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Die erste und größte Wohltat Gottes war es, mich von so guten und frommen Eltern geboren und erzogen werden zu lassen. Die Sterne, unter denen wir geboren werden, das sind unsre Eltern, die Zeit, der Ort, die herrschende Religion.
Mein Vater, dessen Bild noch immer ehrwürdig vor meiner Seele steht, war ein streng rechtschaffner, frommer, biblisch gläubiger Mann, von hohem, edlen Geist, gründlicher Gelehrsamkeit und unermüdeter Arbeitsamkeit und Gewissenhaftigkeit in seiner Kunst, – nur leider mehr zu trüber, hypochondrischer Gemütsstimmung geneigt, als zu heiterer. Die Mutter von sanftem, liebevollen Charakter, deren Hauptstreben es war, ihre Kinder zeitig an Frömmigkeit und Tugend zu gewöhnen. Es gehört zu den Erinnerungen meiner frühsten Kindheit, und wodurch der erste Keim von Gott und Gottesverehrung in mich gelegt wurde, daß die liebe Mutter jedesmal, wenn sie mich zu Bett legte, mir ein kurzes Gebet vorsagte und mich einsegnete. Die ersten zwei Jahre meines Lebens brachte ich in Langensalza[25] zu. Von dieser Zeit weiß ich mich nichts zu erinnern, sie ist dunkle Nacht. Nur ein einziger Punkt glänzt wie Feuer aus dieser Nacht in meinem Gedächtnis auf, nämlich der Zeitpunkt, wo ich bedeckt mit den furchtbarsten natürlichen Pocken, gleichsam auf einem glühenden Rost gebraten in meinem Bette lag, und ich sehe noch den hinzugerufenen Baldinger vor meinem Bette sitzen. In Weimar wohnten wir zuerst im Rentfischen (nachherigen Bernstorffischen) Hause, was ich mich noch sehr gut erinnern kann. Am lebhaftesten steht vor mir der Tag, wo ich die ersten Hosen bekam (sie waren von weißem Leinen mit blauen Streifen) – ein Beweis, wie wichtig dieser Moment für einen Jungen ist.
Im Jahre 1767 bezogen wir ein eignes Haus, was der Vater am Markte gekauft hatte, und was mir wegen dieser lebhafteren Lage und wegen des schönen Gartens sehr angenehm war. In dieser Zeit fing ich an die Buchstaben zu lernen. Auch besuchte ich oft den alten Großvater, einen alten ehrwürdigen Mann mit einer Allongenperücke. Er war ein grader ehrlicher Pommer (aus Stolp) und dabei von heiterm Humor, so daß ich von den Tanten oft zu Verkleidungen und kleinen Possenspielen benutzt wurde. Auch erinnere ich[26] mich, von ihm die lateinischen Buchstaben schreiben gelernt zu haben. Im Jahre 1768 starb er, und da es mit meinem Lernen nicht fort wollte, ich auch ziemlich unartig war und der lieben Mutter nicht folgte, der Vater aber den ganzen Tag in praktischen Geschäften außer dem Hause war, so wurde beschlossen, einen Informator (so hieß es damals) anzunehmen.
Zuerst erhielt ich einen Magister Senfting, der, ein gar lustiger Bursche, wahrscheinlich alles mit mir spielend treiben wollte, mit mir auf der Erde herumkroch, mich auf sich reiten ließ usw. Aber ich lernte nichts dabei, und da er, wie ich hinterdrein erfuhr, auch nicht der strengste in der Sittlichkeit war, so wurde er nach einem Jahr wieder entlassen. Nun bekam ich aber einen andern Erzieher von ganz entgegengesetzter Art, der 10 Jahre lang bei mir blieb und dessen Einfluß für mein ganzes Leben, und nicht bloß für meine Studien, sondern auch für meinen Charakter, entscheidend gewesen ist. Es war ein Kandidat der Theologie Restel aus Zürbig, schon über 30 Jahr und schon seit 6 Jahren Hofmeister, ein ernster, strenger, hagerer, wenig sprechender Mann, mit einer Habichtsnase, ja einem völlig ciceronianischen Gesichte (ganz ähnlich der Büste Ciceros, selbst die[27] Cicer nicht zu vergessen). Er war ein Schüler Ernestis in Leipzig, philosophisch und theologisch gründlich gebildet, aufgeklärt, insofern dies Freiheit von allem Aberglauben und Mystizismus heißt, aber festhaltend am lutherischen Bibelglauben und an den Grundsätzen der alten strengen Erziehung. Er nannte mich Er, sprach außer den Schulstunden wenig mit mir, freundliche Worte oder Mienen waren Seltenheiten, Lachen kam gar nicht vor. Unbedingter Gehorsam, Verbot alles Widerspruchs, pünktliche Beobachtung der Schulstunden, Auswendiglernen (besonders von lateinischen Vokabeln), anhaltender Fleiß und Beschäftigung, genaue Beobachtung von Zeit und Ordnung, und bei Übertretungen strenge Verweise, selbst körperliche Züchtigungen, das waren die Grundzüge. Die Einteilung des Tages war folgende: Früh 6 Uhr aufgestanden, dann ein Frühstück von Milch und Semmel, Ankleiden, Vorbereiten zu der Schule, halb 9 Uhr Butterbrot oder Obst, von 9–12 Uhr Schule, dann Mittagessen, nachher bis 3 Uhr Bewegung im Garten oder Hause, von 3–5 Uhr Schule, dann Vesperbrot von Obst oder Brot mit Salz oder ein wenig Zucker, dann Spaziergang im Webicht oder im Winter oder bei schlechtem Wetter eine Selbstbeschäftigung,[28] um 7 Uhr frugales Abendessen (eine Suppe mit Brot, entweder mit Obst oder Butter oder Mus oder Möhrensaft). Dann bei den Geschwistern und von 8 bis 9 Uhr bei dem Vater mit den Schwestern, wo ich gewöhnlich etwas vorlesen mußte, dann wieder zum Hofmeister auf dessen Zimmer, hier noch lesen oder Auswendiglernen. Gewöhnlich übermannte mich der Schlaf, dann mußte ich stehen, aber auch im Stehen schlief ich oft ein. Dann zu Bette, in welchem ich die Hände falten und den lutherischen Abendsegen nebst Vaterunser beten mußte.
