Maitrâyanî-Upanishad

[198] Die hier in ihren ersten Abschnitten übersetzte Upanishad enthält eine Reihe von Belehrungen, die Shâkâyanya dem in tiefer Kasteiung begriffenen Könige Brihadratha erteilt. Woher kommt das Leben? Wie wird der Leib mit Bewußtsein und Bewegung erfüllt? Von dem, der frei von Attributen über allem steht, dem unsichtbaren Purusha, der mit einem Teil von sich in die Körper eingeht und sie zum Leben erweckt. Der Herr der Wesen schuf zuerst viele Wesen, die aber bewußtlos wie ein Stein waren und von ihm durchdrungen wurden. Er teilte sich dabei fünffach und nahm selbst in dem Versteck des Herzens seinen Sitz. Er stieß die Öffnungen des Leibes und genoß durch sie hindurch die Sinnenwelt.

Es beruht wohl auf verschiedener Lehre, wenn unser Text von diesem Âtman, den die Folgen des Karman nicht überwältigen, nun den Einzelâtman unterscheidet, der die Folgen trägt und in einem Mutterschoß nach der Art seines Karman gelangt.

Im dritten Kapitel schildert der Verfasser den Körper und die Verstrickung des Einzelâtman in die Bande der Materie. Er stellt eine Beziehung her zwischen ihm und dem Purusha im Inneren, der jene Einzelseele überwältigt und zum Handeln veranlaßt. Die Einwirkungen der Qualitäten Rajas und Tamas sind es, die sie erfüllen und zu verschiedenen Gestalten führen.

Abschnitt 4 beschreibt die unabwendbaren Folgen des Karman und beantwortet die Frage, wie die Einzelseele die Vereinigung mit der höchsten Seele erlangen kann. Er erklärt ferner die verschiedenen Götter als Erscheinungsformen des körperlosen höchsten Brahman.

Die Upanishad ist formell nicht gut überliefert und scheint viele Zusätze erfahren zu haben. Sie enthält manch tiefen Gedanken. Die Zitate aus verschiedenen anderen Upanishads, der Gebrauch späterer Termini und manche wörtliche Übereinstimmung mit einem Sânkhyatext beweisen, wie Deussen gezeigt hat, ihre spätere Stellung. Dahlmann (Nirvâna S. 165) stellt sie mit der Katha- und Shvetâshvatara-Upanishad zusammen in die zweite Klasse der philosophischen Denkmäler, welche die Grundlinien früherer Anschauungen zu einem in sich abgeschlossenen philosophischen Systeme ausgebaut haben. Ob diese Upanishad Anschauungen vertritt, die der Sonderentwicklung des Sânkhya- und des Vedântasystems vorausgingen oder, nach Garbe (Sânkhya1 S. 21; 232), das Produkt einer Zeit sind, welche der Beeinflussung des[199] Brahmanismus durch das Sânkhyasystem folgte, läßt sich noch nicht entscheiden.

Am Ende meiner Übersetzung findet sich ein Abschnitt aus dem 7. Kapitel, der von Ketzereien aller Art handelt, von Shûdras, die die Lehrbücher studieren, von Sophisten, die spitzfindig argumentieren, Leugnern des Âtman und anderen Häretikern mehr. Oldenberg hat in seinem Buddha 5201 mit Recht gesagt, es sei nicht beweisbar, daß die Buddhisten mit einbegriffen werden, aber die Möglichkeit zugegeben. Ich sehe in dem Text nur Anspielungen auf den Niedergang des Âtmanglaubens, auf Bettelmönche, die zu Unrecht die gelbe Robe tragen. Die Upanishad richtet sich gegen die Auswüchse, gegen die negative Seite des Sânkhyasystems, nicht gegen das System, das der Verfasser in seinen Grundlinien herübernimmt und mit der Lehre vom Âtman verbindet. Der Pessimismus gehört zu diesen Auswüchsen. Es ist nicht richtig, daß diese Upanishad den Pessimismus selbst verkündet. Nur der Fragesteller äußert sich in dem Sinne, als er zu dem gelehrten Kenner des Âtman flüchtet und ihn um Unterweisung im Âtman bittet; er kommt aus dem Lager der Pessimisten. Der Lehrer geht 3, 4 nur flüchtig darauf ein, und zwar mit Worten, die diese Äußerung als ein Zitat zeigen; vielleicht sind sie sogar ein späterer Einschub. Der Verfasser betont die Existenz des Brahman, die Notwendigkeit, Tapas zu üben, da es die Vorstufe der Erkenntnis bildet, und die schließliche Vereinigung der Seele mit dem Âtman, dem Purusha. Mit dem Sânkhya teilt er die Lehre von den drei Konstituenten der Materie, von der Verstrickung der Einzelseele in die Materie. Die Upanishad ist wohl das Werk einer besonderen Richtung. Wir müssen damit rechnen, selbständigen anderen Lehrern und Schulen zu begegnen, die in Indien zahlreicher waren, als die scharfumrissenen überlieferten Systeme glauben lassen.


