III.

[63] Hier ist nun auch der Ort, ausführlicher zu gedenken, wie die Art des Studiums der Krankheit zu jener Zeit einen vom naturgemäßen in vieler Beziehung, abweichenden Charakter großenteils, ja fast überall zeigte. Die Mangelhäftigkeit und das halb nebelhaft rohe, halb ausgetrocknet Abstrakte damaliger Physiologie machte mit voller Gewalt sich auch in der Pathologie geltend. Anstatt daß dem jungen Geiste zuerst und hauptsächlich nur das Konkrete dargeboten werden sollte (denn eben dieses Einzelne, dies den Sinnen scharf und unmittelbar Entgegentretende – es kann doch gefaßt, es kann auch von dem Kurzsichtigen erkannt werden), so liebte man es, gewisse abgezogene Begriffe aufzubauen und mitzuteilen und davon Befriedigung des Wissens zu verheißen! – Wir wurden mit viel Irritabilität, Sensibilität und Reproduktion und der Einteilung der Krankheiten nach diesen Momenten gequält, lange bevor wir wußten, wie im einzelnen eine Zelle entstehe, ein Nerv reizbar sei und eine Faser sich zusammenziehe! Wir sollten uns die Lehre von den sogenannten nächsten Ursachen der Krankheiten, welche eigentlich die Krankheiten selbst wären, einprägen, und doch waren die einfachst sinnlich wahrnehmbaren Elemente eines Krankheitsprozesses und noch fremd, und so vieles dieser Art!

Was die Naturwissenschaften betraf, so möchten sie vielleicht nicht in dem Maße damals meinen Geist erfaßt haben, wäre nicht ihr Wesen selbst zu jener Zeit von einer tiefen Bewegung ergriffen worden, in deren Folge ein neues eigentümliches und bedeutungsvolles Prinzip in ihnen geboren werden konnte. Dieses Prinzip war das einer höhern Einheit, hervorgegangen im Lichte der damals zuerst sich geltend machenden Naturphilosophie.

Es gibt nämlich wohl Seelen und Geister, denen es wenig[64] Bedürfnis zu sein scheint, von Erfassung irgendeiner Einheit, eines Zentralpunktes besondere Notiz zu nehmen; alles Leben fließt ihnen vorüber, wie die Wolken am Himmel dahintreiben, wie Herbstblätter, auf einem Strome fortgezogen werden, ohne daß irgendein Brennpunkt, irgendein vor allem einschlagender unwandelbar feststehender Gedanke diesem ununterbrochenen Wechsel zugrunde gelegt werden müßte. Wenn Menschen dieser Art der Betrachtung und Erforschung der Natur sich widmen, so sammeln sie ein unendlich buntes Material, häufen Masse auf Masse und können bei dem allen oft dem Ganzen der Wissenschaft sehr nützlich werden. Es fehlt uns auch nicht an geschriebenen Werken, welche auf diese Weise entstanden sind, und ich darf nur an die »Bibel der Natur« Swammerdams oder die Insektenbelustigungen eines Rösel von Rosenhof erinnern, um Kennern dieser Literatur deutlich zu machen, was wir hier im Sinn haben. Auf diese Weise sind ja ebensooft auch große und später häufig sehr nützlich gewordene Sammlungen merkwürdiger Naturgegenstände zusammengebracht worden, rein aus Sammlerlust, ohne irgendein besonderes höheres Ziel.

In nicht viel anderer Weise sah man nun seit Plinius das ganze Material der Naturgeschichte wirklich behandelt, bis der große und umfassende Weltverstand des Ritters von Linné zuerst versuchte, eine bestimmte Ordnung in diese Mannigfaltigkeit zu bringen und einen Standpunkt zu finden, welcher diese ganze ungeheuere Masse einigermaßen in ein dem denkenden Geiste erfaßbares und genehmes Verständnis zu setzen vermöchte.

