[493] Während nun so also manches um mich her von außen erklang, ging das innere Arbeiten an der Ausbeute meiner italienischen Reise immer weiter vorwärts, und zugleich fingen sich die ersten Gedanken zu konzentrieren an um[493] eine Aufgabe, die ihrer vollen Entwicklung doch erst gegen 16 Jahre später entgegengehen sollte. Mir schwebt jetzt zuweilen der Entwurf einer Arbeit vor, welche ich wohl nach und nach durchzuführen und ins Werk zu setzen suchen möchte, nämlich, nachdem ich mit so vielfältigen Entwicklungsgeschichten und Metamorphosen mich herumgeschlagen habe, einmal die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Seele recht einfach und klar zu verfolgen, zu beginnen mit der
Anima semplicetta, che sa nulla,
Salvo che mossa da lieto fattore
Volentier torna à ciò che la trastulla1
und nun alle den mancherlei Wurzel-, Stengel-, Kelch- und Blumenblättern dieses wundersamen Gewächses nachzugehen, auch die Abwege, welche diese Vegetation nehmen kann, zu zeigen, zumeist aber die Bedeutung seiner eigentlich höchsten Richtung nachzuweisen. Die Vorlesungen über Psychologie, die ich im folgenden Jahre hielt, endlich aber die Vollendung meiner »Psyche« (1846) bildeten die Spitze einer Pyramide, deren Basis in den obigen Worten eigentlich zuerst dargelegt worden ist.
Was äußere Lebensvorgänge betrifft, so muß ich bemerken, daß im März der Antrag, nach Berlin zu gehen, doch noch einmal sich wiederholte. Elias von Siebold war gestorben, welcher dort die geburtshilfliche Klinik zuerst höhern Anforderungen gemäß gegründet hatte, und vielleicht hoffte man, daß die ältere Neigung gerade zu diesem[494] Fach mich starker ziehen könnte als der ein Jahr zuvor mir gemachte Antrag, die therapeutische Klinik zu übernehmen. Ich schrieb indes diesmal sogleich an Schulze: »nähme ich diese Stelle an, so würde ich mir wohl vorkommen wie ein Ulysses, der eines zurückgelassenen Gürtels wegen wieder in die Höhle des Zyklopen zurückkehren wollte«, und so blieb alles beim alten, ich war in gewohnter Weise tätig, meine ärztliche Wirksamkeit war eine sehr ausgebreitete, mit meiner Gesundheit konnte ich zufrieden sein, und doch kamen mitunter wieder schwermütige trübe Stimmungen, von denen ich in Briefen jener Zeit manche Spuren finde und über welche ich mir damals wohl selbst nicht vollkommene Rechenschaft zu geben imstande war. Übersehe ich jetzt dergleichen Perioden im ganzen und großen, so scheinen sie mir größtenteils eine Art von Entwicklungskrankheit zu sein. Sobald nämlich eine neue Richtung innerer Tätigkeit sich Bahn brechen sollte, sobald Gedanken und Gefühle in mir aufstiegen, die noch nicht in Wort oder Bild sich recht kundgeben wollten, dann legte sich nicht selten, wie bei Witterungsänderungen, über die Atmosphäre ein Nebel über die Welt meiner Vorstellungen und verzog sich erst dann, wenn die Eisen wieder im Feuer lagen und der Geist zu neuen Flügen wieder seine Schwingen ausbreitete.