Jeden Sonntag wurde in die Kirche des Vormittags gegangen, auch zuweilen noch Nachmittags.
Die Einrichtung in der Schule, wobei auch die Schwestern größtenteils gegenwärtig waren, war folgende. Zuerst jeden Tag ein Kapitel in der Bibel vom Anfang an gelesen (daher ich auch die Bibel wenigstens vier mal ganz durchgelesen habe), dann Theologie nach einem von Restel selbst aufgesetzten streng dogmatischen Entwurf in Fragen und Antworten, – alles, besonders die Sprüche auswendig zu lernen. Dann Latein und in der Folge noch Griechisch. Hierbei hatte er eine sehr gute Methode. Die besten Autoren wurden kursorisch durchgelesen, dann schriftlich ins Deutsche[29] übersetzt (wobei zugleich die deutsche Orthographie und Stil korrigiert wurden) und dann Rückübersetzung ins Lateinische. So habe ich eine Menge Autoren ganz durchgelesen. Die alten Sprachen waren die Hauptsache des Unterrichts. Nebenbei Geschichte, Geographie und Naturgeschichte; auswendig lernen mußte ich nur die lateinischen Vokabeln.
Ich kann diese Unterrichtsweise nicht genug loben und meinem Lehrer danken, besonders das Auswendiglernen der Bibelsprüche und guter Verse. – Sie haben mich wie gute Engel durch mein Leben begleitet – und oft in größter Not, Gefahr, Versuchung, ist mir ein solches Wort aus der Bibel vor die Seele getreten und hat mich gestärkt. Wieviel verdanke ich in der Not den Worten: »Befiehl du deine Wege«, und in Versuchungen den Worten: »Wie sollt ich ein solch groß Übel tun und gegen meinen Gott sündigen«.
Gesellschaft hatte ich nur Sonntags nachmittags und auch da nicht immer. Es waren die jungen Leute der Familien, welche auch Hofmeister hatten, Seidlers, Kotzebues, Lynker, Wilken, im Winter Witzleben. Hier wurde im Sommer im Garten oder auf Spaziergängen geturnt, Ball geschlagen, Krieg gespielt,[30] im Winter besonders auf kleinen Theatern mit selbstverfertigten Figuren Komödien aufgeführt oder Professors gespielt, wobei ich besonders viel Beifall fand. Einer, nachdem er sich vorher einen Buckel und lächerlichen Anzug gemacht hatte, bestieg einen Stuhl und unterhielt nun die anderen, die herumsaßen, mit Späßen und Schnurren; jemehr sie Gelächter erregten, desto größer war sein Lob. Während dessen saßen die Hofmeister im Nebenzimmer und unterhielten sich bei Bier und Tabak über gelehrte Gegenstände.