Die Feuerschichtung der Vorfahren war eine Verehrung des Brahman. Darum soll ein Opferer nach der Schichtung der Feuer seine Betrachtung auf das Selbst lenken. Dann fürwahr wird das Opfer vollständig und lückenlos. Wer ist es, auf den man seine Betrachtung lenken soll? Der ist es, der Prâna heißt. Davon erzählt man folgendes.

Ein König mit Namen Brihadratha setzte seinen Sohn in die Herrschaft ein. Er hielt den Körper für vergänglich, entsagte der Welt und zog in den Wald. Er unterzog sich dort der schwersten Kasteiung, blickte in die Sonne und stand da mit emporgestrecktem Arm. Nach Verlauf von 1000 Tagen nahte ihm der Kenner des Âtman, der ehrwürdige[200] Shâkâyanya; wie ein rauchloses Feuer versengte er gleichsam mit seiner Glut. »Laß ab, laß ab; wähle dir einen Wunsch«, sprach er zum König. Dieser erwies ihm Verehrung und sagte: ›Ehrwürdiger, nicht bin ich des Âtman kundig; du kennst sein Wesen, so haben wir gehört. Verkünde es uns.‹ »Das war einmal. Schwer möglich ist es, diese Frage zu beantworten1. Wähle andere Wünsche aus, Sproß aus Ikshvâkus Stamm!« Der König berührte mit seinem Haupt dessen Füße in Verehrung und sprach die Gâthâ:

›Ehrwürdiger, in diesem übelduftenden, wertlosen Leibe, diesem Gemisch von Knochen, Haut, Sehnen, Mark, Fleisch, Samen, Blut, Speichel, Tränen, Augenfluß, Kot, Urin, Galle, Schleim, wer kann darin Freude genießen? In diesem Leibe, den Lust, Zorn, Habsucht, Verwirrung, Furcht, Kleinmut, Trennung von Liebem, Vereinigung mit Unliebem, Hunger, Durst, Alter, Tod, Kummer u.a. peinigen, wer kann darin Freude genießen?

Und all das, sehen wir, ist vergänglich: Fliege, Bremsen u.a., Gräser und Bäume, sie entstehen und vergehen. Aber was besagen die? Andere sind mehr: große Bogenschützen und verschiedene Welteroberer, Sudyumna, Bhuridyumna (usw.), ja Könige wie Marutta, Bharata, mußten angesichts ihrer Verwandten ihre hohe Würde aufgeben und aus dieser in jene Welt gehen. Doch was besagen die? Andere sind mehr: wir nehmen die Vernichtung von Gandharven, Dämonen, Halbgöttern, bösen Geistern (usw.) wahr. Doch was besagen die? Große Meere vertrocknen, Berge fallen, der Polarstern wankt, die Windstricke (an denen die Sterne hängen) reißen, die Erde versinkt, die Götter gleiten von ihrer Stelle. Wer vermag in einem solchen Weltlauf Freude zu empfinden? Und ist man davon gesättigt, so kehrt man mehr als einmal wieder zurück. Darum mußt du mich retten. Wie ein Frosch im leeren Brunnen bin ich in diesem Weltlauf. Ehrwürdiger, du bist mein Heil, du bist mein Heil.‹