Bei dem allen fehlte es dem Systeme Linnés an einem höhern innewohnenden geistigen Prinzip völlig, es war ein nach scharfsinnig aufgefundenen Verstandesmerkmalen zu Nutzen und zur Erleichterung der Lernenden aufgeführtes großes Gebäude, aber es war weit entfernt davon,[65] in sich selbst als ein belebendes und belebtes Ganzes zu erscheinen. Zu diesem wurde es eigentlich zuerst, als der bereits von vielen Philosophen des Altertums geahnte Gedanke von der innern notwendigen und unerläßlichen Verbindung des Weltgebäudes zu einem einzigen unendlichen organischen Ganzen, mit einem Worte, der Gedanke von der Weltseele, durch Schellings damals groß und lichtvoll hervortretenden Geist zuerst wieder in die Wissenschaft eindrang. Auf merkwürdige Weise klang dieser Gedanke gleichzeitig in vielen Geistern wider, wie es denn immer zu gehen pflegt, wenn die Menschheit im Kreißen liegt und eine neue große Idee in ihr hervorzutreten berufen ist; und so fehlte es denn durchaus nicht, daß sehr bald die Folgen desselben in der Behandlung der Naturwissenschaften sich geltend machten. Dabei blieben denn freilich auch keineswegs vielfältige Überstürzungen und Übertreibungen aus! Wie keine Revolution im Politischen sich macht, und wäre sie auch an sich bestimmt, das so viel Bessere und Höhere in das Leben der Menschheit einzuführen, ohne daß mannigfaltige Unordnung und mancher arge Unfug dabei vorkomme, so drängten sich auch hier neben den Berufenen viele Unberufene zu diesem neuen Ideenkreise heran und verfehlten dadurch nicht, allen Widersachern jeder Neuerung hinreichende Blößen zu geben, welche dann benutzt wurden, um das Ganze möglichst zu verdächtigen.

Unter denen jedoch, die als würdige Priester der neuen Ära zum Altar der Isis traten, stand in bezug auf Naturwissenschaften obenan: Oken, ein Mann, dem ich erst fast zwanzig Jahre später im Leben zu begegnen Gelegenheit hatte, dessen Geist aber schon damals mich ganz eigentümlich erfaßte und anregte. Mit großen gewaltigen Zügen wagte er es zuerst, in die chaotische Mannigfaltigkeit von Naturformen und – tatsachen einen einzigen Mittelpunkt,[66] ein einziges neues belebendes Prinzip einzuführen, und dies Prinzip war das genetische, das Prinzip der Entwicklung.

Ausgehend von dem Gesamtbegriff des einen und ganzen Organismus des Menschen, tat er zuerst den orphischen Ausspruch: »Der Mensch ist das Maß und der Messer der Schöpfung«, und gleichsam wie mit einem Schlage war so die ganze ungeheuere und unermeßliche Mannigfaltigkeit der Welt gegenübergestellt dem einen menschlichen Organismus und seiner besondern Geschichte. Nichts war nun klarer, als daß, sobald wir das Recht hatten, die Schöpfung selbst gleichsam als den in allen seinen Phasen und Formen auseinandergelegten Menschen zu betrachten, somit auf einmal ein innerer Schwerpunkt, eine höhere Einheit für alle diese Formen als gefunden sich darstellte. Am unmittelbarsten aber traten diese Ergebnisse bei der Betrachtung des Tierreichs hervor. Mit Überraschung wurde man gewahr, daß eine gewisse allgemeine, nur nie zu weit ins einzelne auszudehnende Parallele zwischen der menschlichen Entwicklungsgeschichte vom mikroskopischen Ei aus durch den zarten weichen Embryo bis zu seiner vollkommenen Gestaltung als reifer Mensch einerseits, und zwischen den Stufenfolgen des Tierreichs vom mikroskopischen Infusorium an, durch das zarte weiche Molluskum bis zu den menschenähnlichsten Tieren hinauf andererseits, unverkennbar sei und hunderterlei merkwürdige Anwendungen hiervon, namentlich auch auf die Rückwärtsbewegung, welche die sich wieder zum Tier hinneigenden menschlichen Monstrositäten darboten, stellten sich nun sogleich deutlich heraus.

