Sehnsucht einer in der Ferne vermählten Fürstentochter von Wéi nach ihrer Heimath.1

[108] Da sprudelt auf das Quellenwasser

Und fließt hinunter nach dem Khî.2

Mein ganz Verlangen ist nach Wéi,

Kein Tag, daß mich's dahin nicht zieh'.

Gar liebe Basen hab' ich hie;

Wol in Berathung nehm' ich sie.3


Beim Fortgehn nachtet' ich in Tsì,

Ich hielt das Abschiedsmahl in Nì.4

Die Tochter, die von dannen ziehet,

Von Vater, Mutter, Brüdern scheidet die.

Nur nach den Muhmen will ich fragen,

Nach ältern Schwestern dann auf sie.
[109]

Beim Fortgehn nacht' ich dann in Kān,

Ich halt' ein Abschiedsmahl in Jân.5

Ich lasse Fett den Achsen geben,

Den Wagen wenden, vorwärtsstreben,

Und hab' mich bald nach Wéi begeben. –

Ein Unrecht wär' es doch nicht eben?


Mir liegt der Fêi-thsiüân im Sinn,6

Ihm send' ich stets mein Seufzen hin.

Nach Siü und Tsáo ist mein Begehr,7

Da ist mein Herz, so sehr, so sehr! –

Fahr' ich nur aus, und hin und her,

Zu mildern meines Grams Beschwer!

1

Es wird angenommen, daß die Ältern der Sängerin nach ihrem Scheiden aus Wéi gestorben, womit dann die Erlaubniß zu einem Besuche der Heimath hinweggefallen sei. Die Dichterin geht in ihrer Phantasie bis dicht an den Beschluß der Abreise, läßt sich jedoch durch den Zweifel, ob sie damit nicht unrecht handle, zurückhalten.

2

Der Khî war ein Hauptfluß im Fürstenthum Wéi.

3

Verwandte, die sie bei sich hat, will sie um Rath fragen, ob sie wol nach Wéi reisen dürfe.

4

Tsì und Nì waren, nach Tschū-hī, Landschaften in Wéi. Diese Verse beziehen sich daher auf die erste Ausreise zur Vermählung. Das »Abschiedsmahl« fand vor Entlassung des Geleites bei einem Opfer für die glückliche Weiterreise statt.

5

Hier malt sich die Sängerin ihre Rückreise nach Wéi aus, und es ist daher mit Tschū-hī anzunehmen, daß Kān und Jân Landschaften waren, wodurch der Weg nach den Gränzen von Wéi führte.

6

Der Fêi-thsiüân war ein Fluß in Wéi.

7

Siü und Tsáo waren Städte dieses Fürstenthums.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 108-110.
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