(1)
[201]

Da sprach der ehrwürdige Shâkâyanya zum Könige sehr befriedigt: »Mahârâja Brihadratha, du Panier des Ikshvâkustammes, du wirst des Âtman schnell kundig und deines Zieles teilhaftig sein; bist du doch unter dem Namen Marut (›Wind‹) weitberühmt. Dieser Âtman, von dem du sprachst2, ist dein eigener Âtman.«

›Ehrwürdiger, welchen meinst du?‹

Er sagte zu ihm: »Der, welcher ohne den Atem zu hemmen, nach oben austritt und hier und da umherschweifend3 die Finsternis vertreibt, das ist der Âtman. So sprach der ehrwürdige Maitri.« [So sprach er: ›Wenn diese selige Ruhe (die Seele im Tiefschlaf) aus diesem Körper aufsteigt, in den höchsten Glanz eingeht und in ihrer eigenen Gestalt zur Vollendung kommt, so ist dies der Âtman‹, so sagte er. Das ist das aller Gefahr entrückte Unsterbliche, das ist das Brahman4.] »Diese Wissenschaft vom Brahman, fürwahr, oder die Wissenschaft aller Upanishads, o König, ist uns vom ehrwürdigen Maitri auseinandergesetzt worden. Ich will sie dir erklären. Man spricht von den sündlosen, gewaltigen, keuschen ›Vâlakhilyas‹. Diese sagten zu Kratu Prajâpati: ›Ehrwürdiger! Ohne Bewußtsein ist dieser Leib wie ein Wagen. Welches übersinnliche Wesen besitzt solche Macht, daß es den so beschaffenen Leib mit Bewußtsein erfüllt, aufrichtet und bewegt? Wenn du davon weißt, Ehrwürdiger, sage es uns.‹ Er sprach zu ihnen:

›Der, welcher nach der Lehre über allem steht, wie die Asketen über den Eigenschaften der Materie, der rein, geläutert, frei von Attributen, in sich ruhig, ohne Atem, ohne Ich, unendlich, unvergänglich, fest, von immerwährender Kraft, frei, in seiner eigenen Größe ruht, von dem ist dieser Körper mit Bewußtsein erfüllt und aufgerichtet worden. Er ist es, der diesen bewegt.‹ Sie sprachen: ›Heiliger, wie ist es möglich, daß der so beschaffene und ganz feine5 den so beschaffenen Leib mit Bewußtsein erfüllt, aufrichtet, und wie vermag er ihn zu bewegen?‹ Er sprach zu ihnen:[202]

›Dieser feine, unergreifbare, unsichtbare, Purusha genannt, kehrt ohne vorherige Wahrnehmung mit einem Teil von sich in diesen Körper ein; in derselben Weise, wie bei einem Schlafenden ohne vorherige Wahrnehmung das Erwachen stattfindet. Dieser genannte Teil, der aus Geist (cetâ) besteht, individuell6, des Leibes kundig7 ist, durch Vorstellen, Entschließen und Ichbewußtsein gekennzeichnet wird und ein Prajâpati mit der Bezeichnung Vishvâ ist, der erfüllt diesen Leib mit Bewußtsein, richtet ihn auf und ist es, der ihn bewegt.‹ Sie sprachen: ›Ehrwürdiger, wenn dieser so beschaffene und ganz feine diesen so beschaffenen Leib mit Bewußtsein erfüllt, aufrichtet und bewegt: wie ist das möglich?‹ Er sprach zu ihnen:

›Prajâpati war anfänglich allein. Er hatte allein keine Freude. Er richtete sein Denken auf sich und schuf viele Wesen. Er sah sie wie einen Stein bewußtlos und leblos dastehen, wie einen Baumstumpf. Daran hatte er keine Freude und dachte, ich will einzeln in das Innere von jedem von diesen eindringen, um sie zum Bewußtsein zu bringen. Er machte sich dem Winde ähnlich und drang in ihr Inneres ein, aber ungeteilt vermochte er es nicht. Er teilte sich fünffach und heißt Prâna, Apâna, Samâna, Udâna, Vyâna.8...