Dies also war es, was nun auch blitzähnlich in meinem Geiste gezündet hatte! Ich durfte nicht mehr, wofür ich immer ein Grauen gefühlt hatte, die Natur und insbesondere die Tierwelt als eine zufällige, ins Unendliche mannigfaltig[67] gedankenlos variierte Masse mir vorstellen, sondern ich hatte den geistigen Schlüssel zu diesen Verschiedenheiten gefunden; ich durfte nicht mehr nur den Leib der Schöpfung lieben, ich hatte ihre Seele erkannt und fand mich von ihr begeistert!

Gerade zu jener Zeit (1807) erschien das merkwürdige Programm Okens, in welchem zuerst ein Aperçu mitgeteilt wurde, welches früher, aber freilich nur im stillen, auch von Goethe gemacht worden war, nämlich: daß der Bau des Schädels im wesentlichen als der einer Wirbelsäule angesehen werden müsse. Dieser Satz war wichtiger, als es auf den ersten Blick schien; und Okens Schrift verfehlte deshalb schon zu jener Zeit nicht, eine große Sensation zu machen. In ihm nämlich wurde, gleichsam als in einem einzelnen schlagenden Beispiele für viele gleiche Fälle, die entscheidende Frage an die Forscher gerichtet: »Ist es euch gegeben, durch den ewigen Wechsel der Erscheinung, durch die rastlosen Metamorphosen der Gestaltung hindurch das eine, all dieser Mannigfaltigkeit zugrunde liegende Gesetz, das wesentlich feste Schema dieser wechselnden Formen zu erkennen oder nicht?« – Mir war es sogleich eine besondere Freude, daß ich in jenem Satze ein höheres Unveränderliches anerkennen durfte, daß ich nun einsah: so tausendfältig auch die Gestaltung des Schädels in sämtlichen höhern Tierklassen variieren möge, ihr liege doch überall ein einfaches durchaus bleibendes Gesetz und ein festes unveränderliches Zahlenverhältnis zugrunde.

Indem so nämlich die Mannigfaltigkeit der erkannten Formen sich steigerte, steigerte sich auch die Freudigkeit, alle diese Gestalten als Glieder einer höhern Einheit nach und nach deutlicher zu bemerken, und so trat mehr und mehr diejenige Begeisterung für die Wissenschaft in mir hervor, welche einesteils hinwiederum den medizinischen[68] Studien zugute kam, andernteils mir schon jetzt den Gedanken näher brachte, mich künftighin insbesondere für das akademische Lehrfach auszubilden. Dies alles nun trieb mich vorwärts, entflammte meinen Eifer, begeisterte mich, und eben, daß in irgendeiner höhern Richtung die rechte und wahre Liebe für Wissenschaft vorhanden sei, darauf kommt es ja überhaupt bei dem jugendlichen Geiste an, wenn größere Resultate erlangt werden sollen, und so habe ich denn auch alles, was irgend späterhin für szientifische Zwecke von mir erreicht worden ist, zum großen Teil dieser in der geschilderten Weise erweckten und unterhaltenen Anregung zu danken.

