Unverdiente Zurücksetzung und Kränkung.2

[92] Da schwimmet der Cypressenkahn,

Und schwimmet seine Wogenbahn.

So treibt mich's ohne Ruh' und Schlaf,

Wie wen da nagt des Schmerzes Zahn.

Nicht, weil mir Wein wär' abgethan,

Daß ich lustwandle sonder Plan.


Kein bloßer Spiegel ist mein Herz,

Aufnehmen kann es nicht allein.

Und hab' ich ja der Brüder auch,

Das kann mir keine Stütze sein.

Komm' ich und klage meine Pein,

So fährt ihr Zorn auf mich herein.
[92]

Mein Herz ist nicht ein Stein der Flur,

Den hin und her man trollen kann;

Mein Herz ist keine Matte nur,

Die auf und zu man rollen kann;

Stets übt' ich Ehrbarkeit und Zucht,

Nichts, dem man Tadel zollen kann.


Nur Grams ist sich mein Herz bewußt,

Mich haßt die Schaar voll niedrer Lust;

Daß ich der Kränkung viel schon sehn,

Der Schmach nicht wenig tragen mußt'.

Stillschweigend sinn' ich drüber nach,

Wach' auf – und schlag' an meine Brust.


O Sonne du, und du, o Mond,

Habt ihr das Wechseln umgegeben?

Ach meines Herzens bittres Leid

Ist ungewaschnen Kleidern eben.

Stillschweigend sinn' ich drüber nach,

Und – Flügel kann ich nicht erheben.

2

Die Ausleger sind uneinig, ob dieses Lied die Klage einer Frau oder eines Beamten über unverdiente Zurücksetzung sei. Der Zusammenhang mit den gleich folgenden Liedern läßt das Erste erwarten.

Quelle:
Schī-kīng. Heidelberg 1880, S. 92-93.
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