Er teilte sich fünffach und barg sich in der Höhle (des Herzens). Geist, so heißt es, ist sein Stoff, der Hauch sein Leib, Glanz seine Erscheinungsform, die Wahrheit sein Wollen, der Raum [Äther] sein Selbst9. Er hatte seinen Zweck aus seiner Wohnstätte im Inneren des Herzens heraus aber nicht erreicht und wünschte, die Sinnesobjekte zu genießen. Daher stieß er die Öffnungen (Auge, Ohr usw.) und genießt, heraustretend, mit Hilfe der fünf Zügel die Sinnenwelt. Die fünf geistigen Sinnesorgane (Gehör, Gefühl, Auge, Zunge, Geruch) sind seine Zügel, die fünf groben Sinnesorgane (Stimme, Hand, Fuß, After, Schoß) die Rosse, der Körper ist der Wagen, das Manas der Wagenlenker10, die Welt der Materie die Peitsche. Von ihr angetrieben bewegt[203] sich dieser Leib umher wie ein Rad, das der Töpfer antreibt. Auf diese Weise hat er diesen Leib mit Bewußtsein erfüllt, aufgerichtet und ist er sein Beweger.

Dieser genannte Âtman wird, so wollen die Weisen, von den weißen und schwarzen Früchten des Karman nicht übermannt und schweift in den Leibern umher; weil er unentfaltet, überaus fein, nicht wahrnehmbar, nicht faßbar, frei vom Ich ist, hat et keine Stätte im Unwirklichen, ein Täter, der nicht handelt ...11; er ist rein, fest, unbeweglich, unbefleckbar, unbeirrbar, ohne Begehren und, wie ein Zuschauer verharrend, ruht er in sich ...; mit einem aus den drei Grundbestandteilen (der Materie) bestehenden Gewande sich verhüllend steht er da, steht er da.‹«


(2)


»Sie sprachen: ›Ehrwürdiger, wenn du in dieser Weise die Größe des Âtman schilderst, wer ist jener andere, der niedriger ist12 als er, (wie er) Âtman genannt, der, von den weißen und schwarzen Früchten übermannt, in einen guten oder schlechten Mutterschoß eintritt und aufwärts oder abwärts wandelnd, von den Gegensätzen (Lust und Schmerz usw.) übermannt, umherwandert?‹

›Es gibt einen anderen, der niedriger ist als er, Bhûtâtman genannt, der, von den weißen und schwarzen Folgen des Karman überwältigt, in einen guten oder schlechten Mutterschoß eintritt und aufwärts oder abwärts wandelnd, von den Gegensätzen übermannt, umherwandert. Man erklärt ihn so:

Die fünf Grundstoffe werden mit dem Namen Bhûta (d.i. Element) bezeichnet und ebenso die (daraus entstehenden) groben Elemente. Ihre Vereinigung heißt ›Körper‹, und das, was in dem Körper wohnt, der bhûtâtman, der Elementenâtman, die Einzelseele. Nun ist diese Seele unsterblich, wie ein Tropfen auf dem Lotusblatt (der nicht haftet und sich nicht verbindet), aber sie wird übermannt von den drei Bestandteilen des Urstoffes. Weil sie übermannt wird,[204] verfällt sie dem Irrtum. Weil sie dem Irrtum verfällt, erkannte sie nicht den in ihr wohnenden, ehrwürdigen Ursacher alles Tuns. Von den Wogen der Bestandteile des Urstoffes fortgetragen, beschmutzt, locker, schwankend, befleckbar13, begehrlich, zerfahren, verfällt sie dem Gedanken an ein Ich, und indem sie wähnt ›das bin ich, das ist mein‹, bindet sie sich durch sich selbst wie durch das Netz der Vogel; von den Früchten ihrer Taten übermannt, tritt sie in einen guten oder schlimmen Mutterschoß ein. Aufwärts oder abwärts wandelnd, von den Gegensätzen übermannt, wandert sie umher.‹

›Was für eine ist das?‹ Er sprach zu ihnen:

›Es heißt auch anderwärts: Der, welcher handelt, das ist die Einzelseele; der, welcher sie zum Handeln durch die Organe veranlaßt, ist der Purusha im Inneren. Wie ein Stück Eisen, vom Feuer überwältigt, von Werkleuten gehämmert, verschiedene Formen annimmt, so nimmt, von dem Purusha im Inneren überwältigt, von den Bestandteilen des Urstoffes gehämmert, die Einzelseele verschiedene Formen an. Eine in vier Gruppen, vierzehn Arten und vierundachtzig Unterarten umgewandelte Schar von Elementen ist das Wesen dieser Verschiedenheit. Diese Elemente14 werden von dem Purusha bewegt, wie das Rad vom Töpfer. Wie bei der Hämmerung von einem Stück Eisen nicht das Feuer überwältigt wird, so wird nicht jener Purusha, sondern die Einzelseele überwältigt, weil sie in die Elemente verstrickt ist.

Es heißt auch anderwärts: Dieser Leib ist aus Zeugung entstanden, in der ›Hölle‹ des Mutterleibes gewachsen, durch die Pforte des Harns hervorgekommen, aus Knochen erbaut, mit Fleisch bestrichen, mit Haut überzogen, mit Kot, Harn, Galle, Schleim, Mark, Fett, Talg und dazu mit vielen Krankheiten angefüllt, wie eine Schatzkammer mit Kostbarkeiten.

Es heißt auch anderwärts: Verwirrung, Furcht, Verzweiflung,[205] Schlaf, Mattigkeit, Fahrlässigkeit, Alter, Kummer, Hunger, Durst, Geiz, Zorn, Materialismus, Unkenntnis, Mißgunst, Mitleidlosigkeit; Verirrung, Schamlosigkeit, Nachlässigkeit, Hochmut, Ungleichmäßigkeit: das sind die Einwirkungen der Eigenschaft Tamas (Dunkelheit). Verlangen, Liebe, Leidenschaft, Habsucht, Bosheit, Liebeslust, Haß, Verschlagenheit, Neid, Unwilligkeit, Unsicherheit, Wankelmut, Zerfahrenheit, Rechthaberei, Gelderwerb, Umwerbung von Freunden, Abhängigkeit vom Hause, Abneigung gegen unerwünschte Dinge, Zuneigung zu erwünschten Dingen, harte Rede, Prahlerei: das sind die Einwirkungen der Eigenschaft Rajas (Leidenschaft). Von diesen ist die Einzelseele erfüllt, von diesen übermannt; darum nimmt sie verschiedene Gestalten an, nimmt sie verschiedene Gestalten an.‹«


(3)


»Da sprachen die Keuschen voll Erstaunen gemeinschaftlich: ›Ehrwürdiger, dir sei Verehrung. Lehre uns. Du bist unsere Zuflucht; eine andere gibt es nicht. In welcher Weise verläßt die Einzelseele diesen Leib und tritt sie in die Vereinigung mit der höchsten Seele ein?‹ Er sprach zu ihnen:

›Auch anderwärts ist gesagt: ›Unabwendbar wie die Wellen großer Ströme ist für die Einzelseele ihr früheres Tun; unaufhaltbar wie die Gezeiten des Ozeans das Nahen des Todes. Von den Fesseln der Folgen guter und schlechter Werke ist sie wie ein Lahmer gehemmt, wie ein Gefangener unfrei; sie lebt inmitten großer Furcht wie einer, der im Reich des Yama wohnt; sie ist vom Rauschtrank der Verwirrung berauscht wie ein vom Rauschtrank Berauschter; sie irrt umher wie ein vom Übel Gepackter; sie ist von den Sinnesobjekten wie von einer großen Schlange gebissen; von Leidenschaften verdunkelt wie tiefe Finsternis; voller Schein wie ein Zauberstück, voll falscher Wahrnehmung wie ein Traum, kraftlos wie eine Bananenfrucht, den Anzug wechselnd wie ein Tänzer im Augenblick, eine trügerische[206] Freude wie eine Kulisse‹. Und man sagt: ›Wort, Gefühle usw. haben zwar Bedeutung für den Menschen; sie sind in Wahrheit bedeutungslos. Die Einzelseele, die sich daran hängt, vergißt den höchsten Ort.‹

Für die Einzelseele ist das Heilmittel: Studium des Veda, Befolgung der eigenen Pflicht. Aber wenn man sagt15: ›Wandel im eigenen Lebensstand (âshrama), das ist das Gelübde der eigenen Pflicht; alles andere ist wie Halm eines Grasbüschels. Dadurch nimmt einer an dem Höchsten teil, sonst geht er niederwärts. Das ist die eigene Pflicht, die in den Veden vorgeschrieben ist. Bei Hintansetzung der eigenen Pflicht gelangt man nicht in den eigenen Lebensstand, oder ohne Beharren in dem Lebensstand nicht zum Büßertum‹, so ist das unrichtig. Man kann zur Erkenntnis nicht gelangen, die Zeremonien nicht vollenden, ohne Büßer zu sein. Durch Buße gelangt man zur Qualität ›Güte‹ (sattva), aus der ›Güte‹ gelangt man zum Manas, vom Manas zum Âtman und kehrt nach dessen Gewinnung nicht mehr zurück.

›Das Brahman ist‹, sagt der in der Wissenschaft vom Brahman Erfahrene; ›das ist die Pforte des Brahmam‹ sagt der, welcher seine Sünde durch Buße tilgt. ›Om ist die Größe des Brahman‹, sagt der, welcher darüber unaufhörlich in richtiger Hingabe nachdenkt. Darum erlangt man das Brahman durch Wissen, durch Tapas und Nachdenken. Der, welcher in dieser Erkenntnis mit jener Dreiheit das Brahman verehrt, geht über das (niedere) Brahman16 hinaus und er langt »die Göttlichkeit, die über den Göttern steht«, unvergängliches, unbegrenztes, leidloses Glück. Und wenn einer sich von dem befreit, was ihn erfüllt, übermannt und zum ›Wagen macht‹, dann geht er im Âtman selbst in die Gemeinschaft ein.‹

Sie sprachen: ›Ehrwürdiger, du bist ein trefflicher Erklärer, ein trefflicher Erklärer. Wir bewahren das von dir Gesagte im Herzen. Aber beantworte uns noch eine Frage: Agni,[207] Vâyu, Âditya, der Gott der Zeit, Prâna, Nahrung, Gott Brahman, Rudra, Vishnu: einige sinnen andächtig über den einen, andere über den anderen nach. Welcher bedeutet das Heil? Den nenne uns.‹ Er sprach zu ihnen:

›Das alles sind die vornehmsten Erscheinungsformen des höchsten, unsterblichen, körperlosen Brahman. In dessen Welt erfreut sich hier der, der einer von ihnen anhängt. Denn Brahman ist dieses alles. Über seine vornehmsten Erscheinungsformen soll er andächtig nachsinnen, sie soll er verehren, sie scheuen. Dann wirst du mit ihnen gemeinsam hoch oben in den Welten wandeln und am Ende von allem eingehen in den Purusha, in den Purusha.‹«


(4)


»Und so lautet ein Loblied des Kutsâyana:

›Du bist Gott Brahman, du bist Vishnu, du bist Rudra, du bist Prajâpati, du Agni, Varuna, Väyu, du Indra, du der Mond; du die Speise, du Yama, du die Erde, du das All, du der Unerschütterliche. Das Ziel des Individuums und das der Natur ist Beharrung in dir17. Du bist Herr über alles. Verehrung dir; du bist die Seele von allem, du bist der, der alle Werke tut. Du genießest alles, du bist alles Leben, Herr über jeglich Spiel und Lust. Verehrung dir, dessen Seele in Frieden ist, Verehrung dir, dem Tiefstverborgenen, dem Nicht-auszudenkenden, Nicht-zu-ermessenden, der ohne Anfang und ohne Ende ist.‹

Anfänglich war hier allein das Dunkel. Das dürfte in dem Höchsten ruhen. Von dem Höchsten angeregt, verfällt es in den Zustand der Ungleichheit. Diese Erscheinungsform ist das Rajas. Dieses Rajas aber, angeregt, verfällt in den Zustand der Ungleichheit. Das ist die Erscheinungsform des Sattva. Das Sattva aber, angeregt, floß aus als Essenz. Das ist der Teil, der aus Intelligenz besteht, individuell und des Leibes kundig ist18, durch Vorstellen, Entschließen und Ichbewußtsein gekennzeichnet und Prajâpati mit der Bezeichnung Vishvâ ist. Seine Erscheinungsformen sind oben[208] genannt worden. Der Anteil, der aus dem Dunkel stammt, der, ihr Brahmaschüler, ist Rudra; der Anteil, der aus dem Rajas stammt, der, ihr Brahmaschüler, ist Gott Brahman; und der Anteil, der aus dem Sattva stammt, der, ihr Brahmaschüler, ist Vishnu. Jener Eine hat sich dreifach geteilt, achtfach, elffach, zwölffach oder ins Unendliche. Er trat hervor, und weil er hervortrat (udbhûta), wandelt er als Wesen (bhûta) in den Wesen, in die er einging. Er wurde der Oberherr der Wesen: das ist der Âtman innen und außen, innen und außen.«


(5)

1

Text ist entstellt.

2

vâva khalu.

3

vyayamânovyayamâno, nicht: 'vyayamâno.

4

Ein Zitat aus der Chândogya 8, 3 (siehe oben S. 124); das aber schwerlich von Maitri selbst gegeben wird, sondern eine in den Text geratene Randglosse eines Exegeten ist, der diese Stelle vergleichend hinzuschrieb.

5

Cowell: ›abiding aloof‹; Deussen: ›gar nicht (dem Welttreiben) angehörig‹.

6

Individuell: der einzelnen Person angehörig.

7

Bhagavadgîtâ 13, 1ff.

8

Über die fünf Hauche siehe oben S. 139f. Die Erklärung der einzelnen Hauche ist in unserem Texte etwas anders; sie ist als hier unwesentlich weggelassen worden.

9

Shat.-Br. X, 6, 3, 1; Chând. III, 14, 2 oben S. 40, 99.

10

Anders Kâthaka III, 3-4.

11

Der Text teilweise unsicher.

12

aparaḥ.

13

Nach dem Vorgange von alepyo 2, 7 ist hier statt lupyamâno lepyamâno zu lesen oder aber eben lepyo.

14

Lies bhûtâni für gunâni.

15

Die Betonung der ›eigenen Pflicht‹ muß schon mit diesem Satz beginnend angenommen werden. Diese Ansicht wird abgelehnt und auf die Buße als die Hauptsache hingewiesen.

16

In der Stelle 6, 22 unterscheidet unsere Upanishad zwei Arten des Brahman, das Wort und das Nichtwort: Und es ist anderwärts gesagt: ›Über zwei Arten des Brahman muß man in Andacht nachsinnen; über das Wort und das Nichtwort. Durch das Wort wird das Wortlose offenbar. Das Wort lautet Om. Durch Om emporgestiegen, gelangt man im Nichtwort zum Ende.‹ Und weiter: ›Das ist der Heilsweg, das das Unsterbliche, das die Vereinigung und Befreiung. Wie eine Spinne am Faden emporsteigt und die Freiheit gewinnt, so steigt der Andächtige mit Hilfe der Silbe Om empor und gelangt zur Unabhängigkeit (von der Sinnenwelt usw.)‹.

17

Unsicher.

18

Siehe 2, 5 oben S. 203.

Quelle:
Upanishaden. Altindische Weisheit aus Brâhmanas und Upanishaden. Düsseldorf/Köln 1958, S. 198-209.
Lizenz:

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