Diese stille, strenge, einförmige, pedantische Erziehung, das Zusammenleben mit diesen ernsten Männern hatten nun den entschiedensten Einfluß, nicht bloß auf meinen Unterricht, sondern auf meine ganze Bildung, Geistesrichtung und Charakter, und im ganzen sehe ich es als neue Gnade Gottes an, daß er es gerade so fügte, und werde auch, so schwer und drückend es mir in der Gegenwart gewesen sein mag, noch in jener Welt meinem braven Restel für diese Strenge und für jeden Schlag danken, den er mir gab. Denn ohne dies wäre zuverlässig nichts Gutes und wenigstens nicht das, was ich geworden bin, aus mir geworden. Ich hatte nämlich einen gewaltigen Trotzkopf, Starrsinn und Eigensinn, Tücke, Neigung zur Lüge, zum Müßiggang,[31] Unordnung, Sinnlichkeit. – Es war keine kleine Aufgabe, dies heraus zu bringen. Aber es gelang. Der Starrsinn und Trotz wurde mit Gewalt gebrochen. Nicht einmal widersprechen oder disputieren, oder die Frage: Warum? wurde gestattet; anstatt des Lobes, was bei uns gar nicht eingeführt war, hörte ich so oft die Worte: »Du bist ein dummer Junge, aus Dir wird nie etwas«, daß ich es am Ende selbst glaubte, jede Spur von Eigendünkel verwischt wurde und ich auch in meinem nachfolgenden Leben nie etwas Besonderes von mir gehalten habe. Es ist an die Stelle für mein ganzes Leben getreten Nachgiebigkeit, Sanftmut und Milde, auch bei Beleidigungen, Ergebung und Gehorsam, erst gegen das Gesetz und die Pflicht, dann gegen die Führungen des Schicksals, selbst Entsagung, die mir in der Folge meines Lebens notwendig war. Ebenso wirkte der Ernst und die Schweigsamkeit meines Lehrers, die Abgeschlossenheit und Einsamkeit meines Lebens das Gute, daß ich mich frühzeitig selbst beschäftigen und im Innern zu leben lernte, da mir das äußere Leben versagt war. Dadurch wurde unstreitig jene Liebe zur Einsamkeit, zum Nachdenken und wissenschaftlichen Beschäftigungen geweckt, die mir mein ganzes Leben hindurch[32] geblieben sind und ihm seine Richtung gegeben haben. Dazu kam nun noch, daß ich sehr bald, im vierzehnten Jahre, ein Philosoph, und zwar ein Stoiker wurde. Zufällig fiel mir eine kleine lateinische Ausgabe des Epictet (Epicteti Enchyridion et Cebetis Tabula) in die Hände. Darin las ich mit Verwunderung und großem Vergnügen, daß alles Äußere etwas Unwesentliches sei, ja selbst mein Arm und mein Fuß nicht zu meinem Ich, zu meinem inneren Wesen gehöre, und daß die rechte Weisheit sei, alles Äußere, selbst Schmerzen und Mißgeschick von sich abzusondern und nur im Innern zu leben, und daß man dadurch über alles triumphieren und bei allem Übel dennoch innerlich sehr glücklich sein könne, – was mir denn in meiner Lage sehr zusprach und mich sehr stark machte. Die Folge von alle dem war, daß ich außer meinen Schulbeschäftigungen und dem eigentlichen Lernen mir eine Menge ausdachte. Lesen, Sammlung von Mineralien, Kupferstichen (von meinem Taschengeld gekauft), Papparbeiten, Gartenarbeiten (wobei ich mich noch erinnere, daß ich lange mit dem großen Projekt umging, das Wasser aus dem Brunnen im Hofe in den Garten zu leiten), Arbeiten für unser kleines Theater, ja selbst zuletzt das[33] Schreiben von Komödientexten, wovon ich mich noch eines Trauerspiels »Rinaldo« erinnere, – vor allem aber Zeichnen und Malen, wozu ich besonders Neigung fühlte. Ich hatte zuerst zum Lehrer den Hofmaler Heinsius, der die Sache ganz pedantisch nach alter Weise angriff. Ich mußte ein halbes Jahr nichts als gerade Striche, Zirkel und Ovale zeichnen, dann nichts wie Augen und so allmählich weiter. Dies hatte allerdings, wenn es gleich langweilig war, doch den Nutzen, Finger und Augen an die Bildung der Grundstriche zu gewöhnen und ihnen Festigkeit zu geben. Später hatte ich das Glück, den guten, liebenswürdigen Kraus zum Lehrer zu bekommen, der die Sache freier und moderner trieb. Ich brachte es so weit, daß ich sehr gut nach Gyps zeichnete. Ja ich habe die Freude gehabt, nebst Kestner der erste zu sein, mit welchem unter Götzes Leitung die Zeichenakademie in Weimar errichtet wurde, und einen der Preise zu erhalten. – Ich blieb aber dabei nicht stehen, sondern lernte auch, ganz für mich, nach Sulzers Anleitung (aus seiner Theorie der schönen Künste) in Kupfer ätzen. Das Zeichnen ist mir für die Folge und ganze Ausbildung von großem Nutzen gewesen. Es bildet ein richtiges Augenmaß und richtiges[34] Gefühl für Verhältnisse, es bildet das Auge aus, den Sinn des Gesichts, man lernt richtiger sehen. Außerdem gibt es die Kunst, gleich aufzeichnen und fixieren zu können. So ist es mir bei dem Studium der Anatomie und nachher auf meinen Reisen von großem Nutzen gewesen. Ganz besonders aber hatte ich früh die Neigung etwas herauszugeben und den Schriftsteller zu machen. Ich unternahm in meinem 12. Jahre ein Wochenblatt unter dem Titel: »Angenehmes Wochenblatt«, welches alle Sonnabend an die Familie, die aus drei Tanten bestand, gegen Pränumeration von zwei Talern jährlich ausgegeben wurde. Es enthielt jedes Blatt zuerst einen Aufsatz, den ich entweder selbst verfertigte oder aus andern Büchern abschrieb, dann Familien- und Stadtneuigkeiten und zuletzt auswärtige; zuweilen wurden von mir verfertigte Zeichnungen beigefügt. Es ist noch vorhanden. Es diente dazu, mir Fertigkeit in Aufsätzen und im Schreiben zu verschaffen, und beweist zugleich, daß der wahre Keim, der in uns liegt, sich sehr bald regt. Denn das war der Schriftstellerkeim, und es ist merkwürdig, daß derselbe, der dieses kindische Wochenblatt schrieb, nachher das erste und älteste medizinische Journal herausgegeben hat.[35]
Aber in einer andern Sache hatte die Vorhersagung getäuscht. Ich arbeitete zu des Vaters Geburtstag immer eine lateinische Rede aus, die ich dann auswendig lernte und früh ihm hersagte. Dies hatte ich nun einst zu großer Zufriedenheit getan. Nachmitags wurde eine Partie nach Belvedère mit den Tanten gemacht, und, da wir hier auf einem Rasenplatz saßen, wo in der Mitte eine kleine Erhöhung war, so wünschte der gute Vater, ich möchte auch hier diese Rede noch einmal hersagen. Aber da überfiel mich wegen der Gegenwart der Tanten und des freien Lokals eine solche Scheu und Furcht, daß ich nicht ein Wort hervorzubringen vermochte und der Vater endlich im größten Ärger sagte: »Nein, aus Dir wird sicher nie ein Professor«. Und doch ist einer aus mir geworden, aber freilich kein Redner.
