III.

[510] Ich hatte übrigens in diesem Winter noch viel mit meinem Manuskript der Vorlesungen über Psychologie zu tun. Wären die Zeiten ruhiger geblieben, so hätte es wohl dazu kommen mögen, die Vorlesungen selbst noch einmal zu halten; so war nur daran zu denken, sie überhaupt zu erhalten und wenigstens in bester Form durch den Druck der Öffentlichkeit zu übergeben. Ich arbeitete, nachdem eine Reinschrift genommen worden war, mannigfaltig hinein, immer auf größere Klarheit und Rundung zielend, schloß aber endlich auch damit ab, nachdem mir einer meiner Zuhörer, Professor Chalybäus (später durch sein Werk über die verschiedenen neuern Systeme der Philosophie rühmlichst bekannt geworden), schon im vorigen Jahre gesagt hatte: »Wenn Sie es nun nicht drucken lassen,[510] so werden Sie so viel hineinarbeiten, daß Sie es am Ende gar nicht vollenden!«

Bei alledem war mein äußeres Leben ein sehr bewegtes, da die Kranken mir so viel Zeit nahmen, daß ein au-niveau-Bleiben in den Naturwissenschaften eigentlich nur dadurch mir noch möglich wurde, daß an bestimmten Tagen Freund Thienemann von seinem Weinberge hereinkam, mit uns aß und wir dann nach Tische alles Neue, was eben in diesen Reichen vorgekommen war, ausführlich durchlasen und besprachen. Auch die Beschäftigung mit der Kunst mußte sehr zurückstehen und möchte mir vielleicht manchmal die Lebendigkeit des Gemüts und die Frische des Geistes durch Überladung mit täglichen Lebensaufgaben gänzlich beeinträchtigt worden sein, hätte nicht abends zuweilen ein schönes musikalisches Werk oder eine Lektüre von Tieck wie ein Staub abspülendes Bad gewirkt und neuen Lebensatem gegeben.

Mein Verhältnis zu dem letztgenannten war, wie schon aus dem Obigen hervorging, jetzt ein viel näheres geworden. Er freute sich, wenn ich zum Tee bei ihm eintrat, und die Töchter sagten wohl: »Heute wird sicher ein antikes oder Shakespearesches Drama gelesen, Carus ist ja gekommen.« Sein Lesen war in diesen Jahren, wo alle Mittel noch so vorhielten, ein höchst vollendetes, und ich fing nun an, öfters nach solchen Abenden Aufzeichnungen zu machen, von denen noch manche Briefe sowie der erwähnte spätere Aufsatz in Raumers »Historischem Taschenbuch« Zeugnis geben. Ich erinnere mich namentlich, daß damals zuerst »Antonius und Kleopatra« anfing, in seiner ganzen Macht auf mich zu wirken. – »Coriolan«, Bild der römischen Republik in voller Kraft; »Julius Cäsar«, Bild des schon sich auflösenden Staats, wo das Volk zum Fetzen wird, den jeder Stärkere an sich reißt, und nun »Antonius und Kleopatra«, wo vom Volke gar nicht[511] mehr die Rede ist und das ganze Wesen einem einzigen in die Hände fällt! Oh, es ist wirklich unerläßlich, dergleichen so in einem Gusse von Anfang bis Ende ohne Störung rein aufzufassen, wenn das organische Getriebe des Stücks sich uns so recht deutlich hervorheben soll. Mir war bei »Antonius und Kleopatra« immer, als sehe ich Shakespeare auf hoher Klippe als Seher stehen, um ihn her der Nebel der Vorzeit; und nun deutete er nach tiefbegründeter innerer Folge hierhin und dorthin, und jedesmal hüben sich Szenen und Gestalten aus der Vergangenheit in neuer Lebensfrische aus dem Nebelmeere hervor, zeigten sich deutlich dem erstaunten Auge und schwanden dann wieder in den Nebel zurück.

Mit dem April dieses Jahres erneuten sich jetzt die Szenen der Unruhe und Aufregung der Stadt. Der weitverbreiteten Wirkung jenes schon oben gedachten Bürgerclubs war es zuzuschreiben, daß abends wieder die Straßen, mit lärmenden Müßiggängern sich füllten, Laternen zerschlagen wurden und bald es sich zeigte, daß die Bürgergarden, welche im vorigen Jahre sich gebildet hatten, nicht imstande waren, dem Unfuge Schranken zu setzen. Es war mir, der das königliche Haus und insbesondere die jungen Prinzen so wahrhaft verehrte und hochhielt, ein ergreifender Anblick, aus meinen Fenstern zu gewahren, daß Prinz Johann, dem die Regierung das Kommando sämtlicher Kommunalgarden des Königreichs übergeben hatte, nachdem er zur Schlichtung des heranwachsenden Sturmes mit einigen Adjutanten zu Pferde am Gewandhause gehalten hatte, plötzlich genötigt wurde, der Menge zu weichen und nach den Hauptplätzen, wo bereits Militär aufgestellt war, sich zurückzuziehen. Ich mußte sehen, wie den mit seinem Gefolge die Moritzstraße Hinabsprengenden der wütende Pöbel mit Schreien, Schimpfen und Pfeifen verfolgte, und freute mich bloß seines[512] guten Pferdes, das ihn sicher und ohne zu stürzen über das glatte Pflaster dahintrug; denn welche Folgen ein Fall in diesem Gewühl hätte haben müssen, war unschwer zu denken. Diese unleugbarsten Tendenzen zu einem republikanischen Sansculottismus sowie die Entdeckung eines Verfassungsentwurfs von extremster Färbung, den man einem gewissen Dr. Moßdorf zuschrieb, welcher sonst als heller befähigter Kopf wohl früher manche verständige Beziehungen zu Krause gehabt hatte, später aber ganz in diesem wilden Treiben untergegangen war, bestimmten nun freilich zu ernsten Maßregeln. Das Militär bemächtigte sich der Hauptstraßen, und nach mehrern Aufforderungen zum Auseinandergehen, welche mit Schmähungen und Steinwürfen beantwortet wurden, erfolgten einige scharfe Salven, wobei mehrere Menschen (größtenteils Unschuldige) stürzten und das Volk sich endlich verlief. Von dieser blutigen Krisis an, welche die Höhe der fieberhaften Aufregung gebrochen hatte, kehrte nach und nach der Stadt und dem Lande wieder größere Ruhe zurück, die Regierung blieb der vom Prinzen Friedrich schon im vorigen Jahre gegebenen Zusicherung einer Konstitution getreu, die Arbeiten dafür gingen unter Lindenaus Mitwirkung unausgesetzt vorwärts, und bekanntlich wurde es somit wirklich möglich, am 4. September, gerade ein Jahr nach dem zuerst ausgebrochenen Sturme, dem Lande eine Verfassungsurkunde vorzulegen, welche, wenn auch nicht ohne Mängel, doch jedenfalls zu den bessern gehört, wie sie in der Neuzeit in verschiedenen Ländern irgend zur Entwicklung gekommen sind.