Daß übrigens die Übung der Kunst noch immer kräftig mitwirkte, um solche momentane Trübungen zu zerstreuen, mag man wohl glauben, wenn man diesen meinen Entwicklungsgang überhaupt im Auge behalten hat. Und so waren mir denn in diesem Sommer wirklich wieder einige gute Erinnerungen an Italien aus der Leinwand hervorgewachsen und hatten dabei wohltätig auf mich zurückgewirkt. Indes auch andere Musen hatten nun ihre Segnungen nicht versagt. So zum Beispiel erregte es mich[495] im hohen Grade, Goethes »Faust« jetzt zum erstenmal auf der Bühne zu sehen. Ich schrieb zwar damals über den Schauspieler, welcher die Titelrolle gab:
Armseliger Faust, ich kenne dich nicht mehr;
und von welchem andern hätte ich späterhin nicht mehr oder weniger immer dasselbe wieder sagen müssen, da nun einmal überhaupt kein Geist aus diesen Regionen solcher Aufgabe gewachsen sein kann und wird, aber in dem Ganzen lag an jenem Abend doch eine große Begeisterung! Es war aber Goethes achtzigster Geburtstag, der Dichter selbst lebte noch, Tieck hatte die Veranlassung zur Aufführung gegeben und dafür einen schönen, von innerlicher Erwärmung diktierten Prolog geschrieben. Das Publikum verhielt sich durchaus anerkennend und lebendig, kurz, es gab doch die Erscheinung jenes Fleischwerdens der Dichtung, was eben nur von der Bühne gewährt werden kann, und in diesem Sinne fühlte dann auch ich mich dadurch gehoben und erfrischt. Nicht ganz im gleichen Maße hatte mich der »Fidelio« Beethovens bewegt, das Mozartsche Element war noch zu mächtig in mir, und ich drückte mich daher damals über diese dramatische Musik in der Weise aus: »Beethoven hat für mich noch eine Schwerkraft, die ihn zu fest an die Erde bindet, als daß ich ihn in dieser Beziehung den ganz vollkommenen Musiker nennen könnte! Von einem solchen nämlich verlange ich, wie die Hindus von ihren heiligsten Brahmanen, daß er in der Luft sitzen, ja daß er, dort schwebend, den Hörer selbst zu sich mit hinaufziehen könne.« – So damals! Späterhin freilich erkannte ich wohl, daß er, namentlich in seinen Symphonien, sich genugsam als ein solcher Brahmane bewährt hat! Aber, wie gesagt, Mozart war mir in jener Periode alles! Selbst im Kreise der Meinigen wurde ich fast nur mit seiner Musik genährt, da[496] unter Leitung eines tüchtigen Künstlers in meinen beiden ältern Töchtern ein Talent sich entwickelte, welches mir in zwei- und vierhändigen Ausführungen am Flügel manchen Genuß gab und zum Studium vieler Einzelheiten der Kompositionen führte. So konnte ich denn mitunter gegen alles andere geradezu ungerecht werden, und Weber zum Beispiel, dessen Werke mich doch noch oft genug entzücken sollten, erschien mir dann vollkommen krankhaft (wovon übrigens viele seiner spätern Sachen doch auch nie ganz freigesprochen werden können), und höchstens rechnete ich ihn unter die »interessanten Kranken«, deren denn allerdings mir auch einige sehr ausgezeichnete vorgekommen sind.
Dabei beschäftigte mich außerdem zugleich höchlich das eben herausgekommene dickleibige Buch von Nissen über Mozart selbst. Welch merkwürdige Entwicklungsgeschichte dieses Geistes! Wie dies Wunderkind so aus lauter Liebe von Vater und Mutter und Schwester hervorgeht! Und wie schnell dann dieser Genius reift! Dies alles kam meiner Liebe zu ihm so recht gelegen und war mir überdies im allgemeinen wichtig für den oben schon aufgeführten Gedanken, nach und nach eine Geschichte der Seele zu bearbeiten, zu deren Material ich dann freilich überall und immerfort sammeln mußte.
Was sonst nächst alle diesem mein Leben betraf, so floß es in diesem Jahre ganz einfach und still dahin. Wir brachten diesmal den Frühling mit dem Hofe in Pillnitz zu, und dankbar für manche erquickliche Luft- und Lichtwelle, die mich dort umspielte, und dankbar auch für manchen schönen Morgen-, Mittag- und Abendspaziergang, zogen wir im Juni wieder herein. Der Ort wurde uns immer lieber. In der Stadt ging das einzige Schwere, was in jener Zeit zuweilen mich drückte, von ein paar Freunden aus, die mir als Menschen auch lange sehr lieb gewesen[497] waren, aber zu denen nun doch das stets fortrückende, immer leise umstellende und umgestaltende Leben nach und nach die Verhältnisse völlig verschoben hatte.
Der erste dieser Freunde war Friedrich. In seiner eigentümlichen, immer dunkeln und oft harten Gemütsart hatten, offenbar als Vorläufer eines Hirnleidens, dem er auch später unterlag, gewisse fixe Ideen sich entwickelt, welche anfingen, seine häusliche Existenz vollständig zu untergraben. Mißtrauisch, wie er war, quälte er sich und die Seinigen mit Vorstellungen von der Untreue seiner Frau, die ganz aus der Luft gegriffen waren, dessenungeachtet aber hinreichten, ihn ganz zu absorbieren. Anfälle von roher Härte gegen die Seinigen blieben nicht aus. Ich machte ihm die ernstesten Vorstellungen darüber, suchte auch als Arzt einzuwirken, aber alles vergebens, und so wurde denn natürlich dadurch auch mein Verhältnis zu ihm gestört, ich kam fast nicht mehr zu ihm, bis späterhin, nachdem er vom Schlage gelähmt wurde, um ihm noch nach Kräften nützlich zu sein, verlor aber doch immer einen bedeutenden und mir in jeder Beziehung werten Umgang.
