I.

[92] Das nächste nennenswerte Ereignis meines Lebens, das mir hier aufzuzeichnen obliegt, würde jetzt sein: der Abschluß meiner bisherigen akademischen Laufbahn durch die Promotion, welche die medizinische Fakultät mir am[92] 20 Dezember 1811 gewährte, und die kurz zuvor, am 1. November, stattgehabte Verbindung mit meiner geliebten Verwandtin Karoline, von der ich oben schon sagte, wie sie die trefflichste Mutter meiner Kinder und die treueste vieljährige Lebensgefährtin mir geworden sei.

Damit indes die Stellung des damaligen jungen Medikus, wie er nunmehr in das öffentliche Leben einzutreten anfing, ganz deutlich werde, bleibt es unerläßlich, einen Blick zu werfen auf die sonderbare schwankende und unheimliche Lage, in welcher sieh, wie Deutschland überhaupt, so insbesondere mein Geburts- und Wohnort Leipzig zu jener Zeit befand; denn allerdings bezeichnet man wohl große geschichtliche Momente zunächst als »Weltereignisse«, dadurch gewissermaßen andeutend, daß hier nur von Bewegungen im großen und ganzen die Rede sei; wie jedoch dergleichen auch einesteils seine Wurzelfasern aus den entschiedensten örtlichen und persönlichen Verhältnissen entnimmt, andernteils aber mit seinen Endzweigen sich wieder auf das merkwürdigste bis in die geheimsten Tiefen des Privatlebens verliert, darüber würden die weitschichtigsten Untersuchungen sich gar wohl anstellen lassen.

Es war aber damals die Zeit, wo die Fremdenherrschaft mit ihrer äußersten Gewalt auf Deutschland lastete. Sachsen war seit 1807 durch Napoleon zum Königtum erhoben, und als Entgelt dafür hörten französische Gäste seitdem nicht mehr auf, Leipzig beschwerlich zu sein, ja ihm vielfach zu schaden.

Wenn ich daher von meinen frühesten Jahren wohl erzählen konnte, wie zuerst das idyllische Leben in Mühlhausen und dann die milde Waldluft des Rosentals die Seele durchaus auf die stillsten Reiche des Geistes richtete, so drängte sich jetzt eine andere Gesinnung mit Gewalt ein, und so teilte sich mir namentlich nunmehr jenes[93] innere Aufglühen der Gemüter mit, welches, je mehr das Fremde wucherte und drückte, um so mehr in Deutschlands Herzen sich regte und nagte. Gleichzeitig hatte sich freilich auch vieles in den äußern Verhältnissen anders gestaltet, französische geheime Polizei machte sich bis in die Tiefen des Familienlebens Bahn, die gewaltigen Kämpfe des Kaisers in Spanien und in Österreich lenkten mit Macht die Aufmerksamkeit aller auf sich, und eben jetzt war es, wo der kolossale Heereszug Napoleons nach Rußland sich vorbereitete und mehr und mehr die Entscheidung des Schicksals von Europa herannahte. – Im Mai 1812 hielt der Kaiser in Dresden Hof und empfing dort die Monarchen von Österreich und Preußen; die Heere sammelten sich in den ungeheuersten Massen, und die Spannung, welche dieses alles auch in unserer Stadt hervorbrachte, war eine so noch nie dagewesene.

Übrigens setzte ich trotz dieser Unruhe meine Vorlesungen über vergleichende Anatomie regelmäßig fort, ja ich sah den Kreis der Zuhörer von Halbjahr zu Halbjahr sich vermehren, aber freilich, ohne daß dadurch meine Lage im Äußern verbessert worden wäre, denn kaum vom zehnten Teil meiner Schüler wurde ich honoriert. Mir war es indes für jetzt an der Sache selbst genug, und da durchaus niemand sonst dort einer so wichtigen Disziplin sich annahm, so nährten mich einzelne Freunde öfters mit der Hoffnung, eine außerordentliche Professur könne in einigen Jahren mir in keiner Weise fehlen. Daß indes schon jetzt mein Lesen bei den ältern Professoren ein gewisses Aufsehen erregte, konnte mir natürlich nicht entgehen, ja einmal erfuhr ich dies auf sonderbare Weise genug; denn als ich eines Nachmittags durch das Ranstädter Tor nach meiner Wohnung ging, begegnete mir einer dieser Herren, dessen früher schon erwähnte Vorträge über die »Naturgeschichte der Menschenspezies« den Studenten oft zu[94] gar vergnüglicher Unterhaltung dienten, und nachdem ich grüßend [an] ihm schon vorüber war, stützte er sich auf den goldenen Knauf seines stattlichen spanischen Rohres erst fester, drehte sich dann um und rief mir zu: »Ah! Herr Doktor! Sie lesen ja comparatam!«