Hatten wir denn somit nach kaum beschwichtigten revolutionären Bewegungen uns wieder etwas heimischer gefühlt und im gewohnten Kreise altbekannter Tätigkeit angefangen wieder mehr uns selbst zu leben, so mußte plötzlich jetzt aus Osten jenes schwarze Gespenst heranschreiten,[513] dessen verpestenden Hauch seitdem mehr oder weniger ganz Europa schwer empfunden hat. Von Indien nämlich durch die breiten Steppen Asiens daher kam damals die Cholera zum erstenmal nach Rußland, ja rückte nach Polen und Preußen vor, und überall in den deutschen Staaten wurde alsbald die Frage rege, auf welche Weise man wohl imstande sein würde, gegen ihre todbringende Atmosphäre sich zu schützen. In Sachsen war zu jener Zeit sogleich eine »Immediatcommission zur Abwehr der Cholera« durch die Regierung gebildet worden, zu deren Sitzungen die Hof- und Medizinalräte, mehrere Regierungsbeamte und einige höhere Militärs beordert waren. Wir hielten wöchentlich drei bis vier Zusammenkünfte, und die erste Frage, die hier entschieden werden mußte, war die, ob man wohl hoffen dürfe, durch Maßregeln einer Landessperre den fürchterlichen, damals im ganzen doch noch wenig gekannten Feind abzuhalten. Wir entschieden uns damals für die Bejahung einer Frage, welche freilich jetzt, wo aus vielen Gründen das ansteckende Prinzip der Cholera höchst zweifelhaft geworden ist, überall verneint zu werden pflegt, und umgaben unser kleines Königreich, nicht ohne große Kosten, mit einem streng militärischen Kordon, unter genauer Untersuchung der Pässe an den Hauptstraßen und mit angelegten Quarantänestationen. Vielfältige Klagen über gehemmten Verkehr und dergleichen bekamen wir in jeder Sitzung zu hören und zu lesen, hatten auch allerdings nicht die Genugtuung, daß in irgendeiner unserer Quarantänen ein wirklicher Cholerafall vorgekommen und somit das Übel doch einmal authentisch mittels dieser Anstalten vom Lande ferngehalten worden wäre, und bei alledem kann ich nicht anders als heute noch, wo ich allein von allen damals mitberatenden ärztlichen Mitgliedern der Kommission übrig bin, die Überzeugung aussprechen, daß diese Absperrung von irgendeinem[514] Einfluß darauf geblieben ist, daß sowohl in dem damaligen als auch in dem folgenden Näherkommen der Epidemie Sachsen überhaupt, und insbesondere Dresden, fast allgemein verschont geblieben ist. Liegt doch in allen Ansteckungsprozessen etwas seltsam Geheimnisvolles, ja man darf sagen Magisches, und wie dieselben in tausend Fällen von den sonderbarsten oft kaum wahrnehmbaren Ursachen abhängen, so ist auch nicht zu sagen, wie bedeutend doch vielleicht eine Maßregel gewirkt habe, welche so viel wenigstens sicher verhinderte, daß, als die Länder noch ganz unberührt, aber furchtsamst aufgeregt dieser fremden Feindin gegenüberstanden, kein erstes Samenkorn derselben bei uns eingeworfen werden konnte.

In solchen Fällen geht es nämlich oft, wie es den Römern ging mit den Elefanten des Pyrrhus; die Neuheit macht den Feind dreimal fürchterlicher, als er in Wahrheit ist, und ist der erste Eindruck der Erscheinung überwunden, so ist es alsbald auch die Erscheinung selbst.

Wir sind in jenen Tagen vielfach über diese Entschließung zur Sperre getadelt worden, und ich würde sicher in jetziger Zeit auch nicht mehr dafür stimmen, allein für damals, bin ich, wie gesagt, noch gegenwärtig überzeugt, war die Maßregel eine vollkommen geeignete. War doch der Zustand unserer Stadt und unsers Landes wirklich ein ganz exzeptioneller; in jeder Familie fast wurden Unmassen von Choleramitteln angehäuft, Cholerabetten und Dampfapparate wurden gefertigt, eigene Ärzte wurden nach Warschau und Berlin gesendet, um in den Spitälern dort die Krankheit zu studieren, und man kann daher wohl denken, daß es für Unzählige jedenfalls ein durch die altbewährten Sicherungsmaßregeln Österreichs gegen die Pest wohl einigermaßen gerechtfertigtes und vielfach beruhigendes Verfahren erschien, daß man nun wußte, der[515] Verkehr mit den angesteckten Orten sei wirklich auf ein Minimum herabgesetzt und jedenfalls somit wenigstens ein Moment der Weiterverbreitung des Übels aufgehoben. Nichtsdestoweniger wurden indes auch im Lande alle Vorkehrungen getroffen, den gefürchteten Gast in geeigneter Weise zu empfangen; überall waren Lokale zu Krankenanstalten vorgerichtet, ich selbst hatte eine Tabelle über Kennzeichen und erprobteste Schutz- und Heilmittel drucken lassen und in meiner Klientel verteilt; kurz, die Tätigkeit, die sich entfaltete, war ganz dem Schrecken gemäß, welcher dem Feinde voranging. Glücklicherweise blieb es wirklich bei dem bloßen Schreck, und die Krankheit ging diesmal, wie auch größtenteils die folgenden Male, gnädiglich an den Grenzen Sachsens vorüber.

In bezug der Fremden, von denen ich schon weiter oben gesagt hatte, daß in diesem Sommer ihrer viele durch Dresden zogen, muß ich doch insbesondere noch des Dichters Oehlenschläger gedenken. Ich lernte ihn kennen bei Prinz Johann, an dessen Tafel ich ihn nebst Tieck eines Tages vorfand. In frühern Jahren hatte mir sein »Correggio«, seine »Axel und Walpurg« und »König Hakon Jarl« wohl ebenso wie sein »Aladin« einen Eindruck gemacht. Er gehörte einer weichen, romantischen Schule an, die damals viele Verehrer zählte und wenigstens durch innerlich wärmere und reinere Gesinnung immer bedeutend die spätern französisch-deutschen Ausläufer jener Literatur der Verzweiflung überragte. Ich fand ihn im höchsten Grade übereinstimmend mit seinen Schriften! Ganz das Gemütliche, Geistreiche, mitunter Breite, Selbstgefällige, ja zuweilen auch ans Leere Streifende, wie es seine Werke bezeichnet, prägte sich ebenso aus in seiner mäßig großen, ziemlich dicken Figur, in dem wohlhäbigen, runden Gesicht mit vorstehender gebogener Nase und in den kleinen lebhaften phantasiereichen Augen. Es tat mir leid, daß er[516] nicht länger hier weilte, ich hätte gern etwas näher mit ihm bekannt werden mögen!