Ich sagte aber oben, daß, wenn eben dieser Drang nach Erkenntnis und Vermehrung des Wissens mich einerseits belebte und immer neu erregte, andererseits auch die Liebe zur Kunst und Poesie beitrug, mein Leben, welches in seinen äußern Verhältnissen bei den vorrückenden kriegerischen Wirren der Zeit von mancherlei Not mehr und mehr heimgesucht wurde, immer wieder aufzurichten, zu kräftigen und selbst rückwirkend in Beziehung auf wissenschaftliche Aufgaben mich zu fördern. Ja, wir finden selbst in der Geschichte der Menschheit überall gewisse, gleichsam gesetzmäßig hervortretende Folgen der auf ihre Bildung einwirkenden Kunst; Folgen, welche mich oft sonderbar an das allmähliche Hervortreten verschiedener Sinnesformen in der Reihe der belebten Geschöpfe erinnert haben. Oder wäre es denn nicht etwa in Wahrheit so, daß eben wie in der Tierwelt zuallererst das tastende Befühlen, weit später das erst lichtvolle Auge und nur zuhöchst in seiner vollen Entwicklung der Sinn des Gehörs hervortritt, so auch in der Menschheit als früheste Kunst die der Plastik auftreten mußte, die Kunst, wo greifbar derb und steinern das Gebilde hingestellt wird, dem tastenden Gefühl in seiner Vollendung fast[69] noch mehr zugänglich als dem Gesicht; daß dann erst später sich die Kunst des Malers ausbilden konnte, die Kunst, welche eine schon feinsinnlichere Täuschung in lichtbrechenden oder rückwerfenden Medien durchgängig versucht; daß aber am letzten, man darf wohl sagen erst in der neuesten Zeit, die Musik sich vollkommener offenbarte und noch jetzt vielleicht für künftige Generationen manches Mysterium bewahrt, wenn dagegen wirklich die andern Künste gegenwärtig fast abgeblüht zu haben scheinen?

Was nun mein Leben betraf, so habe ich schon früher davon gesprochen, wie da die Kunst des Zeichnens und Malens eigentlich allein jene Entwicklungsreihe begonnen hatte. Ich führte sie indes redlich und nach besten Kräften fort und besuchte auch über ein Jahr die Zeichenakademie auf der Pleißenburg, welche damals von Tischbein, und unter ihm von Schnorr (dem Vater des später berühmten Julius Schnorr), geleitet wurde, jedoch bloß, um für mich in einsamen Stunden nach den dort aufgestellten Abgüssen einiger Antiken zu zeichnen. Tischbein sah kaum nach mir, aber Schnorr kam öfters und lobte nicht selten meine Zeichnungen, obwohl zuweilen in absonderlichen Redensarten; wie es denn ein Lieblingsausdruck von ihm war, wenn er mir einen Kontur korrigierte, zu sagen: »Dies ist um eine Idee zu groß.«

Was dagegen die Kunst der Musik betraf, so lag sie mir, ihrem höhern Sinne nach, damals noch ganz verborgen. Wichtiger für mich und bedeutend auf Geschmack und Nachdenken einwirkend war die dramatische Kunst. Ich rechne es weniger dahin, daß wir Jüngern früher mitunter versucht hatten, auf kleinen, aus Leinwand und gemalten Pappen übel genug zusammengebauten Theatern ein oder das andere Lustspiel, selbst mehr zu unserer Ergötzung als zu besonderm Genügen der gepreßten Zuschauer, darzustellen;[70] ich rechne auch weniger dahin den im ganzen überhaupt nicht sehr häufigen Besuch der Vorstellungen der damaligen Secondaschen Gesellschaft in Leipzig, bei welchen, obwohl die Truppe einige wirklich ausgezeichnete Schauspieler zählte, das Prinzip einer höchst prosaischen Natürlichkeit durchaus vorherrschend war1, sondern am folgereichsten waren mir gemeinschaftliche Lektüren einer Reihe echt klassischer dramatischer Werke, zu welchen ich mich mit mehrern andern Studierenden einige Jahre hindurch vereinigt hatte. Wir waren ihrer etwa sieben bis neun, die an solchen Dingen Freude fanden, und einige von diesen sind mir dadurch für einige Zeit auch im Leben näher verknüpft worden, von welchen ich zunächst hier nur gedenken will teils des durch seine gelehrten Herausgaben und Übersetzungen des Rabelais und Bojardo bekannt gewordenen Gottlob Regis, teils des trefflichen Philologen Schneider, später Professor in Breslau.

Eine Reihe der außerordentlichsten Werke, welche für einsame Lektüre in der Jugend selten zur Aufnahme gelangen (ich will nur an die Reihe historischer Dramen Shakespeares erinnern, die wir alle in ihrer Folge und mit großer Aufmerksamkeit durchnahmen), wurde auf diese Weise zeitig ein Eigentum meines Geistes; ich gewöhnte mich an größere Ansichten des Lebens, ein höherer freierer Geist begann stufenweise zu reifen, und wenn ich bedenke, wie zwanzig und dreißig Jahre später viele derselben Werke mir nun wieder in anderer und höherer Weise in[71] den Vorträgen meines verehrten Freundes Tieck entgegengetreten und dann noch so viel durchsichtiger geworden sind, so finde ich abermals, wie in so vielem andern, Gelegenheit, einen gewissen großen, eigentümlich periodischen Verlauf jedes weiter sich ausdehnenden gesunden menschlichen Lebens hier in seiner innern gesetzmäßigen Folge zu bewundern, ja verehrend anzuerkennen.

Gleichsam aber, als sollte mir denn doch auch die Anschauung nicht vorenthalten bleiben, auf welche Weise bedeutende dramatische Werke unter günstigen Bedingungen durch szenische Darstellung wirklich neu erweckt und sozusagen vor unsern Augen belebt werden können, so geschah es, daß im Jahre 1809 die weimarische, damals noch unter Goethes besonderer Leitung stehende Schauspielergesellschaft von Lauchstädt, wo sie gewöhnlich im Sommer Vorstellungen gab, nach Leipzig kam und dort ganz neue Erscheinungen, und diese auch auf durchaus neue, in einem höhern Sinne künstlerische Weise, zur Anschauung brachte. In Wahrheit, es wird mir jetzt schwer zu sagen, in welchem Maße eine vollendete Aufführung, wie man damals diese Vorstellungen von Goethes »Iphigenia«, »Tasso«, »Götz«, »Egmont«, den »Mitschuldigen«, ja selbst der »Natürlichen Tochter« nennen durfte, auf einen jungen lebhaften Geist wirken mußten, der, obwohl im wesentlichen ganz andern Bahnen zugewandt, doch mit großer Heftigkeit das Beste, was große Dichter im Felde des Dramas uns hinterlassen haben, bereits ergriffen und sich angeeignet hatte. Jedenfalls war die Wirkung bedeutend, und wie denn nicht leicht in unsern Zeiten ein irgend lebhafter Sinn vorkommen wird, der nicht mindestens für eine kurze Zeit mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit vom Theater angezogen worden wäre, so darf ich sagen, daß diese auch im nächstfolgenden Jahre sich wiederholenden Darstellungen diejenigen waren und[72] auch diejenigen geblieben sind, welche mich mit einer wirklichen Schwärmerei für das Theater erfüllten und ergriffen und deren ich noch jetzt mit besonderer Vorliebe gedenke. – Jedenfalls trug es übrigens wesentlich dazu bei, die Wirkung dieser Aufführungen so mächtig zu erhöhen, daß hier im Äußerlichen noch eine Einfachheit herrschte, welche das ganze Gewicht derselben auf die geistige Seite fallen ließ und dadurch jene Atmosphäre noch ganz fühlbar machte, in welcher so außerordentliche Werke entstanden waren; eine Fühlung, welche notwendig sich immer mehr verliert, je mehr Luxus der Dekorationen, Ballette und Kostüme fast zum alleinigen Mittel werden, die schaulustige Menge anzuziehen.

Bei dem allen darf ich sagen, daß diese so wenig als andere Kunstanschauungen keineswegs mir die Lust und den Eifer an meinen übrigen wissenschaftlichen Bestrebungen irgend zu beeinträchtigen imstande waren; im Gegenteil, ich kehrte zu diesen von jenen stets mit erfrischtem Geist und erhobenem Gemüt zurück. Mit Ausdauer saß ich dann wieder tief in die Nächte hinein über den anatomischen Tabellen, die ich mir entworfen; über den physiologischen, pathologischen und morphologischen Schriften, die ich mir irgend verschaffen konnte. Am Tage in Freistunden führte ich schwierige und feine anatomische Zeichnungen aus, ich untersuchte und zergliederte, was ich nur immer mir für meine Zwecke zusammenbringen konnte; kurz, ich darf sagen, daß ich mit voller Seele bei der Sache war und daß ich mich tüchtig gerührt habe, um ein Material vorzubereiten und aufzuspeichern, was mir dann allerdings in spätern Zeiten auf das wünschenswerteste zustatten gekommen ist.

Bevor ich indes weiter verfolge, wie mehr und mehr die Kenntnisse mir heranwuchsen vom Menschen und der Natur, die ihn umgibt, von seinem innern Bau und Leben[73] und von dem Krankhaften, was in ihm sich entwickeln kann, bleibt mir übrig, nachzudenken und darzustellen, auf welche Weise in jener Zeit das in mir zuerst begründet und gefestigt wurde, was man die Ansicht nennen darf von göttlichen Dingen. Je mehr wir nämlich Menschen beobachten und bedenken, desto deutlicher kann es uns werden, daß etwas sei in der Seele des Menschen, was man den wahren geistigen Schwerpunkt, den Lichtpunkt und recht eigentlichen Silberblick jeder solchen besondern intellektuellen Welt zu nennen berechtigt ist, den Punkt, von welchem aus zuhöchst alles größere Tun und Streben der Seele bedingt wird, den Punkt, an dessen Höhe eigentlich allein und vollkommen gemessen werden kann, was die Seele erstrebt und was sie endlich geworden ist. Dieses Etwas aber ist: die Art der geistigen Anschauung des Verhältnisses alles Vergänglichen zum Ewigen, mit einem Wort, nach dem Selbstbewußtsein – das Gottbewußtsein. Der Verschiedenheiten in der Art dieser Anschauungen sind nun kaum weniger (wenn alle die feinern Nuancen beachtet werden sollen) als die der Menschengeister selbst; denn wenn wir schon in ganz äußerlichen natürlichen Dingen finden, daß irgendeine besondere Erscheinung von jedem Sehorgan nur eben auch auf seine besondere Weise aufgefaßt wird, so muß dies sich noch mehr bei der Art, wie irgendeine geistige Individualität dem höchsten ewigen Mysterium gegenübergestellt ist, der Fall sein.

Was nun mich betraf, so habe ich aber schon oben erzählt, wie der erste Gedankenzug, dessen ich mich in meiner geistigen Entwicklung entsinne, wenn auch in ganz kindischer Weise, das Wesen der menschlichen Seele zum Gegenstand hatte, und ich möchte dies um so mehr fast als symbolisch betrachten, da, je mehr ich mich in die Zeit zurückversetze, welche ich in den nächstvorhergehenden Blättern beschrieben habe, um so mehr ich finde, daß bei[74] allen Bestrebungen, das sinnlich Erkennbare festzuhalten, doch mich damals immerfort eine stille Verzweiflung quälte, und zwar deshalb quälte, weil jenes eigentliche Ursachliche, das was als ein Übersinnliches notwendig doch allem Sinnlichen zugrunde liegen mußte, mir niemals mit genugsamer geistiger Deutlichkeit innerlich aufgehen wollte. Allerdings war, was ich an philosophischen Vorlesungen zu jener Zeit gehört hatte, wenig geeignet, mich hier in irgendeiner positiven Erkenntnis zu fördern, und von der ganzen Platnerschen Skepsis drang mir nur jenes eine gut ausgedrückte Anfangswort tief einschneidend in die Seele: »Voraussetzen möchte man, der Mensch lebe in stets wachsendem Kummer um das Rätsel der Welt und des menschlichen Daseins.« In Wahrheit, dieser Kummer war in mir eigentlich unablässig! Ein gewisser Zug von Ernst und Schwermut in der Tiefe meines Lebens wurde den meisten fühlbar, die mir damals nahestanden. Es war ein Suchen, ein Ringen nach innerer Gewißheit in mir, und das um so mehr, je mehr mir das Studium der Natur zeigte, in welchem ewigen Wechsel von Entstehen und Vernichtetwerden alles vorübereilte, was dem minder erschlossenen Auge wohl als ein Bleibendes und Festes für einige Zeit sich darstellen kann. Die ungeheuere Frage nach dem »Warum« all dieses Wechsels, all dieser steten Vernichtung, sie lastete oft mit Zentnerschwere auf dem jungen Geiste, und ich darf es wohl als ein besonderes Glück und als die Wohltat einer gesunden und widerhaltenden Organisation betrachten, daß diese entschiedene Überzeugung von dem an sich durchaus Vergänglichen und Eiteln alles Irdischen mich doch keineswegs abhielt, immerfort bemüht zu sein, eben dieses Irdische auf das möglichst Vollkommene erkennen zu lernen.

In all diesem innern Streben und Suchen und mitten unter so vielen Arbeiten, welche zunächst nur die Bewältigung[75] des Materials zur Aufgabe hatten, traten zwei Geister in ihren Werken mir näher, welche auf meine weitere Entwicklung nicht ohne großen Einfluß geblieben sind: Kant und Schelling. Der erstere in seinen »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« läuterte meine Gedanken über das materielle Substrat aller Erscheinung durch die Deduktion der Materie, inwiefern sie allein begriffen werden könne als das »Bewegliche im Raume schlechthin«. Der andere in seiner tiefsinnigen Naturphilosophie, deren mächtige begeistigende Einwirkung auf meine naturwissenschaftlichen Studien ich oben schon berührt habe, erweckte in mir den bestimmtem Gedanken einer Weltseele und gab mir darin den Leitfaden, ein höchstes Göttliches – geistig die Materie, oder wie ich es später genannt habe, den Äther, fortwährend Bestimmendes und Gestaltendes – im Geiste allmählich deutlicher aufzufinden und mehr und mehr erkennen zu lernen. Aus solchen Elementen also entwickelte sich in mir nach und nach eine Ansicht von dem Verhältnis eines Vergänglichen zu einem Ewigen, bei welcher einmal jenes stete Vernichtet- und Verwandeltwerden erkannt wurde als die ganz notwendige Folge der Wesenheit der Materie, eben als eines Ewigbeweglichen an sich, während ein andermal doch bei all diesem notwendigen Untergange sich wieder ein Trost und eine Beruhigung dadurch ergab, daß in jenem Höchsten und Göttlichen ein von diesem Beweglichen an sich durchaus Unabhängiges klar wurde, ja darin eine Wesenheit erschien, welche in ihrer ewigen Wahrheit und Schönheit durchaus frei war und blieb von Vernichtung und Veränderung. Freilich lag von damaliger Erkenntnis aus noch ein weiter Weg zu durchwandern bis zu jener innern Klarheit und Einsicht, wie ich sie so viel später in neuern Werken dargelegt habe; manche andere Geister mußten noch zu diesem Endziel von[76] mir näher erkannt werden, und vielfältiges schmerzliches Ringen und Arbeiten blieb noch lange bis dahin meines Geistes Aufgabe; aber es galt ja doch auch nur hier den Versuch, den Leser zu einiger Deutlichkeit zu bringen, auf welchem Wege in mir diejenige Ansicht von göttlichen Dingen sich habe begründen können, welche mehr und mehr in mir zu vollenden und zu betätigen ich späterhin immer als höchstes Ziel meines Geistes empfunden habe.

1

Ich will indes bei dieser Gelegenheit noch erwähnen, daß im August und September 1810 Iffland (damals die Spitze jener naturalistischen Richtung) in Leipzig eine Reihe von Gastrollen gab und nicht verfehlte, auch mir, der ich ihn mehrmals sah, großen Eindruck (namentlich im »Spieler«, »Essighändler«, in den »Hagestolzen« und der »Lästerschule«) zu hinterlassen; er versuchte sich indes damals auch in Rollen wie dem »Geizigen« und »Franz Moor«.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 63-77.
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