Bei alledem drängten aber freilich meine häuslichen Verhältnisse mich peinlich; ich wünschte überdies meiner frühern Gespielin und nun geliebten Frau möglichst bald eine größere Sicherheit der Existenz in Aussicht stellen zu können, und so schwankte ich denn oftmals gar sehr, ob ich nicht besser tun möchte, die akademische Laufbahn, welche mir im besten Falle nur spät reichlichem Ertrag verleihen konnte, zu verlassen und um eine kleine Physikatsstelle mich zu bewerben, welche in irgendeiner Landstadt uns ein eben hinlängliches Auskommen wohl eher hätte gewähren können; – kurz, es fehlte mir keineswegs an manchen gequälten unsichern und unabsehbaren Zuständen!

Noch in einer andern Beziehung ist aber jene Zeit für mich wichtig gewesen, indem in das Jahr 1812 die ersten meiner freien schriftstellerischen Arbeiten gehören. Jener merkwürdige Umschwung im Felde der Literatur nämlich, demzufolge das Abgeben des Urteils und die Stimmführung, zumal in den periodisch erscheinenden Blättern, mehr und mehr in die Hände der Jüngern überging, er war damals bereits eingetreten; das Anwachsen der Zeitschriften, obwohl noch gar nicht mit der hydragleichen Vervielfältigung in unsern Tagen zusammenzustellen, war doch von den ältern gereiften Geistern nicht mehr zu bestreiten, und so konnten denn auch zu Beurteilungen selbst der wichtigsten und ausführlichsten Arbeiten schon berühmter Autoren meistens nur junge angehende Schriftsteller herangezogen werden. Diese Bewegung war in der Tat wichtiger, als sie auf den ersten Blick erschien, und[95] sie hing genau mit der großen, von der Französischen Revolution ausgegangenen Erschütterung zusammen; sie deutete auf den Übergang des Rats, der Beurteilung und der Tat von den ältern bedächtigern Häuptern an eine mutige, aber freilich oft genug unbedachte und voreilige Jugend. Wie man daher in den ersten Zeiten der französischen Republik Generale und Marschälle sah, welche oft noch nicht oder nur wenig über zwanzig Jahre zählten, so drängte sich auch in die Literatur mehr und mehr eine mitunter sehr unreife Jugend ein, freilich im Reiche des Geistes weit kleinere Eroberungen machend als jene an Ländern und Reichen, aber doch mit beitragend zu dem immer mehr und mehr sich überstürzenden Gang der Zeit. Indes in der Wissenschaft und insbesondere in den Naturwissenschaften erhob sich auch wirklich damals eine merkwürdige und neue Zeit. Wenn ich in diesen Beziehungen die ungeheuern Fortschritte nur der letzten drei Dezennien betrachte, so darf ich kühnlich sagen, daß drei vorhergegangene Jahrhunderte gegen sie nur Geringes geleistet haben, und auch hier dankte man allerdings vieles, ja das meiste, jungen frisch hervorgetretenen Geistern.

Für mich war nun, wie ich schon früher bemerkt habe, die Lehre von der unendlichen Vielgestaltigkeit und den rastlosen Umwandlungen des Organismus das, was mich besonders anzog, was mich zu eigenen Untersuchungen anhaltend drängte und was mich besonders anzog, was mich zu eigenen Untersuchungen anhaltend drängte und was mich auch die Beobachtungen anderer mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgen ließ. Ich darf in dieser Beziehung wohl sagen, daß ich angestrengt um das Material dieser Wissenschaft gekämpft habe und daß ich bemüht war, überall das Konkrete fest ins Auge zu fassen, bevor ich mir erlaubte, zum Abstrakten mich zu wenden. Will doch die Natur durchaus zuerst in allen ihren Tiefen durchdrungen sein, ehe sie dem allgemeinen höhern Überblicke sich darbietet, denn keine[96] Lücken werden hier geduldet, und wie der reiche selbstbewußte Geist sich überhaupt nur erschließen kann, da, wo durch unbewußtes Walten zuvor eine wundervolle Organisation gereift ist, so dringt auch der höhere, überschauende und vernehmende Geist der Wissenschaft erst dann mit eigentümlichem Rechte hervor, wenn durch tausendfältiges Mühen und Erfassen des Lernens die Gliederung sich entwickelt hat, in welcher dieser Geist zu walten und zu beharren wahrhaft vermag. Mein Freund Heinroth, welcher damals wesentlichen Anteil nahm an der Redaktion der »Leipziger Literatur-Zeitung«, beachtete aufmerksam und ehrte diese Bestrebungen in mir, und so verfehlte er denn auch keineswegs, mich nun zu eigenen Arbeiten aufzufordern und namentlich mich einzuladen, Rezensionen in diesen Fächern für sein Institut zu übernehmen.

Es war eine eigene Seligkeit, die ich damals in diesen ersten Arbeiten zu kosten begann, es war die, zu welcher man gelangt, indem im eigenen Geiste neue, infolge ernstester Betrachtungen und umfänglichster Gedankenzüge entstandene Anschauungen zuerst die kunstgemäße Form einer wissenschaftlichen Arbeit annehmen und dadurch sich selbst mehr und mehr vollenden. Eine solche eigene Produktivität des Geistes, nachdem eine vieljährige anhaltende Rezeptivität vorhergegangen ist, gehört, wenn sie zum erstenmal empfunden wird, und zumal dann, wenn sie ein genügendes Ergebnis wirklich hervorruft, jedenfalls zu den reinsten und freudigsten Erlebnissen; es ist eigentlich die erste tatsächliche Überzeugung von einer wahrhaft erreichten Pubertät des Geistes und der mit dieser Pubertät hervorgetretenen Selbständigkeit und schaffenden Kraft.

Blicke ich jetzt auf mein Leben zurück, so sehe ich, daß von jener hier zuletzt erwähnten Zeit an eigentlich ein[97] solches produktives Bestreben in mir recht zur besondern Natur gehörte und sich auch später vielfach fort und fort betätigt hat. Was nachhaltig mich fesseln, was tief in meinen Geist eingehen sollte, es mußte allemal auf irgendeine Weise mich zu einer bestimmten Selbsttätigkeit veranlassen und mir dazu Raum geben. Daß sonach das Studium des Organismus eine solche Veranlassung geben mußte, teils als Lehrer mich zu betätigen, teils schriftstellerisch mich produktiv zu verhalten, das hielt mich besonders daran fest, und gerade das förderte auch in mir den Trieb, tief- und weitgreifende Kenntnisse hierüber mit Eifer zu sammeln. Eine fertige Wissenschaft bloß durch ausdauernden Fleiß in mich aufzunehmen, durch vielfältiges Lesen und Sammeln von Auszügen aus dem Gelesenen allein meinen Geist zu einem stets zum Aufschlagen fertigen Kompendium zu machen, wollte mir nie zusagen. Freilich habe ich selbst auch immerfort und viel gelesen und exzerpiert, und es freute mich, nach allen Richtungen hin in mir Kenntnisse jeder Art mehr und mehr aufzuspeichern; aber immer fühlte ich, daß wenn ich irgendeine Sphäre menschlichen Wissens recht vollständig mir aneignen sollte, so mußte ich darüber zugleich eine selbständige Arbeit entweder wirklich unternehmen oder sie mindestens im Geiste vorahnend bedenken, kurz, ich mußte mich produktiv in derselben verhalten.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 92-98.
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