Der andere war Dietz, der schon mehrerwähnte Zeichner, später auch als Kupferstecher für mich beschäftigt, ein Mann, dessen eigen scharfe und originelle Natur mir in früher Zeit mehrfach förderlich gewesen war und dem ich dafür manche Jahre im Leben fortgeholfen, ihn mit nach Italien genommen, nach Dresden gezogen, ja zuletzt großenteils erhalten hatte. Nun bleibt sich aber keine Individualität, und eine solche am wenigsten, durchaus gleich. Charaktere dieser Art werden nach und nach schroff und starr, oft genug geradezu krank, nämlich geisteskrank, von Phantasien gequält und durch Einbildungen der verschiedensten Form sich und andern zur Last. Mit großer Geduld trug ich vieles und lange, denn dergleichen alte Verhältnisse[498] verwachsen zuletzt so mit uns, daß wir Dinge jahrelang mit uns herumschleppen, welche man augenblicklich abwerfen würde, wären sie neu an uns herangetreten. So ich auch hier! Endlich ging es aber doch nicht länger; mitten in der Familie brachen einst seine Halluzinationen in einer Weise hervor, daß eine Trennung sofort unerläßlich wurde, und obwohl ich immer noch im stillen für ihn besorgt blieb, mußte ich denn auch in dieser Beziehung Verhältnisse aufgeben, aus welchen mir früherhin entschieden so manche Anregung zu geistigem Wachstum und frischer Tätigkeit sich ergeben hatte. An Vorgängen dieser Art wurde es mir zum erstenmal recht deutlich, wie der Lebensgang des Menschen, welcher anfänglich gewöhnlich die Bestimmung hat, aus enger Beschränkung in möglichste Mannigfaltigkeit und Vielfachheit der Verhältnisse zu leiten, späterhin wieder sogar sehr gegen die Einsamkeit zurückdeutet, ja immer mehr und mehr uns endlich vereinsamt; freilich damit auch uns eindringlich ermahnend, die einzelnen Geister, die wir wirklich als tief innerlich verwandte erkannt haben, dann um so gewaltiger festzuhalten.
Glücklicherweise blieb mir in jener Zeit nicht viel Muße, dergleichen trüben Betrachtungen lange nachzuhängen, denn ein neues Unternehmen drängte auf mich ein und spannte meine Tätigkeit in ganz ungewöhnlicher Weise: es waren die Vorlesungen über Psychologie, die ich im Winter 1829/30 vor einem großen Kreise von Zuhörern zu halten mich veranlaßt sah. Natürlich war von mir alles aufgeboten, den Stoff so tüchtig und reichlich als möglich auszubeuten. Ich stand in diesem Winter trotz der Kälte und trotz aller täglichen Anstrengungen meines ärztlichen Berufs stets früh um 4 Uhr auf, und mit rührender Sorgfalt erschien schon in so früher Morgenstunde bei mir mein gutes Mütterchen, welche es[499] sich nicht nehmen ließ, für erste Erwärmung des Zimmers und den Frühkaffee selbst zu sorgen, und so arbeitete ich denn jede Vorlesung gleich vor dem ersten Vortrage schon so vollständig aus, wie sie nachher in der später danach herausgegebenen Druckschrift dem Publikum sämtlich vorgelegt worden sind.
Diese Vorlesungen sind mir hauptsächlich wichtig, weil sie mich zwingen, meine Ansichten für mich zu ordnen und niederzuschreiben. Das Dokument, welches ich dadurch mir selbst gewinne, wird mir späterhin jedenfalls sehr lehrreich sein, da ich durchaus meinen eigenen Weg gehe, mir die Entwicklungsgeschichte der Psyche als wesentlichste Aufgabe zugeteilt und alles Kompendienhafte verworfen und vermieden habe, vielmehr mich durchaus in der Form freier Diskussion halte. Man erkennt hieraus also, wie ganz ich bei der Sache war!