Eine schlimme Sache für mich war die Gespensterfurcht, die mir leider, wie so vielen Kindern, durch dumme Gespenstergeschichten, die uns die alten Kinderfrauen erzählen, mitgeteilt worden war. Insbesondere stand mir ein abgeschiedener Geist, der sich nach der alten Eva Erzählung in einem weißen Sterbekleid mit schwarzen Schleifen hatte sehen lassen, im Dunkeln beständig vor den Augen. Dazu kam noch das Trauerspiel[36] »Semiramis«, in welchem ich den Geist des Ninus aus dem Grabe aufsteigen sah, – ein Bild, was sich ganz meiner Einbildungskraft bemächtigte. Deswegen war mir der schwerste Gang, den ich täglich zu machen hatte, der Gang des Abends 9 Uhr von dem Vorderhause über einen langen Gang in das Hinterhaus, den ich daher nie ohne Licht machen konnte. Aber zwei Dinge heilten mich davon. Zuerst der Unterricht Restels, der, sowie er überhaupt entfernt von jedem Aberglauben und Mystizismus war, mich auch fest davon überzeugte, daß es erstens ganz unmöglich sei, daß man Geister sehen könnte, und zweitens, daß es auch mit der Liebe und Weisheit Gottes unvereinbar sei. Weiter brachte ein Ereignis die Sache zum Durchbruch, zur Tat. Die Großmutter war gestorben. Ich war 15 Jahre alt. Sie sollte den Abend begraben werden, eine Sache, die schon das Gemüt mit Schauer erfüllt. Ich saß abends im Dunkeln in der Kammer neben unserer Stube allein. Plötzlich hörte ich ein Gepolter im Nebenzimmer, wo, wie ich gewiß wußte, niemand war. Im ersten Augenblick wurde ich von Furcht ergriffen. Aber plötzlich sage ich mir: es kann nichts Übernatürliches sein, denn es kann keine Gespenster geben[37] und es ist kindisch und lächerlich sich davor zu fürchten; fasse dir ein Herz und du wirst dich davon überzeugen. Dies tat ich denn, riß die Tür auf, trat in das dunkle Nebenzimmer, und es fand sich, daß eine Katze durch das offne Fenster hereingekommen war und durch dasselbe nun wieder entfloh. Dies heilte mich vollkommen, ich konnte von nun an auch im Dunkeln den langen Weg über den Gang ins Hinterhaus machen und bin mein ganzes Leben hindurch immer, wenn mir etwas Gespenstisches vorkam, grade darauf losgegangen.