Wir brachten diesmal Spätsommer und Herbstes Anfang in Pillnitz zu, und neben manchen malerischen Studien ergab sich da zum ersten Male mir die Gelegenheit, eins der merkwürdigsten mikroskopischen Geschöpfe vielfältig, ausführlich und in voller Muße zu untersuchen, welches unsere stehenden Wässer darbieten – es war das sogenannte Kugeltierchen, Volvox globator. Viele Zeichnungen wurden davon entworfen, die Prinzen Friedrich und Johann und manche der Damen, auch unsere Freundin Gräfin Einsiedel, besuchten mich auf meinem Zimmer und bewunderten das seltsame Wesen, wenn es in einem Tröpfchen Wasser unter dem Mikroskop, einem rollenden Weltkörper vergleichbar, ruhig dahinzog, und für eine Woche war das Kugeltier somit förmlich in die Gespräche des Hoflagers aufgenommen, wo doch gerade wissenschaftliche Dinge seltener ausgebeutet zu werden pflegten. Die Ausbildung meiner Gedanken über das, was ich »Protorganismen« nenne und als ein eigenes Reich der Indifferenz zwischen den so differenten Reichen des Tier- und des Pflanzenlebens als ein Ursprüngliches in die Mitte stellte, befestigte sich namentlich an diesen Gebilden, und habe ich ihnen daher über Anschauung einfachster Lebensformen für immer viel zu danken gehabt.

Nebenbei befreite mich auch der Pillnitzer Aufenthalt für alle diese Wochen von den Sitzungen in der Kommission gegen die Cholera, als welche meist einen etwas langweiligen und alltäglichen Geschäftsgang darboten; dagegen war damals ernstlich davon die Rede, daß, wenn die Epidemie trotz all unserer Maßregeln Dresden erfassen würde, der Hof in Pillnitz bleiben und auch dort eine Art lokaler Zernierung veranstaltet werden dürfte; Einrichtungen, bei denen freilich alle meine praktischen Geschäfte in der[517] Stadt hätten aufhören müssen. Glücklicherweise trat das erstere nicht ein, und so wurde nun das letztere überflüssig. Am 30. September stand ich noch spätabends in stiller Sammlung auf der Elbterrasse des Löwenkopfes, der Insel gegenüber, hinschauend auf die schlafende Gegend und aufschauend zu den tausend aufgewachten Sternaugen des Himmels, und nahm wieder Abschied von der mir immer lieber werdenden Umgebung. Es war damals ein eigenes Wogen in meinem Gemüt, wie es dort heißt:


Wind ist der Welle / Lieblicher Buhler;

Wind mischt von Grund aus

Schäumende Wogen.


Ich wurde angezogen, ich wurde teilweise abgestoßen, die Bewegung war oft schwer genug zu beherrschen, und wieder war die Ableitung in der Kunst dankbar zu erkennen, welche unter allem Treiben alltäglichen Lebens manche recht hübsche poetische Perle in Form von Bildern an den Strand warf und dabei vieles dazu tat, daß das Gleichgewicht des eigenen Fahrzeuges nicht ganz verlorenging. Eins der besten Bilder aus dieser Periode war eine Erinnerung an Rom: man sieht die Peterskirche, es ist Abenddämmerung. Im Vorgrunde rechts Hügel mit Gewölben von Opus reticulatum, darüber eine junge Pinie. Die Abendröte mit der Mondsichel verglimmt am Horizont. Links auf dem vordern Hügel zwei Gestalten in Mänteln; ich hatte an Michelangelo und Raffael dabei gedacht, und die Bezeichnung mußte deutlich genug sein, denn als ich das Bild Dahl zeigte, fragte er sogleich, ob ich nicht jene beiden gemeint habe. Da ich damals noch mit Regis viel korrespondierte, schrieb ich ihm auch davon, und dies wurde die Veranlassung, es später nach Breslau zur Kunstausstellung zu senden, wo es sogleich angekauft worden ist, so daß ich nie weiter erfahren habe, wem es eigentlich[518] zuteil geworden. Späterhin habe ich alsdann denselben Gegenstand noch einmal, aber mit aufgehendem Vollmonde, ausgeführt, ein Bild, das ich späterhin meiner lieben Schwiegertochter verehrt habe.

So war denn nach und nach wieder ein Jahr vorübergegangen, und gleich der Anfang des folgenden (1832) wurde mir merkwürdig, namentlich durch die Mitwirkung Tiecks zur Feier des 3. Januar, welche nun einmal den Meinigen und unsern Freunden typisch zu werden den Anschein hatte. Es war das erste mal, daß wir ihn mit all seinem feinen Humor so ganz zum engern Kreise zählen durften, und Freund Ungern-Sternberg war es, der ihn für diesen Abend besonders angeregt hatte, indem er einen dramatischen Scherz dichtete, der durchgreifend genug war, um von Tieck mit trefflicher Laune gelesen, eine ganze Gesellschaft von Freunden und Freundinnen in heiterste Stimmung zu versetzen. – Nach dem Vorbilde der »Frösche« des Aristophanes, mit deren Lesung Tieck uns in vorausgehenden Tagen einigemal im engsten Kreise erfreut hatte, war hier geschildert: Dr. Hahnemanns Fahrt in die Unterwelt, um sich einen Nachfolger zu holen. Natürlich geht es ihm dabei nicht besser als dort dem Dichter, der mit Herakles' Keule kommt und nichtsdestoweniger bedeutend geschlagen wird. Der Homöopath muß vor Plutos Thron eine Disputation mit Telesphoros überstehen, der ihn alsbald kurz und vollständig widerlegt, worauf er dann weiter genötigt ist, einer Feier beizuwohnen, welche für einen gerade heute geborenen Arzt und Naturforscher veranstaltet wird, als von welchem man denn allerhand Neues und Großes prophezeit. Die harten Verse der Voßschen Übersetzung des griechischen Lustspieldichters waren hierbei gut genug nachgeahmt, und die grotesk eingewobenen Figuren der Architekten Schurig und Weinbrenner nahmen sich gleichfalls in Tiecks[519] Vortrag gar lustig aus, und so verfloß der Abend völlig zu allgemeinem Ergötzen.

Nebenbei hatte ich auch in den letzten Monaten des vorigen Jahres eine ausführliche Anzeige von der damals mit französischer Übersetzung Sorets neu herausgegebenen »Metamorphose der Pflanzen« von Goethe für die Berliner »Jahrbücher wissenschaftlicher Kritik« geschrieben, und so kam mir nun in einem Briefe Varnhagens von Ense aus Berlin noch ein besonderer Dank des alten Dichterfürsten zu. Was Goethe ihm darüber geschrieben, hatte er nicht verfehlt, reinlichst abzuschreiben und wie nachstehend mir zu senden: »Für die verschiedenen interessanten Mitteilungen danke zum allerschönsten, worunter der liebenswürdigen Anzeige meiner neuesten botanischen Bemühungen von Herrn Carus vor andern erwähnen muß. Es ist so erfreulich, ein klares Wort über das zu hören, was uns im Innersten glücklich macht! Er durchschaut die Natur und wird am besten und reinsten beurteilen, was redlich geschieht, um ihr das Mögliche abzugewinnen. Danken Sie ihm aufs beste, bis ich Raum finde, es selbst zu tun. Sie wissen, wenn man sich zur Abreise anschickt, so finden sich am Ende mehr Schulden und Reste abzutun, als man denken konnte.«

Waren doch ein paar Jahre vergangen, daß ich keine unmittelbare Mitteilung mehr von dem werten Manne erhalten, von Monat zu Monat konnte man dem Verluste des Trefflichen entgegensehen, und wirklich blieb dies denn auch der letzte Gruß an mich; den schon bald nach des Märzen Idus (am 22.) war er uns entrissen. Ich gebe hier, was ich damals darüber an Regis schrieb: »Der lang gefürchtete Schlag ist gefallen! Und wie wir auch vorbereitet zu sein glaubten, so hat uns doch dies wie fast immer so recht unerwartet einbrechende Geschick heftig erschüttert. Ja, mich hat doch dieser Tod eigentlich[520] zwiefach betrübt! Denn er erscheint mir zugleich symbolisch wie der Tod einer Blütenzeit der Nation, und zwar wie der einer Blütenzeit gefüllter Blumen, welche keine oder nur dürftige Früchte hinterlassen; denn gestehen Sie nur, daß von der nächsten Folge in seinem Sinne wenig Trost zu hoffen ist. Wenn ich so die neuesten Schreier deutscher Zunge, Börne und Heine zum Beispiel, betrachte, welche nach Goethes Abgange ihr Wesen um so frecher treiben werden, so kommt es mir wohl vor, als sei auf einem Theater eben aufs würdigste Iphigenia gegeben worden, und nun, während die Lichter verlöschten, stritten sich nur noch widerlich allerhand Statisten hinter dem gefallenen Vorhange. Es liegt mir ein angenehmes Gefühl darin, daß ich glauben darf, meine Anzeige seiner ›Metamorphose‹ habe ihm noch ›vor den letzten Sonnen‹ ein heiteres Wohlgefallen ›abgewonnen‹.«

Das Frühjahr brachte mir übrigens noch vielfache Erinnerungen an den Dahingeschiedenen, und namentlich war es mir höchst interessant, als der langjährige Freund Goethes, der Kanzler Müller, auf einige Tage aus Weimar hier eintraf und ich nebst Tieck mit ihm mich an der Tafel des Prinzen Friedrich zusammenfand. Natürlich gab es hier merkwürdigen Austausch von Mitteilungen! Einmal kamen wir hierbei auf Goethes Ansichten über Dämonologie, und zwar im reinsten Sinne, wo Dämon mit Idee – Urbild – Gottesgedanken – zusammenfällt. Da wurde denn erzählt, wie er sich einmal spätabends darüber ausgesprochen, wie es denn doch so gar verschiedene Dämonen gebe, darunter einige höhern Ranges – Urgeister, welchen die kleinen Dämonen manches in den Weg zu legen suchten, die aber trotz allem doch immer wieder durchdrängen und gewissermaßen schon in ihrem Menschendasein sich von unverwüstlicher Natur zeigten; dann, wie es gar wohl in der Macht des den göttlichen Funken in sich bewahrenden[521] und erhellenden Dämon stehe, zur eigentlichen individuellen Unsterblichkeit sich hindurchzuarbeiten, da der getrübte und schwache dagegen allmählich wie ein Licht verlösche, und dergleichen tiefsinnige Bemerkungen mehr! Endlich aber war er in tiefster Nacht vom Tisch aufgestanden, sagend: »Es ist unrecht, daß ich mich über diese Dinge hier so ausspreche, darüber spreche ich eigentlich nur mit Gott!«

Müller selbst, damals ein Mann in den höhern Fünfzig, machte mir überhaupt einen günstigen Eindruck! Ich sah ihn öfters, und er kam späterhin nie nach Dresden, ohne mich aufzusuchen. Man durfte von ihm sagen, daß er ganz in seinem großen Freunde lebte. Auch von dem vollendeten Faust erzählte er viel, wie ihn Goethe vor seinem letzten Geburtstage versiegelt und darüber bestimmt habe, daß er erst nach seinem Tode bekanntgemacht werden solle; ja auch von andern Sachen, welche dalägen und erst im Jahre 1850 zu eröffnen sein würden usw.

Andere Mitteilungen über Goethes letzte Tage kamen brieflicherweise nach Dresden durch Fräulein Seidler, die Malerin, doch zeichne ich dies hier nicht auf, da seitdem all dergleichen längst öffentlich vorliegt. Es war mir wirklich zu jener Zeit, als habe sich die Atmosphäre etwas verfinstert, und so traf es sich glücklich genug, daß diesmal gerade das Frühjahr uns nach Pillnitz rief, wo ich eben ein kleines Landhaus für eine mäßige Summe käuflich an mich gebracht hatte, dessen Einrichtung und einfache Verzierung denn nun etwas mehr Bewegung in unser Leben bringen mußte. Fehlte es doch außerdem nicht, daß zuweilen das Einerlei des Geschäftslebens, wie es meine zu jener Zeit sehr ausgebreitete Praxis mit sich brachte, mir wieder, wie in alten Tagen, manche schwarze Stunde machte, woran freilich hier und da ein tieferer, unruhiger Herzschlag und manches ungestillte Sehnen zugleich seinen[522] Anteil haben konnte. Diese ewigen Repetitionen des Lebens, die doch, weil sie wieder irgendeinem fremden Leben sehr wichtig sind, auch ihren eigenen Ernst fordern, braten mich mitunter an einem gelinden Feuer. Da zuckt und windet sich denn zuweilen die arme Seele an der Lebensnadel wie der Schmetterling an der Todesnadel, und beide werden dabei schwach, bis sie wirklich verenden. Beim Himmel, es macht mir zuweilen eigene Gedanken, wenn ich darauf komme, daß solches Einerlei täglichen Treibens uns am Ende so weich machen könnte, daß man dann für die letzten Lebensjahre kein Mark mehr in den Gliedern behielte; oh, dann lieber fort und dahin zur rechten Zeit, wenn wir noch frisch und frei zum Sternenzelt aufblicken können!

An dergleichen kranken Stimmungen mochte es indes auch mit Anteil haben, daß ich zu jener Zeit mehrfach von hypochondrischen, ja zum Teil an wahrer Monomanie leidenden Kranken heimgesucht wurde, die mit ihren verrückten Vorstellungen mich auf Schritt und Tritt verfolgten und oft nur schwer einigermaßen gebessert werden konnten. Wenn ich mich indes all dergleichen innerer und äußerer Trübung nicht immer vollständig entschlagen konnte, stellte ich mich wohl vor des ehrlichen Albrecht Dürer »Ritter mit dem Tod und Teufel«, von dem mir durch unsere Freundin, Gräfin Einsiedel, aus den Reibersdorfer Sammlungen ein vorzüglich schöner Abdruck zugekommen war, der stets neben meinem Pulte hing, und sah dem alten Kriegsmann fest ins Gesicht, wie da alle Nachtgespenster ihm doch nichts anhaben dürfen, eben weil er es vollkommen versteht, den Teufelsspuk entweder unter die Hufe seines Rosses zu bringen oder ihn tapfer an die Lanze zu spießen. Beruhigter wandte ich mich dann gewöhnlich dem wirklichen Leben wieder zu!

Wir lasen bei diesem zweiten Landaufenthalte einmal[523] wieder die Goetheschen »Wanderjahre« durch, und es war natürlich, daß jetzt, wo all unsere Gedanken noch so ganz vom Bilde des Verfassers erfüllt waren, dies merkwürdige Werk mit um so schärfern Zügen sich wieder einprägte. Dies ist auch eins von den Büchern, von denen Carlyle sagt, daß ihre Kenntnis erst nach fünfzig Jahren zur Sprache der Tagesblätter durchgedrungen sein werden. Nach welchen Regionen streckt nicht dieser gewaltige Geist da seine Fühlfäden aus! Ist er nicht selbst ein Makarios, dessen Schauen auf geheimnisvolle Weise durch das gesamte Sonnensystem sich ausdehnt? – Auch ein Bild ging endlich aus all diesen Gedanken hervor, das wohl verdient, daß ich seiner etwas ausführlicher gedenke, zumal da ich noch einiges Hübsche mitteilen muß, was Tieck einst vor demselben uns aussprach. Da ich nämlich außerstande war, dem Dichter das Monument zu errichten, dessen er würdig war, so hatte ich versuchen wollen, ein solches zu malen. Man sah da also in klarem Sommermondschein in ein wunderbares Felsental hinein, wo auf großer, von Klippen umragter Platte ein dunkler Sarkophag sich erhob, dessen Mitte eine hohe metallene Harfe zierte, zu deren beiden Seiten Bilder von betenden Engeln knieten, von Nebelsilberduft umzogen und von schlanken Tannen überwachsen. Das ganze Bild trug den Ausdruck von Stille, Einsamkeit und Klarheit und ziert noch, indem ich dieses schreibe, unsere Zimmer. Eine eigene Begeisterung wehte in dem Ganzen, und es verfehlte nicht seinen Eindruck auf viele, die es betrachteten.

Einst kam Tieck mit Ungern-Sternberg um Mittag zu uns, und in günstiger Beleuchtung stellte ich ihm das fertige Bild vor. Auch bei ihm war sofort eine tiefere Bewegung unverkennbar, und endlich sagte er: »Ach, warum habe ich doch nicht den Plan einer Dichtung ausführen können, die mir so lange in Beziehung auf Goethe[524] im Geiste vorschwebte und an welche mich nun der Blick auf diese tiefe Einsamkeit lebhaft erinnert! So hatte ich wollen das Märchen von der schlafenden Schönen neu umgestalten. Die deutsche Poesie sollte es sein, die unter dem Bilde der schlafenden Königstochter mitten in einer Wildnis und verborgen von Fels und Dorngesträuch schlummerte, bis der glückliche Jüngling geboren wurde, dessen Bestimmung es war, den Zauber zu lösen. Endlich kam denn der Auserwählte; als getreuer Eckart erschien ihm der ehrliche Meister Hans Sachs, der vor ihm die Dornen auseinanderbog, und so drang er denn durch alle feindlichen Mächte, küßte die Schöne auf den Mund, dieser öffnete sich, und Goethes Dichtungen drangen hervor zum Erstaunen der Welt.« – Leider hat wirklich Tieck nie diese schönen Gedanken ausgeführt!

In diesem Jahre ging denn auch ein anderer Geist aus diesem Leben, der meinem Denken vielfältig Anregungen gegeben: Krause starb in München, wo er noch einige Jahre Vorlesungen gehalten hatte, und ließ auch dort mehrere enthusiastische Verehrer, seine Familie aber in sehr dürftigen Umständen zurück. Ich hatte übrigens in den letzten Jahren keinen weitern Verkehr mit ihm gehabt und kann auch nicht sagen, daß mir seine spätern Schriften einen irgend nachhaltigen Eindruck gemacht hätten. Ist doch gewiß kaum sonstwo der Boden so gefährlich für den Geisteswanderer als im Empyreum der Philosophie! Nirgends mehr als dort straft sich die Einseitigkeit so sehr, nirgends ist die Versuchung, sich ganz und gar in sich einzuspinnen oder zu verbeißen, so groß, und nirgends wird dann der Wissende auch so von der Menschheit allein gelassen als hier. Krause hatte manche schwere Erfahrungen der Art zu machen gehabt, und doch war er eine so sehr bedeutende Erscheinung im Felde des Geistes.[525]

Noch kam es vor, daß das schöne Oktoberwetter uns alle einmal wieder in die Berge der Sächsischen Schweiz lockte, wo wir denn auf der mächtigen Platte des Prebischtores eines der prachtvollsten Sonnenuntergänge, die man sehen kann, uns erfreuten. Das tiefblau Nebelhafte der gewaltigen Talgründe, der ernste Ton der Felswände und das zauberhafte Schimmern des Abendgewölks, über dem die Mondsichel hervortrat, während unter ihm die glühende Kugel der Sonne rein hinter dem fernen Geising des Erzgebirges hinabstieg; es war ein unvergeßlicher Eindruck! Ich fühlte wohl, wie frisch belebend dies Aufatmen in freier Luft wieder auf mich gewirkt hatte, so daß ich mit ungewöhnlicher Empfänglichkeit an einem der nächsten Abende Tieck den »Macbeth« vorlesen hörte und mit größerer Ruhe und Festigkeit nun den Blick auch in solche Abgründe der ethischen Natur des Menschen versenken konnte.

Ein merkwürdiges Gegengewicht gegen all dergleichen Höhen und Tiefen gewährte es übrigens, wenn ich dann wieder der fortgesetzten Überlieferungen des Kanzler von Müller über Goethesche Lebensweisheit gedachte. Er sagte uns da einmal: »Von Rom her, aus der Mitte reichsten und großartigsten Lebens, datiert sich die ernste Maxime der Entsagung, die Goethe sein ganzes Leben hindurch geübt hat und in der er die einzig sichere Bürgschaft innern Friedens und Gleichgewichts fand.« Es traf mich damals dies Wort, was doch eigentlich nur die alte Inschrift vom Tempel zu Delphi »nichts zuviel« bedeutet, sehr eigentümlich und erschloß mir gewissermaßen zum erstenmal seinen tiefern Sinn. Entsagendes Zusammenhalten eines vollkräftigen Daseins, die Wurzel hoher freier Tätigkeit in den Reichen des Geistes! War es nicht diese Zauberformel, der Goethe den wesentlichsten Teil seiner Titanenkunst zu danken hatte? Und wie sehr mißverstehen[526] ihn die, welche ihn nur als in jedem Überfluß schwelgend sich vorzustellen gewohnt sind! Bedenke ich das und wieder alle Erfahrungen der letzten Tage, so flammt eine Stimmung hervor, wie sie zu allem Tüchtigen und Schönen das rechte Aufgelegtsein gibt. Möge diese Flamme in solcher Glut sich erhalten, sie wird dann unfehlbar zu den rechten Werken leuchten!

Endlich kam denn auch Humboldt in dieser Zeit abermals nach Dresden, und da ich ihn diesmal nicht bloß im stillen Raume des Studierzimmers, sondern auch in einer kleinen Abendgesellschaft bei Prinz Johann sah, so wurde mir zum erstenmal jener geglättetste Weltton und große Volubilität der Sprache auffallend, die es bei ihm für einen Augenblick zweifelhaft lassen können, ob er mehr dem Salon oder mehr dem Museum ursprünglich gehöre. Die Spitze solcher Äußerungen war es, als er mit humoristischer Ausführlichkeit aus seiner sibirischen Reise beiden Prinzen die Einrichtungen in den kleinen Tempeln der Diener des Buddha beschrieb, wo bald Windfahnen, bald Wasserräder sich angebracht finden, um durch ihre Bewegung das Umdrehen jener geschriebenen Gebetrollen zu bewerkstelligen, worin dort ein wesentlicher Teil des Kultus besteht; und als er dann auf die Frage, was denn in aller Welt ein solches mechanisches Drehen helfen könne, mit größter Geläufigkeit und äußerster Leichtigkeit des Tons hinzufügte: »Ebensoviel als wenn man selbst betet, königliche Hoheit, aber es ist bequemer!« – Den Mann der Wissenschaft in ihm zog ich indes immer dem Manne des Salons vor, obwohl selbst diese letzte Eigenschaft in ihm viel genützt hat, um im großen und ganzen an einflußreichen Orten zum Besten der Wissenschaft zu wirken.

Was mich betraf, so blieb mir, mitten unter anstrengenden literarischen und praktischen Arbeiten, nächst der[527] edeln Malerkunst, die Musik (obwohl ich diese nie selbst übte) eine besondere Freude und Kräftigung. Es gelang in diesem Herbste wieder einmal, die alten schönen Hymnen von Palestrina, Vittoria und Lotti durch Schneiders Mitwirkung in unsern Räumen zur Aufführung zu bringen, und über manche andere gehörte große musikalische Werke schrieb ich von diesem Jahre an mitunter Gedanken nieder, welche zum Teil in meiner »Mnemosyne« abgedruckt worden sind und hier und da wohl einige Zustimmung gefunden haben mögen. Freilich darf ich auch nicht verschweigen, daß damals, und so das ganze folgende Dezennium, die Musik in dem merkwürdigen und in dieser Macht und Schönheit wohl so leicht nicht wiederkehrenden Genius der Schröder-Devrient hier einen Vertreter gefunden hatte, welcher selbst die Trägen und wenig Begabten hinriß, den Wissenden und Empfindenden aber ein fortwährender Gegenstand des Studiums und der Bewunderung blieb. Es liegt in dieser Frau etwas, das durchaus zur Antike hinanstrebt. Eine volle, große gesunde Natur, welche die Kraft sich bewahrt hat, einen Gedanken Mozarts vollständig zu fassen! Das Rezitativ »Schon sank der Abend nieder« habe ich noch nie so singen hören. Alle Glut eines italienischen gewitterhaften Abends breitete sich über die mächtig gehaltenen Töne! Ist es doch wunderbar mit so einem herrlich gewaltigen Werke wie dieser »Don Juan«! Das kommt immer so von Zeit zu Zeit wie Mahadö aus den himmlischen Regionen herab, schwebt, mehr oder weniger getrübt und verdunkelt von irdischem Dunst und Rauch, einen Strich über die Erde hin und verschwindet dann wieder in Nacht und Öde; in sich aber ist es ewig, und in dauernden Gedanken vermögen wohl auch wir es uns so zu befestigen.

Überlege ich jetzt manchmal alle die großen und schönen Einwirkungen, die ich in solcher Weise erfahren habe, so[528] erkenne ich recht deutlich, wie mein inneres Wissen und Erkennen in seinem ganzen Umfange keineswegs etwa bloß durch den und an dem Buchstaben der Überlieferungen fortgewachsen ist, sondern wie alles dies einzelne konkrete Schöne so ganz besonders dazu beitragen mußte, mich auch im Abstrakten zu erleuchten und zu klären, ja ich erwähne das ausdrücklich hier um so mehr, da mir oft scheinen will, daß der echte platonische Kultus des Ur-Schönen in der Neuzeit weit mehr als billig vernachlässigt zu werden pflegt.

In Wahrheit lag mir dieser Kultus von jeher tief im Blute, und ich entsinne mich, daß ich deshalb selbst mit sonst Nahestehenden, zum Beispiel mit Regis, den bei aller Tüchtigkeit ein gewisser angeborener Zynismus zu Dingen nach Art des Gargantua von Rabelais herunterziehen konnte, mancherlei Streit und Zwiespalt erlebte. Wirklich sendete der Genannte mir seinen verdeutschten Rabelais mit dem Anfange des Jahres 1833 fertig zu, und wie sehr sich mein Sinn doch unwiderruflich gegen alles empörte, was gleich diesem von der Sonne der höhern Schönheit sich abkehrt, entnimmt man am besten aus folgender damals geschriebenen Erwiderung: »Sage Ihnen also für diesen hänflichen sinnigen, pampigen innigen, reckenhaft minnigen Wälzer besten Dank und weiß wohl, daß es nicht fehlen wird, daß eine so tüchtige Arbeit auch allgemeinen Dank kritisch Belesener deutscher Zunge Ihnen zuziehen wird. Schon klingt dergleichen aus Wolfgang Menzels Literaturblatt und aus Tiecks Worten wie aus denen des ästhetischen Gastronomen oder gastronomischen Ästhetikers Rumohr hervor. Möchten Sie sich nur auch schnell noch den zweiten literarisch-kritischen Teil vom Halse schaffen, damit diese Ihre ›Zootomie‹ nicht so weit hinter meiner Zootomie zurückbleibt, und dann lüften Sie sich wieder im Freien! War gewissermaßen[529] in Zweifel, ob man die ›Anatomie der Fastnacht‹ nicht geradezu in die vergleichende Anatomie der Tiergeschlechter aufnehmen sollte, denn am verfänglichsten ist offenbar der Wille dieses Untiers ›wie drei Nuß in einer Schal‹, doch wollen wir ihn einstweilen noch bei den Menschen lassen, wenn auch mehr bei den Calibans.«

Wie groß erschien mir jetzt dagegen der Genius Goethes, selbst bei allem scharf naturalistisch Gezeichneten im »Faust«! Ich hatte dazumal gerade in einer Auktion das sonderbare Buch erstanden: »G.R. Widman wahrhaftige Historie von den grewlichen und abschewlichen Sünden und Lastern des Dr. Joh. Faustus (Hamburg 1599)«, und wenn man da einen Blick hineintut und bedenkt, was der Dichterfürst aus solchem Stoff geschaffen hat, dann erst muß man ihn recht verehren!

Wirklich war es übrigens auch für mich eine besondere Segnung des neuen Frühjahrs 1833, daß mir nun wirklich die Vollendung des zweiten Teils von »Faust« zukam. – Bevor ich indes noch dazu gelangte, mich hier tiefer zu versenken, diente mir fürerst eine Aufführung der Passion des Sebastian Bach zu wahrer Erhebung. Diese Passion (sie wurde am Palmsonntage mit großem Komitat im alten Opernhause aufgeführt) ist ein Werk, welches ganz den Eindruck jener alten, großen, gotischen Münstergebäude mir erneuert hat und in welchem die großartigste, reinste und andächtigste Gesinnung sich mit unendlicher Zierlichkeit der Ausführung paart; was aber die Goethesche Beschließung des »Faust« betrifft, so zähle ich auch sie zu dem Gewaltigsten von allem, wessen der Geist des Menschen jemals Meister geworden ist. Freilich liegt das Werk da wie die Partitur einer großen Symphonie! Nur dem, der Noten lesen, der sich den Klang und die Harmonie aller Instrumente bei den[530] schwarzen Notenköpfen deutlich machen kann und der zugleich den Geist mitbringt, die durchgeführte Idee des Meisters zu fassen, dem ist eine solche Partitur etwas, während ein anderer, Nichtwissender, wohl imstande ist, das alte Papier ruhig liegenzulassen, ja es als Makulatur zu verwenden. Und ist es doch immer so! Die Totalität des Menschen ist es, worauf alles zuletzt ankommt. Nur der tüchtige, der edelgesinnte Mensch wird etwas wahrhaft Tüchtiges, etwas Edles vollbringen, und sei es die kleinste Handlung, das kleinste Gedicht, es wird stets den Abdruck des Ganzen tragen!

Wie gesagt, jene Fortsetzung und Beschließung des »Faust« wirkte nun, je weiter ich eindrang, um so mehr; ich sprach Freunde und Bekannte viel darüber, hielt auch einst in der früher gedachten Löwensternschen Familie, wo noch andere Freunde und Freundinnen sich versammelt hatten, einen eigenen Vortrag über dieselbe, die prägnantesten Stellen lesend, das übrige aber erzählend und möglichst erklärend, und so kam es endlich auch, daß bald nachher sich in meinem Geiste die Grundgedanken zu jenen »Drei Briefen über Goethes Faust« kristallisierten, welche allerdings dann erst im Jahre 1835 herauskamen, dafür aber auf lange hin manchen strebenden Gemütern zugute gekommen sind und ihnen geholfen haben, in diesem ungeheuern Werke mehr und mehr sich zu orientieren.

Gleichsam als ein Ausruhen von dergleichen schweren Gedanken beschäftigte mich nebenher in einzelnen Mußestunden auch die Lektüre der »Promessi sposi« des Manzoni, auf welche mich namentlich Tieck gebracht hatte, der sie selbst sehr hoch hielt und dem ich bald hierin vollkommen beistimmte. Diese klare reine Gesinnung, diese Kraft der Plastik, diese Frische der Schilderung und dieser echt italienische Hauch, der sich über das Ganze breitet,[531] sie hielten mich lange fest und lassen mich jetzt noch oft wünschen, daß dem Werke größere Beachtung des an dergleichen Erzählungen sich erfreuenden Publikums zuteil werden möchte!

Was Tieck selbst betraf, so feierte er am letzten Mai dieses Jahres seinen sechzigsten Geburtstag, und da ich ihm doch einigermaßen zu vergelten wünschte, was er durch seine Lektüre so oft in mir gewirkt hatte, so widmete ich ihm ein im letzten Winter entstandenes Bild, gemalt nach der um die Weihnachszeit gesehenen wunderbar schönen Konstellation dreier Planeten mit dem Neumonde, und gab dazu jenes kleine Gedicht, welches so viel später am Schlusse des gedachten Aufsatzes über Tieck in Raumers »Historischem Taschenbuch« (1845) abgedruckt ist, ursprünglich aber gewissermaßen zur Erklärung jenes Bildes dienen sollte.

Wir waren diesmal schon im Frühjahr in Pillnitz, ich aber kam zu jenem Tage herein nach der Stadt und fand den Dichter in seiner Wohnung am Altmarkte gegen die Mittagsstunde, umgeben von Frau und Töchtern, Gräfin Finkenstein und einer Menge glückwünschender Freunde und Freundinnen, heiter, bequem in seinem Armstuhle sitzend und ironisch wohlwollend alle Huldigungen in Empfang nehmend. Ach, er sollte sich auch nicht lange mehr eines so vollzähligen Kreises erfreuen!


Eine zweite längere Exkursion und gesellige Unterbrechung meiner einsamen Tätigkeit gab dann im September meine Reise nach Breslau zur elften Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte. Den 15. September abends fuhr ich im Eilwagen dahin ab, mit der Aussicht, diese Nacht, dann den ganzen Tag und dann wieder eine Nacht zu fahren und erst den 17. September früh anzukommen, eine Zeit, welche jetzt kaum mehr gebraucht[532] wird, um bequem Paris oder London zu erreichen. Die erste Nacht hielt der Postwagen über eine Stunde in Bautzen sich auf, und ich war somit wieder nahe bei jenem Schlosse, wo ich kurze Zeit zuvor ein paar so schöne Tage verlebt hatte. Ich wanderte eben gedankenvoll im Sternenlicht durch die mitternächtigen Straßen, aber bald rasselte der alte Postwagen über das holpernde Pflaster, und der in unsern Tagen fast schon mythisch gewordene Ton des Posthorns versammelte alsbald auch die andern schlaftrunkenen Passagiere unter seinem braunledernen Dache. Die Versammlung selbst war sehr zahlreich und fand für die öffentlichen Vorträge in der prächtig dekorierten, noch aus der Jesuitenzeit stammenden Aula ein sehr schönes Lokal. Auch Humboldt war damals anwesend und trug zuerst den später im »Kosmos« erschienenen Aufsatz vor: »Über Einfluß der Landschaftsmalerei und des Anbaues exotischer Gewächse auf Belebung des Naturstudiums.« Die übrigen Vorträge wechselten in interessanter Folge, und in der dritten öffentlichen Versammlung gab auch ich eine Abhandlung über ein seltsames parasitisches Geschöpf (Leucochloridium parodoxum), welches das Innere einer Schnecke (Succinea) bewohnt und zuweilen bis in deren Fühlhörner heraufsteigt, diesen dann ein sonderbares weiß- und grüngestreiftes Ansehen verleihend. Es war eine Entdeckung, die ich mit Freund Thienemann auf der Pillnitzer Insel gemacht hatte.

Da ich für Vollendung meiner zweiten Ausgabe der vergleichenden Zootomie noch einiges auf dem großen Museum zu Berlin nachzusehen wünschte, so nahm ich meine Rückreise über dort, und Regis begleitete mich bis dahin. Der König hatte aber damals, nicht ohne Beirat Humboldts, die Pfaueninsel bei Potsdam zu einer Art von kleinem naturhistorischem Paradiese umgestalten lassen,[533] und man sah da eine Menge seltener ausländischer Tiere (wie jetzt im Zoologischen Garten bei Berlin) teils frei in Gehegen, teils in zweckmäßig angelegten Häusern; besonders aber wurden die Fremden durch das schöne und geräumige Palmenhaus angezogen, welches, im indischen Stil reich verziert, wirkliche Prachtexemplare verschiedener Palmen, baumartiger Farnkräuter, Calladien, Pothos und prächtiger, gleich zart gewirkten Vorhängen von den Galerien niederschwebenden Lianen enthielt. Nicht minder waren Rauch und seine jüngst vollendeten Werke etwas, das mich wieder sehr in Berlin festhielt. Diesmal folgte mir die »Jungfer Lorenz auf dem Hirsch«, dieses reizendste derartiger modernen Sachen, von seiner eigenen Hand verehrt, auf meiner Heimkehr bald nach. Es ist die eigene Frische, das schöne lebendige Gefühl in seinen Werken, was uns so anzieht! Und wenn ich bedenke, daß seit der Zeit, wo er dies ebengenannte Werk schuf, seine Produktivität noch ziemlich ein Vierteljahrhundert vorhielt, ja sich erhöhte und jetzt, da ich dies schreibe, noch immer fortgrünt, so muß ich auch darin etwas von Goethescher Natur unbedingt anerkennen. Als Erinnerung an einen andern, hinsichtlich der Dauer und Tüchtigkeit mehr als der schönen Produktivität nach ihm verwandten Berliner, kam mir übrigens bald nach meiner Rückkehr eine interessante Neuigkeit zu Händen: es war der erste Band des Goethe-Zelterschen Briefwechsels. Ich hatte mit Tieck damals einigen Streit darüber, der den Zelter gar zu gering hielt und nicht vergessen konnte, daß er einst Goethe brieflich fragt, was denn »Byzanz« sei, während mir doch gar wohl verständlich wurde, warum dieser Dichter gerade diesen Lebens- und Musikkräftigen sich insbesondere zu solchem Gedankenaustausch ausgesucht habe. Zwar schrieb ich einst auch von ihm, »es sei doch immer ein Zelter neben einem Pegasus«, indes ist späterhin[534] meine Freude an seinem Wesen stets mehr und mehr im Steigen geblieben.

Beiläufig war ich nun auch während des Breslauer Aufenthalts mit einigen Dantophilen über meine Zeichnung des Höllentrichters aus der »Divina Commedia« insofern in Streit geraten, als man meine Ansicht angriff, nach welcher der Berg der Läuterung im Purgatorio in des Dichters Sinne doch nur der umgekehrt an der andern Erdhalbkugel nach außen gedrängte Höllentrichter selbst sein könne, auch Dante eigentlich in diesem Bilde es nur habe anschaulich machen wollen, wie Geburt und Tod im Naturganzen überall die ewigen Gegensätze bleiben, welche dadurch, daß sie einander stets wechselseitig bedingen, ebenso die eine Welterscheinung notwendig hervorbringen. – Ich ließ mich indes von jenen Widersprüchen um so weniger irren, als ich nicht verkennen konnte, daß die verschiedenen Abtiefungen der Hölle offenbar den verschiedenen Bergesstufen der Läuterung auf der andern Seite vollkommen entsprechen und man überhaupt gewiß sein kann, bei Dante immer um so weniger zu fehlen, je tiefsinniger man ihn nimmt. Übrigens hängt es doch (beiläufig gesagt) meist nur von der Stimmung des menschlichen Gefühls ab, ob uns ein und dasselbe ewige Weltganze zuletzt entweder als fortgehende stete Zerstörung oder als unausgesetzte Schöpfung erscheinen soll! Und geht denn nicht diese Ansicht selbst über auf die Offenbarung der besondern Idee, welche auch nicht anders als im steten Wechsel von Untergang und Aufgang hervorzutreten imstande ist! Schrieb daher in dieser Beziehung noch nach meiner Rückkehr an Regis: »Fortdauer der sich bewußt gewordenen Idee als Individuum ist Grundansicht meines Denkens, aber Fortdauer in Metamorphose, mit Abstreifung aller Zufälligkeit der Existenz und immer neuer Entfaltung desselben ewigen Geistes,[535] derselben Monade und in stets neuer Form. Goethes Faustschluß enthält hierüber Herrliches! Wie ahnet man da ein neues Aufgehen von Fausts Grundidee in einer reinern höhern Sphäre!« Könnte denn doch auch nicht sagen, daß ich so viel später irgend Ursache gefunden hätte, von diesem Glaubensbekenntnis wieder zurückzuweichen!

So kam denn nun allmählich wieder der Herbst heran. Im Oktober übernachteten wir noch einmal in der Sächsischen Schweiz auf der Bastei, ich namentlich, um die wunderbaren Wirkungen des Mondlichts auf diesen gewaltigen Felsmassen zu studieren, und ein Aufsatz, der späterhin in der zweiten Auflage meiner Briefe über Landschaftsmalerei abgedruckt worden ist, kann noch jetzt Naturfreunden einigermaßen den Eindruck vergegenwärtigen, den dieses Licht neben diesen Abgründen dort in einer Mondnacht hervorbringt. Man sage nicht, daß man die ganze Wirkung des Mondlichts kenne, wenn man es nicht über eine solche Natur gebreitet gesehen hat.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 510-536.
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