Als später Oken diese »Vorlesungen über Psychologie« in seiner »Isis« anzeigte und schärfer charakterisierte, freute mich nichts mehr, als daß er es aussprechen durfte, mit diesem Buche sei der »Embryo der Psychologie« zur Welt gekommen; denn damit meinte er doch nichts anderes, als daß hier zuerst der rechte genetische Weg in dieses Labyrinth gefunden und der eigentliche Schlüssel zur ganzen Tiefe des Seelenlebens nachgewiesen sei. Im ganzen nahm ich damals auch den wesentlichen Stoff zu diesen Vorträgen durchaus nur aus mir selbst, und trotzdem, daß ich ein großes literarisches Material zu ihrem Behuf um mich aufgespeichert hatte, schrieb ich doch im Januar 1830: »Es geht mir sonderbar mit den Hand- und Lehrbüchern der Psychologie; ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich kann außer einigen hier und da erzählten Tatsachen auch gar nichts davon brauchen. Ich will natürlich nicht sagen, daß ich deshalb etwas Besseres gebe, aber ein anderes, als früher gegeben wurde, ist es ganz gewiß.« –[500] Übrigens war das Jahr 1830 mir abermals am 3. Januar sehr musikalisch eröffnet worden, indem man veranstaltet hatte, daß die »Missa Papae Marcelli« von Palestrina, welche ich selbst nebst mehreren andern Hymnen alter Meister in Abschrift aus der päpstlichen Kapelle von Rom mitgebracht hatte, abends in meinem Saale aufgeführt wurde. Bekanntlich sind diese Manuskripte eigentlich nur traditionell verständlich, und hätte nicht abermals unser trefflicher Freund, der Hoforganist Schneider, der Sache sich angenommen, so würde es schwerlich gelungen sein, aus den schweren Pfundnoten und veralteten Schlüsselzeichen den feinen Geist, der darin eingesargt liegt, hervorzurufen.
Dieser Winter war dabei einer der längsten und kältesten gewesen, und im März gaben mir daher die Szenen des Eisganges auf der Elbe sowie mancherlei mit dadurch bedingte Naturbilder für meine künstlerischen Bestrebungen vielfache Anregung. Wahr ist es, daß dieses Elbtal, auch schneebedeckt, durch seine schönen Linienverhältnisse und den eigentümlich hier herrschenden Luftton einen Reichtum an Schönheiten, selbst im Winter, aufschließt, die mir großenteils neu waren und mich sehr anzogen. Einzelne Schilderungen solcher Winterszenen habe ich später meinen »Briefen über Landschaftsmalerei« beigefügt und darf davon namentlich den Aufbruch des Elbeises im Jahre 1821 als ein sehr treues Naturbild empfehlen; diesmal aber gaben mir auch die aufgeschichteten Eismassen, welche der damals rasch steigende und ebenso rasch fallende Elbstrom um die mächtigen alten Lindenstämme des sogenannten großen Geheges aufgehäuft liegen ließ, zu besondern Studien reichliche Gelegenheit, welches alles dann, nachdem meine Vorlesungen beschlossen waren und ich somit etwas freier mich bewegen konnte, auch treulich benutzt wurde. Noch jetzt bewahre[501] ich mehrere Zeichnungen, die damals entstanden sind, und gewiß, die Erscheinungen waren zum Teil merkwürdig genug. Kolossale Eisblöcke von zwei bis drei Ellen Stärke und zehn- und zwölffacher Ausdehnung in der Länge waren ruinenartig oft zu beträchtlicher Höhe aufgetürmt, neuer Schneefall hatte dann zu den grünen und blaulichen mächtigen Bruchflächen anmutigste weiße Verzierungen gegeben, die alten, oft wunderlich gestalteten Baumstämme ragten mit ihren kahlen Zweigen darüber hinaus, und als Hintergrund streckte sich entweder die Stadt mit der immer groß und elegant sich ausnehmenden Elbbrücke dahin, oder die feinen, langen Linien der sogenannten Hoflößnitz stuften im zart violetten, winterlichen Duft reizend sich ab, kurz, es gab Bilder, die sehr verdient hätten, in größern Ölgemälden würdig dargestellt zu werden, wozu jedoch mir weder Zeit noch Kunst ausreichen wollten.