Mit meiner ersten Bekanntschaft mit dem öffentlichen Theater ging mir's übel. Der liebe Vater fürchtete gar sehr jeden nachteiligen Eindruck auf meine kindliche Unschuld und Moralität. Ich sollte also zum ersten Mal ein recht rein moralisches Stück sehen. Es war im Jahre 1769, die erste Schauspieler-Gesellschaft, die in Weimar war, die Starkische, spielte im Reithause. (Nachher kam die berühmte Kochsche, bei welcher Ekhof, Bruckner etc. waren, die später im Schloß spielte, dann die Seilersche, dann der Schloßbrand und hierauf gar keine Truppe mehrere Jahre lang, sondern ein Liebhaber-Theater unter Goethes Leitung). Nun hatte sie eines Tages ein Stück angekündigt, »Der dankbare Sohn«. Dieses sollst du sehen,[38] sagte der Vater, weil er es für mich nützlich hielt, und mit Freude vernahm ich diese Erlaubnis. Ich trat herein. Schauerliche Dunkelheit umgab mich. Nur einzelne Stimmen der sich sammelnden Zuschauer unterbrachen sie. Bange Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, erfüllte mich. Nun erhob sich plötzlich hinter dem heruntergelassenen Vorhang ein gräulicher Lärm, Geschrei mit harten Prügeln untermischt. Ich glaubte, dies gehöre zur Komödie. Endlich nach langer Zeit ging der Vorhang in die Höhe und es erschien Harlekin mit Kolombinen und andere Possenreißer, und das ganze war nichts als ein Possenspiel. Ich ging sehr erfreut darüber nach Hause, aber wie erstaunte der Vater, als ich ihm, statt des »dankbaren Sohnes«, die Nachricht von diesem Possenspiel brachte. Man erfuhr nachher, daß eine Prügelei unter der Schauspieler-Gesellschaft vor Anfang des Stückes entstanden war, welche die Aufführung des »dankbaren Sohnes« verhindert und den Direktor genötigt hatte, das Publikum mit einem Possenspiel zu unterhalten, denn damals existierte noch der Harlekin auf dem Theater. Eine große Neigung hatte ich zur Feuerwerkerei, und mein kleines Taschengeld ging, außer Kupferstecher- und Malergerät, größtenteils für Schwärmer, Feuerräder[39] u. dgl. hin. Gewöhnlich blieb es bei den zwei ersten, die im Garten abgebrannt und die nicht sehr bemerkt wurden, aber zuletzt kaufte ich mir eine Rakete, ohne noch ihre Kraft zu kennen. Ich steckte sie mit dem untern Teile in die Erde und zündete sie an, aber wer beschreibt meinen Schrecken, als sie nicht in der Erde blieb, sondern sich losriß und gen Himmel stieg! Gern wäre ich ihr nachgeflogen, um sie zurückzuziehen, denn unglücklicherweise wohnte der Hof und die Herrschaft gleich neben dem Garten im Fürstenhause, und diese Ungezogenheit, die zugleich gefährlich hätte werden können und verboten war, konnte mir Verweise und Strafe und selbst dem Vater Vorwürfe zuziehen. Indes ging es glücklicher vorüber als ich gedacht hatte. Man hatte es wenig bemerkt, und ich kam mit einer Warnung für die Zukunft davon.
Aber schlimmer ging es mir mit dem Phosphor. Ich hatte gelesen, daß in alten Zeiten die Mönche sich häufig dieses Mittels bedient hätten, um Gespenster zu spielen und den Aberglauben zu erhalten. Ich beschloß einen solchen Versuch mit meinen armen Schwestern anzustellen. Sie schliefen, vier an der Zahl, in derselben Schlafstube. Ich nahm heimlich ein Stückchen Phosphor in einem Gläschen mit Wasser von des Vaters[40] Hausapotheke und wollte damit an die Wand in ihrer Schlafkammer mit großen Buchstaben schreiben: »Ihr bösen Mädchen bessert Euch«, damit sie in der Dunkelheit der Nacht durch diese feurige Schrift erschreckt werden sollten. Als ich aber im besten Schreiben war, entzündete sich das Stück Phosphor in meinen Fingern zur Flamme, und, indem es zugleich schmolz, verbrannte es mir jämmerlich die drei Finger, und, was das schlimmste war, war gar nicht zu löschen, denn selbst im Wasser brannte die Flamme immer fort, bis auf die Knochen. Ich litt fürchterliche Schmerzen und war erst nach drei Wochen geheilt. – Das schlimmste war, daß noch so viel Phosphor auf den Fußboden geflossen war, daß noch lange die Stelle leuchtete und dadurch große Furcht vor Feuersgefahr entstand. Ich war genug durch den Schmerz für meinen Mutwillen gestraft, sonst möchte noch eine andere erfolgt sein.
Aber auch sonst fehlte es nicht an Mutwillen; und ich muß zwei Geschichten erzählen, die mich noch im Alter tief kränken.
Die erste betraf einen Herrn Vetter, der auf einige Zeit bei uns wohnte, und, weil er ein geschickter Zeichner war, das Bild des seligen Erbprinzen in Pastell bei uns malte. Die Pastellstifte erregten meine ganze Aufmerksamkeit[41] und Liebe, und war besonders einer darunter, dem ich wegen seiner schönen Inkarnatfarbe nicht widerstehen konnte. Ich mochte etwa 7 Jahre alt sein; ich dachte, er habe ja der Stifte so viele, daß er diesen wohl entbehren und auch wohl gar nicht vermissen würde. Aber unglücklicherweise war es gerade eine Farbe, womit er des Prinzen Kleid malen mußte, und nun entstand ein gewaltiges Suchen im ganzen Hause, nach demselben große Not, am Ende auch Verdacht – und mir wurde dieser Stift zur wahren Strafe und Plage, denn statt eine Freude von seinem Besitze zu haben, brannte er mich wie eine glühende Kohle; ich versteckte ihn aus Angst in einen der entferntesten Winkel des Hauses. Ich bekannte schlechterdings nichts, aber endlich wurde es dennoch entdeckt und dies war das einzige Mal, wo mich der Vater mit einer kleinen Reitpeitsche gezüchtigt hat.
Das zweite war ein Mutwillen, den ich an einem der Hofmeister meiner Spielgenossen, dem Magister Volke ausübte. Es war ein recht guter, lieber Mann, dem ich auch recht gut war, aber eines Tages gehen wir in corpore spazieren, und ich merke im Vorbeigehen, daß er noch geschwinde beiseite gegangen war. Ich konnte dem augenblicklichen mutwilligen Einfall[42] nicht widerstehen, ihn an diesem Orte einzusperren und drehte den Schlüssel um; wir gehen vor's Tor und der arme Mann kommt natürlich nicht nach. Man kann sich die Unruhe denken, die nun entstand, sowie meine Gewissensangst. Was hätte ich darum gegeben, es nicht getan zu haben. – Endlich beim Zurückkommen wurde erst die Ursache seines Ausbleibens bekannt, und nun entstand eine allgemeine Inquisition nach dem Täter. Aber kein Mensch hatte es gesehen, und ich leugnete standhaft. Genug, der gute Mann hat den Täter nie erfahren, und ich habe mir in der Folge die größte Mühe gegeben, durch Aufmerksamkeiten und Liebesbezeugungen es wieder gut zu machen. – Dies war ein bloßer Mutwillen und durchaus keine böse Absicht. – Ein Wink für Erzieher.
Ich mochte etwa 12 Jahre alt sein, da fing Basedow sein Elementarwerk und damit jene neue Revolution in der Erziehung an, welche auf eine allgemeine mehr enzyklopädische Ausbildung des Geistes gerichtet war und die bisherige klassisch-pedantische als zu eng und steif stürzen sollte, ihr auch wirklich (zunächst durch Campe und Salzmann fortgepflanzt) einen so gefährlichen Stoß gegeben hat, daß sie sich noch jetzt nicht recht davon erholen kann. Er reiste dazu in Deutschland[43] herum, um Subscribenten für sein Werk und zugleich Zöglinge für sein Erziehungsinstitut in Dessau zu werben.
Er kam auch nach Weimar und in meines Vaters Haus, um ihn dafür einzunehmen und mich anzuwerben. Hier nun entstand ein heftiger Kampf zwischen der neuen Lehre und meinem alten pedantischen, klassischen Restel. Ich vergesse nie den Vormittag, wo Basedow zu uns kam, um mich zu sehen und zu prüfen. Ich sehe ihn noch, den großen, starken, etwas plumpen Mann, mit einem dicken spanischen Rohr, wie er vor mir stand, seinen Stockknopf unter seine breite Nase drückte und mich ausfragte. Er fragte, was ich im Lateinischen lese. Ich antwortete: den Cornelius Nepos. Er fragte weiter: welche von den großen Männern mir am besten gefielen? Ich antwortete: Aristides. Und auf die Frage warum? sagte ich: wegen seiner Gerechtigkeit. – Dies schien ihm zu gefallen, und er erneuete seine Anträge, mich in sein Institut zu bekommen. – Aber der weise Vater blieb fest, wofür ich ihm noch im Grabe danke, und ließ mich unter Restels Zucht. Denn wahrscheinlich würde nichts aus mir geworden sein, wenigstens kein Gelehrter, wie die Resultate jenes Instituts nachher bewiesen haben.[44]
Aber ein noch größerer Sturm stand dem guten Restel mit meiner Erziehungsmethode bevor. Goethe zog im Jahre 1776 in Weimar ein. Dieser junge 27jährige, feurige Herr Doktor – denn so hieß er damals – brachte eine wunderbare Revolution in diesem Orte hervor, der bisher ziemlich philisterhaft gewesen war und nun plötzlich genialisiert wurde. Es war kein Wunder. Man kann sich keinen schöneren Mann vorstellen. Dabei sein lebhafter Geist und seine Kraft, die seltenste Vereinigung geistiger und körperlicher Vollkommenheit, groß, stark und schön; in allen körperlichen Übungen: Reiten, Fechten, Voltigieren, Tanzen war er der erste. Ich habe nie etwas Schöneres und Vollendeteres gesehen, als ihn den Orestes in seiner Iphigenie darstellen, Corona Schröter die Iphigenie, v. Knebel den Thoas, Prinz Constantin den Pylades. Es war ein echtes Bild des schönsten klassischen Griechentums. Zu dem allen kam nun noch seine Gunst bei dem jungen Fürsten, der eben die Regierung angetreten hatte, und den er ebenfalls plötzlich aus einer pedantischen, beschränkten, verzärtelnden Hofexistenz ins freie Leben hinausriß, und damit anfing, daß er ihn im Winter eiskalte Bäder nehmen ließ, ihn beständig in freier Luft erhielt und mit ihm in seinem Lande herumreiste,[45] wobei dann überall brav gezecht wurde, wodurch man aber auch genaue Kenntnis des Landes und der Persönlichkeiten erwarb. Die erste natürliche Folge dieser heroischen Kur war freilich eine tödliche Krankheit des Herzogs, aber er überstand sie glücklich, und der Erfolg war ein abgehärteter Körper für das ganze folgende Leben, so daß er ungeheure Strapazen hat aushalten können. – Genug, es folgte eine vollständige Umwälzung. Alle jungen Leute legten Goethes Uniform: gelbe Weste und Beinkleider und dunkelblauen Frack an, und spielten junge Werther; die Alten murrten und seufzten. – Alles kam aus seinen Fugen. – Auch so die Erziehungsmethode, die in einem Hause, mit welchem Goethe in genauer Verbindung lebte – dem Stein'schen – und mit dessen Jugend ich auch vereint war, gänzlich ins Geniale umgeschaffen wurde, unter ihres Hofmeisters Kästners Leitung, der ganz in diese Ideen einging. Aber mein Restel hielt Stand und ließ sich nicht irreführen.
Aber wohl hatte jene Zeit auf mein Inneres bedeutenden Einfluß. Ich war im sechzehnten Jahre. Einige Jahre lang hatte Siegwarts weinerlich empfindsame Periode geherrscht, und ich hatte ihn gelesen und bittere Tränen auf dem Grabe des vor Liebe Verschmachteten[46] vergossen. Nun kam Werther, der uns eine andere Art von Empfindsamkeit, die mehr heroische, darstellte, und beide vereinigt gaben meinem Gefühl die Richtung.
Das Theater war mit dem Schlosse abgebrannt, und die Finanzen erlaubten nicht, eine neue Truppe zu engagieren. Goethe, der ganz im Theater lebte (man sehe Wilhelm Meisters Lehrjahre, die sein damaliges Leben darstellen) ruhte nicht, bis er eine Liebhaber-Gesellschaft zusammengebracht hatte, und außer der großen noch eine kleine von Kindern und jungen Leuten, wozu ich die Ehre hatte, mit ausgewählt zu werden. Es wurde zuerst ein kleines Stück gewählt, »Der junge Don Quixote«, und ich bekam die Rolle des Großvaters, mit Allongenperücke und altväterischer Tracht. Nach einer Menge Proben erschien endlich der Tag der Aufführung. Die Liebhabertruppe spielte im Hauptmannschen (nachher Reitzensteinschen) Hause in der Esplanade, öffentlich vor dem Hof und dem Publikum. Mit klopfendem Herzen betraten wir (sämtlich zwischen 12 und 14 Jahren) das Haus, dazu kam, daß es ein schwüler Sommertag war, daß sich zugleich ein Gewitter einstellte. Vorher wurde »Ervin und Elmire« vorgestellt und mit Angst sahen wir schon während dessen die Blitze und hörten den Donner. Nun kam[47] unsere Vorstellung. Das Gewitter tobte immer heftiger, und eben als ich noch auf den Knien lag und eine Liebeserklärung hersagte, schlug der Blitz wirklich ins Haus ein, doch ohne zu zünden oder zu töten. Aber nun war die Contenance der jungen Schauspieler-Gesellschaft vorbei; alles rannte vom Theater weg und lief im strömenden Regen nach Hause. – Dies Ereignis schien mir ein Omen: daß ich mich nicht dem Theater hingeben sollte. – Doch mußten wir nach einigen Wochen noch einmal spielen und nun ging alles vortrefflich. Wir wurden applaudiert, zogen nachher am hellen Tage in unserm Kostüm auf das Fürstenhaus und wurden da herrlich bewirtet.
Ich kann von meiner Jugend nicht sprechen, ohne dankbar eines Lehrers zu erwähnen, der einen wesentlichen Einfluß auf mein damaliges Leben und meine Bildung gehabt hat, des nachmaligen Bibliothekars Schmid. Er gab mir zuerst im Französischen, dann im Englischen Stunden, aber zugleich knüpfte er ein Freundschaftsband mit meinem Restel und unserm ganzen Haus an, und kam also sehr oft, besonders mit uns spazieren zu gehen. Er war einer von den Menschen, die bei sehr beschränkter Existenz dennoch unaufhörlich heiter, lebensfroh und zufrieden sind, weshalb[48] er sich vortrefflich eignete, den Ernst und die Stille meiner Restelschen Einöde zu mildern und aufzuheitern. Dabei besaß er einen Schatz von Kenntnissen, besonders historischen, belletristischen und unterhaltenden Anekdoten. Dadurch lernte ich nicht allein sehr viel, sondern nahm auch jene heitere Laune und Ansicht der Gegenstände mit in mich auf, die mir, nächst meiner natürlichen Anlage, dadurch für immer eigen wurde. Besonders interessant und lehrreich für mich waren die Disputationen, die sehr oft, bei ihrer verschiedenen Denkart und Stimmung, zwischen ihm und Restel entstanden. Meine tiefe Verehrung gegen Haller und Friedrich II. begründete Schmid, der beide enthusiastisch vergötterte. Durch diesen Mitgenossen erhielten unsere täglichen Webicht-Spaziergänge, statt der früheren Langeweile, den Reiz der Unterhaltung. Wir waren alle drei kurzsichtig und wurden, weil wir immer zusammen spazierten, von Berendes die drei Blinden genannt. Hier muß ich auch noch eine Beschäftigung erwähnen, die ich mir dabei nicht bloß zur Unterhaltung, sondern zur Pflicht gemacht hatte. Sie bestand darin: allen Disteln, die mir aufstiegen, mit dem Stock die Köpfe abzuschlagen. Ich hielt es nämlich für ein großes Verdienst, dieses unnütze und schädliche[49] Gewächs auszurotten, und hatte mir es zur heiligen Pflicht gemacht. – Wenn jetzt weniger Disteln im Webicht wachsen, so habe ich allerdings den Ruhm davon. Zugleich aber ist es mir ein Beweis, daß ich schon damals viel Sinn für kosmopolitische Ideen hatte, der sich nachher in meinen Werken: über Leichenhäuser, Ausrottung der Pocken, Makrobiotik etc. tätig zeigte, ja, mich durch mein ganzes Leben hindurch beseelt hat.
Die letzten drei Jahre meiner Schulzeit, vom 15. bis 18. Jahre, ging ich zwar nicht auf das Gymnasium, aber zu dem Direktor des Gymnasiums, dem alten würdigen Heinze, einem Schüler Gesners, nebst einigen andern Primanern in tägliche Privatstunden, um mich im Griechischen und Latinität, er war ein ausgezeichneter Ciceronianer, zu vervollkommnen. Wir lasen die ganze Iliade durch, Cicero de finibus, und machten lateinische Aufsätze. Hier vergesse ich nicht, daß er mir einmal auf einen derselben schrieb: auctorem te futurum esse auguror, und ich glaube, es hat etwas dazu beigetragen, mich zum Schreiben aufzumuntern und seine Prophezeiung wahr zu machen.[50]
Noch eines andern Mannes muß ich erwähnen von großem Einfluß auf mich. Es war ein alter Onkel, Geh. Reg.-Rat Müller, der früher ein Weltmann, an Höfen und in diplomatischen Geschäften verwandt war (auch unter Prinz Eugen bei der Belagerung von Philippsburg). Nachher in Weimar im Regierungs-Kollegium zurückgesetzt, blieb er einige Monate aus den Sitzungen weg, um das Kollegium seinen Verdruß fühlen zu lassen, und blieb endlich, teils aus Hypochondrie, teils aus Scham nun wieder zu erscheinen, ganz zu Hause, so daß er 24 Jahre im Schlafrock in seinen drei Zimmern lebte. Dieser Mann machte sich's noch zum Geschäft, mich auszubilden, und besonders in seinem Weltton, Geschmack und guten Sitten. Ich mußte ihm alle Monate den deutschen Merkur bringen, und er schenkte mir Chesterfields Briefe an seinen Sohn, die damals herauskamen, in welchen beständig dem jungen Menschen zugerufen wird: »Die Grazie, lieber Sohn, die Grazie, das ist die Hauptsache, wenn du dein Glück in der Welt machen willst.« Ich wußte freilich nicht, wie ich dies anfangen sollte, aber gewiß hat es doch Einfluß auf mein Betragen gehabt. – Auch schenkte er mir Duschs Briefe zur Bildung des Geschmacks, die ich fleißig studierte und die gewiß[51] zur Nahrung einer kleinen poetischen Ader, die in mir lag, beigetragen haben. Ich erinnere mich jedoch nur zweier Gedichte, die ich in der Zeit gemacht habe: eins auf den Tod eines Eichhörnchens, das ich sehr liebte und das im strengen Winter auf der Flucht erfroren war, und eins auf Fräulein Auguste v. Witzleben, in die ich mich – obwohl sie drei Jahre älter war und nie etwas davon erfahren hat – sterblich verliebt hatte. Ich erinnere mich nur noch, daß es anfing: »Du blaues Aug, du Quelle meiner Freude«.
Aber wichtiger und höher steht Herders Erscheinung aus jener Zeit vor mir. Dieser große, herrliche, schon durch seine äußere edle Gestalt imponierende Mann (auch durch Goethe hierher gebracht) trat jetzt als Prediger auf. Noch nie hatte ich solchen Prediger gehört, denn von ihm konnte man wirklich auch sagen: Er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten. Wie ein Apostel stand er auf der Kanzel, die Hände gefaltet vor ihm liegend, mit dem Gesicht gen Himmel gerichtet, ohne alle Gestikulation, ja ohne alle Deklamation, ruhig, aber kräftig in seiner tiefen Baßstimme Worte der Salbung und des höheren Lebens aussprechend, nicht als wenn es seine Worte wären, sondern als wenn sie ihm von oben zuflössen, als wenn[52] er nur das Organ wäre, durch welches eine höhere Macht zu uns spräche. Durch ihn lernte ich ein höheres Christentum (was bisher immer nur dogmatisch gewesen war) kennen, durch ihn wurde mein Geist näher zu Gott und zum ewigen Leben gehoben, – er brachte mich Gott näher. Dank dir, edler Geist, dafür noch in jenen seligen Räumen, die du jetzt bewohnst!
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»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.
530 Seiten, 24.80 Euro
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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro