlich auf Wohlhabenheit oder selbst Reichtum ihr Absehen richteten. Der Name, der sie fortan überall bezeichnete, war der der Literaten, und über den Begriff dieses Wortes kam ich eigentlich zuerst bei[153] Gelegenheit der damals eben erschienenen Schrift Gutzkows »Öffentliche Charaktere« mit mir selbst aufs reine und schrieb dann bald nachher den späterhin in der »Mnemosyne« abgedruckten Aufsatz »Über den Begriff des Literaten«.

Dabei möge man auch noch beachten, daß, so wenig der Spätergeborene ganz das eigentümlich Frische und Lebendige jener großen Periode nachfühlen kann, wo von Weimars Zwillingsgestirn ein neuer poetischer Frühling über Deutschland heraufgeführt wurde, er ebensowenig auch vermag, die eigene unheimliche und beengende Empfindung sich ganz zu vergegenwärtigen, welche allen Bessern sich aufdrängen mußte, als nach und nach sich nicht verbergen ließ, daß jene Begeisterung im Volke allmählich abzuklingen begann, dafür aber eine neue Literatur, die Literatur der Literaten, nun die Länder überflutete und bald an manchen Verwirrungen sich beteiligte, welche in der folgenden Zeit so schwere Ausbrüche herbeigeführt haben, obwohl alle solche Anflüge doch das wahrhaft Große nie verdecken können, vielmehr diesem nach und nach zur Folie dienen werden.

Was mich betraf, so wurde mir diesmal das verlängerte Pillnitzer Leben um so leichter, weil mir die Stille und das Ungestörtsein in meiner Wohnung auf dem Schlosse gar sehr zugute kam, um die wichtigen Arbeiten für die zweite Ausgabe der »Physiologie« nachdrücklich zu fördern. Dabei reizte mich zu vielfältigsten Betrachtungen die so noch nie beobachtete Phantasmagorie des Herbstes. Er war oft wild und stürmisch genug, und doch diese eigenen Leidenschaften und Melancholien der Natur! Dem, der sie mit geistigem Auge erfaßt, haben sie ja alle eine wunderbare Schönheit! Sonderbar, unsere Landschaft hat das Merkwürdige eines Charakters, dem erst nach der überstiegenen Höhe des Lebens die volle Glut des Gefühls[154] aufgeht! Sie zeigt im Frühjahr uns nur ein einförmiges Hellgrün (die salad-days der Kleopatra), im Sommer dann wandelt sie sich in schwärzlich staubiges Grün (gleichsam verstimmt und überlebt), und nun erst im Herbst dringt die Glut des Rot und Orange und das leuchtende Gelb hervor – kurz, alle Farben des Feuers brechen in Wahrheit erst dann durch, so daß eine Waldung nun selbst bei trübem Wetter völlig wie von Abendsonne angeglänzt erscheinen kann. Fast wie Goethe dort im »Diwan« sagt:


Unter diesem Schnee und Eise

Rast ein Ätna dir hervor!


Ich habe all diesen Modulationen mit anhaltender Bewegung gefolgt! Gibt es doch eine nur durch ein reines Fühlen gezeitigte Reife der Seele, in welcher wir erst wahrhaft geeignet werden, den tiefen gottbestimmten Einklang des Geistes so mit dem Walten der äußeren Natur wie mit verwandten Geistern vollkommen zu begreifen und zu empfinden!

Anfang November fand sich endlich alles wieder in der Stadt zusammen, und ohne besondere äußere Ereignisse lebten wir uns nach und nach in den Winter hinein, scheinbar äußerlich ruhig, aber unter dem Boden dröhnte es dumpf fort, und manche Anzeichen deuteten auf eine tiefe Gärung in den Gemütern, von der freilich damals noch niemand glaubte, daß Ausbrüche solcher Heftigkeit, wie wir sie schon im nächsten und übernächsten Jahre erleben sollten, damals so nahe bevorstehen könnten.

Nächstdem kamen jetzt auch wieder Nachrichten von unserm Tieck, welchem in diesem Spätherbst noch das Schwere aufgespart blieb, den Tod seiner alten vielgetreuen Freundin, Gräfin Finkenstein, erleben zu müssen,[155] und wir gedachten seines Kummers um so mehr, als jetzt eben auch alle, die an echter Kunst Freude gehabt hatten, kurz zuvor (Anfang November) durch den schnellen Tod Mendelssohns (dessen »Elias« ich eben kurz zuvor zum erstenmal gehört hatte) in innere Trauer versetzt waren. Ich schrieb damals an Tieck den neuerlich auch von Holtei abgedruckten Brief: »Jeder Glockenschlag des Todesläutens geliebter oder verehrter Menschen rührt immer eigentümlich an dem Vorhange, welcher die großen Geheimnisse der Seele und alles Lebens verhüllt – nicht, daß er den Vorhang zu heben vermöchte, aber er durchzittert ihn mit einer Ahnung von dem, was er verbirgt, es wird deutlicher in uns, daß hinter ihm wie vor ihm nur ein Leben und ein Geist sich betätigen könne, und indem die Träne aus unserm Auge sinkt, wird sie dann zugleich zum Tau, welcher wieder in sich eine neue Freudigkeit als Blüte erschließt, und das ist es dann, was wir den eigentlichen Trost nennen dürfen.« Sollte ich doch später selbst noch oft an diese Worte gedenken!

1

Erwin Speckter, Briefe eines Künstlers über Italien (2 Bde.).

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 137-156.
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