37.

[293] War ich sozusagen als Fremdling nach Leipzig gekommen, so erleichterten diese Verhältnisse des Zusammenlebens meine Eingewöhnung um so mehr, als man mir von allen Seiten freundlich entgegenkam. Auch machte die Einmütigkeit, die in der Fakultät selbst herrschte, einen wohltuenden Eindruck gegenüber dem, was ich anderwärts erlebt hatte. In dieser Beziehung boten in der Tat die drei Universitäten, die ich kennen gelernt, bemerkenswerte Kontraste, die vielleicht typisch für die damalige Mannigfaltigkeit der Zustände an verschiedenen Orten gewesen sind und es teilweise noch jetzt sein mögen. In Heidelberg hatten die naturwissenschaftliche und die historisch-philologische Abteilung der Fakultät ein Ganzes gebildet, aber zwischen beiden Teilen hatten keineswegs immer friedliche Zustände gewaltet. Noch erinnere ich mich, wie sich hier die Historiker über die »Apotheker« beschwerten, die sich ohne Sachkenntnis in die Angelegenheiten der Geisteswissenschaften einmischten. Da war denn doch für Männer wie Bunsen und Kirchhoff der Ehrenname der Apotheker gewiß kein besonderes Friedenszeichen. In Zürich hatte sich die philosophische Fakultät in zwei völlig selbständige Fakultäten getrennt, die sich im Grunde viel ferner standen als manche der übrigen, so daß z.B. die Beziehungen der sogenannten philosophischen, d.h. im wesentlichen rein geisteswissenschaftlichen zur theologischen Fakultät, mit der sie einen großen Teil der Zuhörer gemeinsam hatte, tatsächlich nähere waren als zu der naturwissenschaftlichen. Ich selbst hatte z.B. häufigeren Verkehr mit A. E. Biedermann und[293] Alexander Schweizer, den bekannten Führern der liberalen Theologie, während ich kein einziges Mitglied der naturwissenschaftlichen Fakultät kennen lernte. Demgegenüber machte nun die in Leipzig damals noch in hohem Grade erhalten gebliebene Einheit der Fakultät einen wohltuenden Eindruck, der eben auch darin zum Ausdruck kam, daß ich bei Mitgliedern beider Gruppen, bei einem Wilhelm Hankel dem Physiker und Rudolf Leuckart dem Zoologen ein ebenso freundliches Entgegenkommen fand wie bei einem Georg Curtius, Friedrich Zarncke, den Philologen, und Wilhelm Roscher dem Nationalökonomen. Das lag aber nicht etwa daran, daß ich wissenschaftlich gewissermaßen eine Zwischenstellung einnahm, sondern, wie ich glaube, hauptsächlich daran, daß hier weit mehr als anderwärts die allgemeinen Zustände der Hochschule die Erhaltung der alten Einheit der philosophischen Fakultät bewirkten. Der Hauptgrund für diese trotz des Wachstums an Mitgliedern und der Scheidung der Gebiete erhalten gebliebenen Einheit war aber wohl der, daß auch in dieser Beziehung die frühere Autonomie der Hochschule immer noch nachwirkte, indem es zahlreiche in die Verwaltung der Universität eingreifende Interessen gab, die allen Mitgliedern gemeinsam waren, und daß die Scheidung nach Fachstudien infolge der einheitlicheren Organisation des damals einen noch größeren Teil der Studierenden umfassenden Oberlehrerberufs eine weniger ausgeprägte war als heute. Das wirkte natürlich wieder auf die einzelnen Teile des Lehrkörpers zurück, da trotz des auch hier bestehenden Übergewichts der Spezialstudien die Vertreter disparater Fächer mehr als anderwärts einander in ihrer Berechtigung anerkannten. Einen gewissen Anteil hatte an der Herstellung dieses Verhältnisses wohl auch die in Leipzig herrschende Richtung der Philosophie. Diese war hauptsächlich durch den Einfluß des unter ihren Lehrern hervorragendsten Vertreters,[294] Drobisch, die Herbartsche Schule. Sie hatte aber nach dem Vorbild ihres Stifters stets nach einer den positiven Wissenschaften zugewandten Stellung gestrebt und sich deshalb in lebhaftem Widerstreit gegen die anderwärts herrschenden Richtungen der idealistischen Philosophie, besonders Hegels, befunden. Dadurch hatte wiederum die Philosophie hier viel weniger unter der sonst bestehenden Mißachtung von seiten der Vertreter der Fachwissenschaften gelitten als sonst. Drobisch selbst war in seinen Anfängen von einer mathematischen zur philosophischen Professur übergegangen. Außerdem übte er in der philosophischen Fakultät durch die Rolle, welche die Pädagogik infolge der Zulassung der tüchtigeren Volksschullehrer zum Universitätsstudium spielte, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß aus, indem in der Pädagogik noch mehr als in der Philosophie das Herbartsche System zur Herrschaft gelangt war. Infolgedessen wirkte zugleich das Bekenntnis zu Herbart ausgleichend auf die Stellung, welche die Studierenden der Pädagogik gegenüber den vom Gymnasium gekommenen Studierenden der philosophischen Fakultät einnahmen, wie ich das z.B. an dem Unterschied von dem in Zürich bestehenden Verhältnis bemerken konnte, wo die gleiche Einrichtung der Zulassung von Volksschullehrern zu einem vorübergehenden Universitätsstudium bestand, diese aber weit mehr eine gesonderte, in keiner Weise als gleichberechtigt anerkannte Abteilung bildeten. Damit hing dann zugleich zusammen, daß in Leipzig nicht selten bei diesen ursprünglichen Pädagogen ein Übergang zu einem vollberechtigten Oberlehrerstudium durch die Nachholung eines Abiturientenexamens stattfand. Neben Drobisch, der sich später auf die systematischen Hauptfächer der Philosophie beschränkte, wirkte bei meiner Ankunft in Leipzig namentlich Ludwig Strümpell im Sinne der Herbartschen Philosophie nach den beiden[295] Richtungen der Pädagogik und der Philosophie. Er war, nachdem er seine Professur in Dorpat niedergelegt, zum Honorarprofessor bei der Leipziger Fakultät ernannt worden und entfaltete als solcher eine ausgebreitete, nach allen Seiten anregende Lehrtätigkeit, in der er in ähnlicher Weise wie Drobisch in einem dem Geist der positiven Wissenschaft verwandten Sinne auf die Studierenden einwirkte. So wenig ich selbst der Herbartschen Philosophie zugeneigt war oder von den Vertretern dieser als einer der ihrigen angesehen worden wäre, kann ich doch nicht umhin, dankbar anzuerkennen, daß sie durch die unabhängige Stellung, die sie viele Jahre in Leipzig behauptete und in der sie die Tradition eines befreundeten Verhältnisses der Philosophie und der positiven Wissenschaften aufrecht erhielt, mir den Eintritt in mein philisophisches Lehramt und dadurch die weitere Wirksamkeit in diesem erleichtert hat. Die Herbartsche Schule hat, wie man wohl sagen darf, nicht wenig dazu beigetragen, jenes Verhältnis wechselseitiger Anerkennung wiederherzustellen, das in früheren Zeiten zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften bestanden hatte, und dadurch eine Zeit vorzubereiten, in der diese nicht mehr, wie durchgehends um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, als eine vorübergegangene Wissenschaft galt, sondern wiederum, wie zu Kants Zeiten, eine geachtete Stellung einnahm.

Was für die Zeit vor fünfzig Jahren zutraf, das gilt aber freilich nicht mehr für die Gegenwart und noch weniger vielleicht für die Zukunft. Wenn insbesondere in Leipzig in den gemeinsamen Interessen des Lehrbetriebs die alte Autonomie der Universität nachwirkte, so hat auch hier mit innerer Notwendigkeit die staatliche Fürsorge ihre Rechte geltend gemacht und die Mitwirkung der Fakultät selbst auf die rein wissenschaftlichen Interessen, die in den verschiedenen Gebieten zumeist verschiedene Wege gehen, eingeschränkt. Vor[296] allem aber hat hier die wachsende Differenzierung der wissenschaftlichen Berufe und damit zusammenhängend der Wissenschaften selbst eine veränderte Lage geschaffen. Ihren Ausdruck hat diese zuerst in den technischen Hochschulen gefunden, wo diese Differenzierung auch in die Einzelgebiete eingedrungen ist. Besonders charakteristisch ist hier gerade das Fach, das äußerlich noch am meisten dem Polytechnikum mit der Universität gemeinsam zu sein scheint: die Mathematik. Der Lehrbetrieb, der den Techniker auf seinen Beruf vorbereiten soll, ist heute in vielen Beziehungen ein anderer als derjenige, der die Mathematik als allgemeine theoretische Wissenschaft im Auge hat, so daß dadurch die Auswahl der Lehrkräfte mitbestimmt wird. Dies hängt aber innig zusammen mit dem Fortschritt der Technik selbst und mit der Rückwirkung, die dieser seinerseits auf die Ausbildung bestimmter mathematischer Gebiete ausgeübt hat. Eine frühere Zeit mochte die Befriedigung solcher Sonderbedürfnisse dem Privatstudium des Technikers überlassen. Heute ist das nicht mehr der Fall oder wenigstens darf es nicht mehr als allgemein maßgebend angenommen werden, wenn nicht der Zweck der Berufsausbildung darunter leiden soll. Das ist aber wieder von weitreichender Bedeutung für die allgemeine Kultur. Schwerlich würde die Technik in Deutschland die hohe Stellung einnehmen, die sie im Vergleich mit anderwärts bestehenden Verhältnissen gewonnen hat, wäre nicht hier die Gründung der technischen Hochschulen dieser Entwicklung zu Hilfe gekommen. Wenn sich diese ergänzende Bedeutung vornehmlich im Gebiet der physikalischen Technik geltend gemacht hat, so liegt dies wohl hauptsächlich darin begründet, daß, der weitgehenden Differenzierung der chemischen Technik entsprechend, die Ausbildung in den großen chemischen Fabrikbetrieben ergänzend eingetreten ist. Gewiß war es ein glücklicher Fortschritt, daß in den deutschen[297] technischen Hochschulen mehr und mehr zugleich auf die Bedürfnisse allgemeiner wissenschaftlicher Vorbildung durch geeignete Erweiterung des Lehrbetriebs Rücksicht genommen wurde. Aber gerade in diesen der allgemeineren Geistesbildung dienenden Erweiterungen offenbart sich zugleich die Verschiedenheit der Bedürfnisse beider Formen der Hochschule. Das Polytechnikum stellt an den Historiker und den Philosophen andere Anforderungen als die Universität. An dieser soll der Historiker wie der Philosoph Lehrer und Forscher zugleich sein, und es kann daher ein hoher Wert auf Leistungen und auf die Arbeit in bestimmten Richtungen gelegt werden, die für die allgemeine Bildung nicht in Betracht kommen. Dem Lehrer an der technischen Hochschule muß vor allem eben diese für die allgemeine Geistesbildung wesentliche Seite seines Gegenstandes vor Augen stehen, wenn er seinen Beruf erfüllen soll. Auch hier ist daher die manchmal allzu geringe Berücksichtigung der Persönlichkeiten bei der Auswahl für diese verschiedenen Stellungen nicht zu billigen. Alles dies weist aber deutlich darauf hin, daß es allzu verschiedene Bedürfnisse sind, denen diese wissenschaftlichen Hochschulen dienen sollen, als daß ihre Verschmelzung zu einer einheitlichen Universität nicht die Aufgaben einer jeden von ihnen beeinträchtigen müßte.

Was für das Verhältnis von Universität und Polytechnikum, das ist nun womöglich in erhöhtem Maße für das der Universität zu den andern ähnlich den spezifischen Berufsbildungen bestimmten Lehranstalten, wie den landwirtschaftlichen Schulen, den Forstakademien, Tierarzneischulen usw. maßgebend, die an einigen großen Universitäten von selbst die Stellung äußerlich ihnen aggregierter Institute einnehmen. Dagegen läßt sich nichts einwenden, wo das Nebeneinander in einer und derselben Stadt und die Vielseitigkeit der Universitätstudien eine solche Ergänzung der spezifischen[298] Berufsanstalt durch gewisse der allgemeinen Bildung angehörende Universitätsfächer leicht möglich macht, wogegen allerdings, wenn, wie bei manchen unserer neu entstandenen Handelshochschulen, eine solche Aushilfe nicht zu Gebote steht, die Ergänzung durch Fächer, die der allgemeinen Bildung dienen, diesen wieder eine ähnliche Stellung anweist, wie sie bei den technischen Lehranstalten entstand.

Ist das Bedürfnis nach einer wachsenden Scheidung der einer höheren Fachausbildung dienenden Anstalten ein unabweisliches, so steht dem freilich jene zunächst von der Lehrerwelt ausgegangene, dann aber auch in weiteren Kreisen verbreitete politische Strömung im Wege, die auf eine möglichste Ausgleichung der Unterschiede auch im Gebiet des Unterrichtswesens hindrängt. Diese Strömung hat ihre Berechtigung darin, daß es sicherlich unzulässig ist, wenn man, wie das nur zu oft geschah, für den Wert der verschiedenen Berufsausbildungen die spezifische wissenschaftliche Bildung, welche die Universität gewährt, zum Maßstabe nimmt. Vielmehr darf, ganz im Gegensatz zu dieser einseitigen Schätzung, jeder Beruf, sofern er in dem Zusammenwirken der Kulturgebiete seine berechtigte, in dem öffentlichen Bedürfnis zum Ausdruck kommende Stellung einnimmt, auch den gleichen Wert beanspruchen. In sozialpolitischer Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen dem Handarbeiter, dem Techniker und dem Gelehrten, so verschieden auch die Fachbildung sein mag, deren jeder von ihnen bedarf. Wohl aber ist hier die Allgemeinbildung maßgebend, die, eben weil sie durchaus nicht mit der sachlichen Berufsbildung zusammenfällt, schließlich jedem Staatsbürger gleich zugänglich sein sollte und deren möglichste Ausgleichung daher eine vollberechtigte Forderung wird, soweit sie nicht an den nie ganz zu überwindenden Unterschieden der individuellen Begabung und der Lebensschicksale ihre Grenzen[299] findet, wobei nicht zu vergessen ist, daß diese individuellen Lebensschicksale zu einem nicht geringen Teile das Werk der eigenen Willensenergie sind. Die Berufsausbildung, die sich in fortschreitendem Maße nach den Bedürfnissen der Kultur gliedern muß, und die allgemeine Bildung, die umgekehrt mehr und mehr dem Ideal der Allgemeingültigkeit zustrebt, sind eben zwei wesentlich verschiedene Dinge. Sie sind es auch insofern, als die Höhe der spezifischen Fachausbildung keineswegs notwendig mit einer wünschenswerten Allgemeinbildung zusammenfällt, und es ist gewiß eine Schattenseite unserer gegenwärtigen Kultur, daß ein hoher Grad spezifischer Berufsbildung mit einem sehr geringen Grad von allgemeiner Bildung zusammen bestehen kann. Gibt es doch selbst Gelehrte, die in ihrer Wissenschaft Hervorragendes leisten, mit deren Allgemeinbildung es aber außerordentlich dürftig bestellt ist. Zu dieser gehören aber einerseits Gebiete, die ein allgemeingültiges geistiges Interesse besitzen, wie vor allem Philosophie und Geschichte, auf der andern Seite solche, die innerhalb der Kulturbedürfnisse der einzelnen Nation und der Gesellschaft unentbehrlich sind, wie die allgemeine Rechtskunde, die Grundlagen der Wirtschaftslehre und die sittlichen Grundlagen des gesellschaftlichen und des staatlichen Lebens. In diesem Sinne ist daher die Begründung von Volkshochschulen zweifellos ein Desiderat der Zukunft. Ihr Wesen aber müßte nicht darin bestehen, daß sie, wie das bei den Unternehmungen der Fall ist, die gegenwärtig unter diesem Namen gehen, eine dürftige Sammlung von Entlehnungen aus spezifischen Fachwissenschaften sind, sondern daß sie eine ihren eigensten Bedingungen entsprechende Organisation besitzen. Auch müßte der Begriff Volk bei ihnen nicht die Bedeutung haben, daß er bloß die außerhalb der Fachbildungsanstalten stehenden, sondern daß er alle Teile des Volkes umfaßte, und die Teilnahme an ihnen dem Universitätslehrer[300] unter Umständen ebenso selbstverständlich er schiene wie dem Kaufmann, dem Techniker und schließlich dem Arbeiter.

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 293-301.
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