Nach ganz anderer Seite interessierte mich ferner in jenen Tagen ein neues Phänomen, welches zum Teil auch Natur-, zum größern Teil aber doch Geistesphänomen genannt werden mußte, es war die junge neunjährige Pianistin Klara Wieck aus Leipzig, später als Klara Schumann mit Recht zu großem musikalischem Ruhme gelangt. Durch unsern Krägen war sie mit ihrem Vater bei uns eingeführt worden, und wir hörten sie schon damals mit Bewunderung und inniger Teilnahme. Dies feine neunjährige Mädchen spielt die schwersten Sachen von Weber, Beethoven und Bach mit einer Zartheit und Reinheit des Ausdrucks, daß ich mich kaum erinnere, Ähnliches gehört zu haben. Dabei komponiert sie sehr artig, ist übrigens ganz Kind, und am vergnügtesten bei den Kinderspielen unter andern Kindern; sitzt sie aber am Flügel, so scheint sie sofort ein anderes Wesen und beherrscht ihr Instrument mit größter Sicherheit und Zierlichkeit. Sie[502] hat mir zu vielfältigen Beobachtungen Veranlassung gegeben.
Ich hatte nicht verfehlt, den ganzen Kreis unserer Bekannten und Freunde mehrmals um sie zu versammeln, und während sie von allen mit Lob und Anerkennung überhäuft wurde, sorgte unsere Freundin, Gräfin Einsiedel, dafür, ihren Ruhm auch in den Hofkreisen auszubreiten und war wohl die erste, die durch Verehrung eines Ringes dem Kinde hier, wo es späterhin so reiche Lorbeern ernten sollte, eine erwünschte Aufmunterung gewährte.
Aber nicht bloß zu zeichnerischen und musikalischen Studien sollte ich in diesem Frühjahr neu herangezogen werden, sondern auch die des Dante wurden durch eigene Veranlassung wieder erweckt. Ich habe schon früher dessen gedacht, daß es zu besonderer Genugtuung mir gereichte, als ich erkannte, daß ein Glied desselben königlichen Hauses, dem ich nunmehr meine besten Kräfte zu widmen berufen war, der Prinz Johann, ein so gründlicher Kenner und Verehrer jenes großen Poeten sei.
Im April dieses Jahres wurde ich denn eingeladen, bei dem Prinzen einer kleinen Abendgesellschaft beizuwohnen, allwo derselbe aus seiner Übersetzung, nachdem er den letzten Gesang des Inferno eben am Osterabende (das heißt also gerade 530 Jahre nach Dantes poetischer Höllenfahrt) beendigt hatte, davon den 11.–19. Gesang vorlas. Eingeladen dazu war auch noch, nebst Legationsrat Breuer, Professor Förster von der Ritterakademie, dessen Arbeiten über die italienische Literatur vielfach rühmlich bekannt geworden sind, und Graf Wolf Baudissin, ein naher Freund unsers Tieck, späterhin mit diesem so tätig für die Vollendung der Schlegelschen Übersetzung des Shakespeare. Wir erhielten sämtlich schöne Originalausgaben des Dichters vorgelegt und hatten dem hohen Übersetzer nach jedem Gesange unsere Bemerkungen über das mehr[503] oder weniger Gelungene der Übersetzung mitzuteilen. Diese kleinen Komiteesitzungen sind von da an viele Jahre fortgegangen, auch Tieck nahm späterhin daran tätigen Anteil, und so wurde mir in dieser Weise die erwünschteste Gelegenheit, nicht nur den Dichter noch einmal mit allergrößter Gründlichkeit durchzugehen und überall genau kennenzulernen, sondern auch ein so gelehrtes und von allen Seiten mit der größten Auszeichnung anerkanntes Werk, als die Übersetzung des Prinzen ist, so ganz allmählich heranwachsen zu sehen, ja selbst durch einige wenige, in das Fach der Naturwissenschaften einschlagende Noten mit vollenden zu helfen, was ich denn abermals als eine glückliche Begegnung hier dankbar anzumerken nicht unterlassen darf.
Meine Pillnitzer Villeggiatur betreffend, so fiel sie diesmal in die Monate Juli und August, und ich erinnere mich wohl, wie gerade auf der dortigen Elbfähre, als ich bei einem schönen Sommerabend aus der Stadt zurückkehrte, durch einen uns nahegekommenen königlichen Adjutanten wir mit der Nachricht von der Julirevolution und der Vertreibung Karls X. aus Paris überrascht wurden. Man war indes damals in so tiefe Friedenszustände eingetaucht, daß niemand noch augenblickliche Ahnung davon hatte, wie ungeheuer die Erschütterung sein würde, die von diesem Ereignis ausgehend und lang nachhallend über ganz Europa sich verbreiten sollte! Gleichzeitig mit mir waren jedoch ein paar der katholischen Geistlichen des Königs in ihrem Hofwagen auf der Fähre, und in den bedenklichen Mienen, die bei dieser Kunde über die Physiognomien dieser Herren sich verbreiteten, malte sich allerdings sogleich eine weit bestimmtere Vorahnung dieser aufziehenden Gewitter; sie mochten empfinden, daß Königtum und Kirche, die sich sonst oft genug gestritten haben, jetzt in ihrer Autorität immer enger verbunden bleiben müßten,[504] wenn sie nicht beide im Fortschritt solcher Bewegungen den ernstesten Gefahren sich ausgesetzt finden sollten.
Wirklich war fürerst bei uns noch wenig von diesen sich verbreitenden Erdbeben zu spüren. Im August kam der Großherzog von Toscana nach Pillnitz und brachte in seinem Gefolge Professor Savi aus Pisa mit, so daß sich denn manche Wechselwirkung hier fortspinnen konnte, welche früher in Florenz begonnen hatte. Ebenso traf Alexander von Humboldt bei uns ein und gab mir abermals Gelegenheit, einen Blick zu tun in den Reichtum seiner erlebten und erwanderten Anschauungen und Kenntnisse. Eine Nachmittagsstunde namentlich, welche derselbe nebst dem Großherzog und Savi auf meinem Zimmer im Pillnitzer Schlosse zubrachte, wird mir in dieser Beziehung vorzüglich merkwürdig bleiben. Schon vormittags nämlich war er bei mir gewesen, hatte von meinen Untersuchungen über Entwicklung unserer Flußmuscheln, die mich damals beschäftigten, und ähnlichen Arbeiten Kenntnis genommen und hatte versprochen, nach der königlichen Tafel, zu welcher er befohlen war, wieder zu mir zu kommen. Zufällig begegnete ich vorher dem Großherzog, erzählte ihm von unsern Gesprächen und von dem Versprechen Humboldts, worauf er denn erwiderte, er werde zu dieser Stunde auch auf meinem Zimmer sein, da er wünschte, über Erdmagnetismus und amerikanische Reihenvulkane manche Aufschlüsse von dem berühmten Reisenden zu empfangen. So geschah es denn, und in Wahrheit, es war eine Freude zu hören, wie klar und mit wie genauen Angaben im einzelnen bereichert nun die Mitteilungen sich ergossen. Es wäre die lehrreichste und faßlichste Abhandlung gewesen, hätte ein Stenograph Wort für Wort diese Mitteilungen festgehalten! Ich habe kaum später wieder Humboldt mit dieser Einfachheit und zugleich Fülle sprechen hören.[505]
Ebenso sahen wir da Stackelberg manche Tage bei uns, erfreuten uns an seinen interessanten Darstellungen griechischer Gegenden, von denen er die neuesten Hefte mit herausbrachte, und hatten an ihm überhaupt einen angenehmen Gefährten auf manchen Wegen und Wogen um Pillnitz. Namentlich konnte er einen dieser wundervollen Augustabende lange nicht vergessen, an dem wir mit ihm bei zunehmendem Mondlicht und purpurner Abendröte eine anmutige Wasserfahrt um die schöne, reichbewachsene Elbinsel, dem Schlosse gegenüber, ausgeführt hatten. Ist doch auch wirklich über dies Stückchen Erde und Wasser ein seltener Zauber ausgegossen. Es möchte schwer sein, den Charakter dieser Gegend anders als mit dem »der Süßigkeit«, des »Soave« der Italiener zu bezeichnen, so weich biegt sich der breite klare Strom an den weintragenden Hügeln dahin, und so schön ist diese Vegetation; wie ich denn im Ernst bekennen muß, daß Baummassen, wie sie damals noch die erwähnte Insel zierten und zwischen denen wie in einem Urwalde die frischeste Begrünung einer üppig emporwuchernden Pflanzenwelt den Eintretenden mit Bewunderung erfüllte, mir von dieser Schönheit nirgends weiter vorgekommen sind. Leider hat auch hier in spätem Jahren amtliche, auf Nutzen ausgehende Verwaltung vieles Schöne zerstört, doch wird hoffentlich immer noch genug übrigbleiben, um auch künftighin den Künstler wie den einfachen Naturfreund tief und nachhaltig anzuziehen.
Kaum hatten wir aber nun Ende August Pillnitz verlassen, als denn auch in Dresden der erste revolutionäre Sturm losbrach. Am 2. September in Leipzig begonnen, fand die Volksaufregung in den nächsten Tagen sich auch in Dresden ein; lärmende Haufen, abends vom Großen Garten hereinziehend, benutzten die Abwesenheit fast allen Militärs und drangen vor das Polizeigebäude in der[506] Scheffelgasse, welches erstürmt wurde und in Brand geriet. Wir hörten das Schreien, Laufen und das Stürmen der Glocken, und wer war damals, dem nicht alsobald die Szenen von Paris vorschwebten und das Schrecknis vermehrten. Allerdings litt Sachsen gleich den meisten deutschen Staaten damals noch an manchen veralteten hemmenden Zuständen. König Anton, dem der verstorbene König Friedrich August nie Gelegenheit gegeben hatte, sich um Regierungsangelegenheiten zu bekümmern, überließ unbedingt die Verwaltung des Landes an Minister Graf Einsiedel, und so hatten sich Wünsche und Bedürfnisse schon längere Zeit dringend genug vernehmen lassen, um eine Erneuerung der Verhältnisse anzubahnen.
Gerade zu rechter Zeit fand sich denn glücklicherweise damals ein tüchtiger kenntnisvoller Mann, dem das Vertrauen aller Klassen entgegenkam und der von dem Prinzen Friedrich, dessen eigenen ernsten, im besten Sinn vordringenden Sinn ich schon auf der italienischen Reise aus vielen Äußerungen erkannt hatte, persönlich geschätzt wurde. Es war der Baron Bernhard von Lindenau. Einer meiner Kranken, der damalige Oberst und Adjutant von Schreibershofen, hatte mir Gelegenheit gegeben, ihn schon vor seinem Eintritt in seine höhern Verhältnisse kennenzulernen, und eine Reihe von Jahren hatte ich denn auch später das Glück, ihm selbst als befreundeter Arzt zur Seite zu stehen und so an der Milde, Geradheit, Wissenschaftlichkeit und unbedingten Rechtlichkeit dieses Mannes mich zu erfreuen. Lindenau war 1780 zu Altenburg geboren, wurde 1808 Direktor der Sternwarte auf dem Seeberge bei Gotha, regierte seit 1820 als Minister die Lande von Sachsen-Gotha, trat 1827 in sächsische Dienste und war zuvor Gesandter beim Bundestage, bis er hier 1829 als Wirklicher Geheimrat die Direktion der Dresdener Museen übernommen hatte. Jetzt nun, als infolge[507] der aufrührerischen Bewegungen eine Krisis in den Staatseinrichtungen unvermeidlich wurde, als Graf Einsiedel sich genötigt sah, seine Entlassung zu nehmen, als Prinz Friedrich neben König Anton als Mitregent eintrat und Sachsen eine Verfassung versprochen worden war, wurde er sofort Kabinettsminister und nahm von nun an an der Ordnung aller öffentlichen Verhältnisse wie an Ausarbeitung der Verfassung selbst den tätigsten und entschiedensten Anteil. Ich widme ihm hier diese Bemerkungen als dankbares Andenken nicht bloß an den bedeutenden Staatsmann, welcher eine neue Ära über Sachsen wesentlich mit heraufführen half, sondern zugleich als einen der liebenswürdigsten und einfachsten Charaktere, die mir vorgekommen sind, und bewahre noch aus seinen spätesten Jahren, als er sich auch aus dem sächsischen Staatsdienste wieder zurückgezogen hatte, eine Reihe interessanter und teilnehmender Briefe, welche diese Eigentümlichkeit überall in schönster Weise beurkunden.
Also, wie gesagt, durch Eintritt und Mitwirkung dieses ausgezeichneten Mannes war es, daß es gelang, aus den an sich so rohen Massen dieser kleinen Revolution ein neues organisches Gebilde zu formen, welches dem Ganzen wahrhaft zugute kommen sollte. Indes konnte freilich nicht erwartet werden, daß dies alles von da an so ruhig und in einer Folge weiter sich entwickeln würde. Neue Stockungen traten bald ein, man hörte von Vereinen, die zum Zweck hatten, die überschwenglichen Forderungen der Demokratie geltend zu machen, und ich werde in den Blättern des folgenden Jahres noch heftigerer Bewegungen Erwähnung zu tun haben, als die waren, von denen ich bis jetzt gesprochen.
Von den Revolutionen des Tags, zu denen nun auch noch der Aufstand in Polen getreten war, wendete jetzt für einige Tage meine Gedanken gegen die so viel größern,[508] ja geradezu ungeheuern vorweltlichen Umwälzungen der Erdfläche der abermalige Besuch von Professor Weiß aus Berlin, welcher mir die ersten Abbildungen mitbrachte von jenen großen fossilen Hautpanzerstücken eines antediluvianischen, damals noch unbekannten Tieres, welches man später als die des Glyptodon erkannt hat. Wir führten weitläufige Gespräche über die mannigfaltigen neuern Entdeckungen auf diesem Felde und verloren darüber gern manches Unerquickliche aus den Augen, dessen die Gegenwart gewöhnlich nur in zu reichlichem Maße bietet. Wissenschaft und Natur! Gibt es wohl überhaupt etwas, das mehr als diese beiden es vermag, den von der Welt schmerzlich umgetriebenen Geist zu beruhigen und zu heilen! Beide haben etwas Abstraktes, ja Übermenschliches und zugleich so Unverwüstliches, demgegenüber alle einzelnen Schmerzen und Qualen des Menschen so gering erscheinen, daß nicht lange das Geistesauge auf ihnen verweilen kann, ohne im Innern eine wiederherstellende Kraft der Seele angeregt zu empfinden.
Nach langem, trübem, verwünschtem Winterwetter erschien heute ein wahres Prachtexemplar von Winterszenerie. Mittags klärte es sich auf, und der Abend, der auf dichtbeschneite Fluren und versilberte Bäume niedersank, glänzte mit allen zierlichen, violetten, rötlichen und gelblichen Himmelsfarben, zwischen welchen hell und scharf die Sichel des ersten Mondviertels schwebte. Von der Terrasse, stromauf und stromab, die klarsten, reizendsten Bilder! Wir gingen die breite Treppe hinab und stiegen in einen der dort haltenden Schlitten, um auf der an der Elbe hinauf sich ziehenden Bautzener Straße ein Stück hin- und zurückzufahren. So stark und schön schneebedeckt habe ich diese Kieferwaldungen doch noch kaum gesehen, und welcher Rückblick nach der Stadt und der weiten Ferne! Kehrt man von solchen Szenen dann wieder in das angenehm[509] erwärmte Haus und sammelt sich hier um die trauliche Lampe zu einer guten Lektüre, so ist auch das wohlgetan!
Wir lasen in diesen Tagen namentlich Tiecks »Dichterleben«. Das Ende läuft mir etwas zu rasch ab und stimmt in der flüchtigen Behandlung nicht ganz zu dem klaren, kontemplativen Gange der ersten zwei Drittel. Tieck beabsichtigt, wie er mir sagt, noch einen dritten Teil, wo er Shakespeare aufführen will beim Tode des Essex und der Elisabeth (ist nie ausgeführt worden). – Neulich aßen übrigens Tieck, Stackelberg und einige andere bei uns. Der Novellist war der heiterste, und war es mir doch immer eine merkwürdige und lebensvolle Erscheinung, sein helles Augenpaar über einer Schale Rheinwein aufblitzen zu sehen! Gewiß! So gehen wohl ein paar Sterne über dem Meere auf und leuchten dann zu fröhlicher Fahrt!
1 | Dante, Divina Commedia, Purgatorio, CXVI, 89. Die Stelle lautet in der Ubersetzung von Philalethes: Einfältiglich die Seele, die nichts weiß noch, Als daß, vom heitern Schöpfer ausgegangen, Sie gern nach dem sich kehrt, was sie ergötzet. (Anmerkung des Herausgebers.) |
Buchempfehlung
Der neurotische Tiberius Kneigt, ein Freund des Erzählers, begegnet auf einem Waldspaziergang einem Mädchen mit einem Korb voller Erdbeeren, die sie ihm nicht verkaufen will, ihm aber »einen ganz kleinen Teil derselben« schenkt. Die idyllische Liebesgeschichte schildert die Gesundung eines an Zwangsvorstellungen leidenden »Narren«, als dessen sexuelle Hemmungen sich lösen.
52 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro