Nṛisiṅha-uttara-tâpanîya-Upanishad.

[776] Die Nṛisiṅhapûrvatâpanîyâ verfolgt, wie wir sahen, in allen fünf Upanishad's, aus denen sie besteht, als Zweck den Kultus der Nṛisiṅha-formel; die Formel ist das Idol, dessen Verehrung in ihr gefordert wird, und alles, was an philosophischen Elementen vorkommt, tritt in den Dienst dieses Zweckes. In dieser Form mochte das Werk den religiösen Bedürfnissen der Menge, unter deren Händen schliesslich alles zum Idole wird, genügen; allenfalls mochte durch die eingestreuten philosophischen Andeutungen auch im Volke die unbestimmte Ahnung eines tieferen, ihm unfassbar bleibenden Gehaltes erweckt und lebendig gehalten werden.

Diesen tieferen Gehalt für die wenigen, die dafür empfänglich waren, und welchen die Pûrvatâpanîyâ nur als Vorstufe diente, zu entwickeln, ist der Zweck der Nṛisiṅha-uttara-tâpanîya-Upanishad. In ihr spielt die Nṛisiṅhaformel, so hoch sie auch, bei der Identifikation des Nṛisiṅha mit dem höchsten Âtman, in Ehren bleibt, doch nur eine nebengeordnete Rolle; das ganze Schwergewicht fällt auf eine komplizierte philosophische Entwicklung, die sich zwar wesentlich auf älteren Stellen, namentlich der Mâṇḍûkya-Upanishad, aufbaut, aber auch nicht arm an neuen und mitunter, namentlich gegen den Schluss hin, recht sehr in die Tiefe gehenden Momenten ist.

Die Grundanschauung ist die einer vierfachen Identität, die wir in der Gleichung festhalten können:

Âtman = Om = Brahman = Nṛisiṅhha,

wobei Âtman als psychisches Prinzip vermittelst des Om-Lautes dem Brahman als kosmischem Prinzip gleichgesetzt wird und wiederum alle drei im Nṛisiṅha symbolisch angeschaut werden. An diese Grundanschauung schliesst sich als durchlaufender Grundgedanke an, dass der (mit Om, Brahman, Nṛisiṅha identische) Âtman nur in seinem höchsten, sechzehnten Aspekte als vollkommen indifferentes Subjekt des Erkennens (avikalpa) in voller Reinheit fortbesteht, während er mittels fünfzehn untergeordneter Formen in die Welt hineinragt und deren Realität bedingt, dass aber diese ganze Realität der Welt und jener fünfzehn untergeordneten Formen, vom höchsten Standpunkte betrachtet, eine nichtige ist. Die innere Einheit des Âtman[777] in allem Seienden wird dabei durch die kunstvoll durchgeführte Verflechtung aller Formen untereinander zur Anschauung gebracht.

Zunächst werden, im Anschlusse an die Mâṇḍûkya-Upanishad, die vier Zustände des Âtman unterschieden:

I. Das Wachen und die (grobe) Welt des Wachens.

II. Der Traum und die (feine) Traumwelt.

III. Der Tiefschlaf und die Samenwelt, Ursachwelt (vgl. Gauḍap. 1,13: vîjanidrâyutaḥ prâjñaḥ, oben S. 580).

IV. Der Turîya (sc. âtmâ, oder das Turîyam, sc. sthânam), der vierte Stand, das Zuschauersein, in welchem die Einswerdung von Subjekt und Objekt unter Fortbestehen des Bewusstseins, wie im dritten unter Erlöschen desselben, eintritt (vgl. Gauḍap. 1,12: turyam tat sarvadṛik sadâ, oben S. 580).

Jeder der drei ersten Zustände ist versetzt mit allen vier Zuständen, ist also 1. grob (Wachen), 2. fein (Traum), 3. Same (Tiefschlaf), 4. Turîya (Zuschauer).

Hingegen besteht im Turîya (und, sofern die drei andern Stände an ihm teil haben, auch in ihnen) eine andre Vierteilung. Er ist:

1. ota »eingewoben« (Bṛih. 3,8) als das die ganze Welt durchziehende intellektuelle Element;

2. anujñâtṛi »Bejaher« (wechselnd mit anumantṛi1 »Einwilliger«) nicht im Sinne der Schopenhauer'schen »Bejahung des Willens zum Leben«, sondern als das Geistige, welches erst den Dingen eine positive Wesenheit verleiht (»das Denken macht diese ganze wesenlose Welt wesenhaft« Nṛisiṅhott. 8b, unten S. 796).

3. anujñâ »Bejahung«, ebendasselbe nach Abstreifung der Persönlichkeit (sich zu anujñâtṛi verhaltend wie das überpersönliche Brahman zum persönlichen Îçvara).

4. avikalpa »Indifferenz«, die völlige Auslöschung aller Unterschiede, so dass nur noch das reine, objektlose Subjekt des Erkennens bestehen bleibt. (Hauptstellen für die Erklärung dieser vier Grundbegriffe sind unten S. 783 und 796).

Sofern Wachen, Traum, Tiefschlaf am Turîya teil haben, enthalten sie auch ota, anujñâtri, anujñâ, avikalpa und sind eben dadurch in den Turîya »einmündend« (turîya-avasita). Aber alle drei Zustände (Wachen, Traum und Tiefschlaf) und auch vom Turîya die drei ersten Bestimmungen (ota, anujñâtṛi, anujñâ) sind sämtlich »nur Tiefschlaf, Traum und blosse Täuschung« (S. 780); vollkommen real ist nur avikalpa, »denn der Âtman hat als einzigen Geschmack das Denken« (S. 781).

Dieser höchste, durch Abtrennung alles Weltge schmackes gefundene Zustand ist »der vierte des vierten« (turîya-turîya), ist der Âtman selbst in seiner reinsten Gestalt, und die Darstellung im letzten Kapitel, wie derselbe nicht durch intellektuelle Tätigkeit, sondern durch Innewerdung [778] (anubhava) als das Selbst in uns zu fühlen und zu finden ist, gehört mit zu dem Schönsten und Wertvollsten, was altindische Vertiefung in die Geheimnisse des eignen Innern zutage gefördert hat.


Om!

Heilvolles lasst mit Ohren hören, Götter,

Heilvolles uns mit Augen sehn, ihr Heil'gen;

Mit festen Gliedern, preisend, lasst uns leibhaft

Das gottgesetzte Lebensziel erreichen!

(Ṛigv. 1,89,8).


Heil schenke Indra uns, der hochberühmte,

Heil Pûshan uns, der alles Reichtums Herr ist,

Heil Târkshya uns, des Radkranz unversehrt bleibt,

Heil möge auch Bṛihaspati uns schenken!

(Ṛigv. 1,89,6).


Om, Friede! Om, Friede! Om, Friede!


Fußnoten

1 Vielleicht geht der Ausdruck zurück auf Bhag. G. 13,22: upadrashṭâ numantâ ca.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 776-779.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten

Anders als in seinen früheren, naturalistischen Stücken, widmet sich Schnitzler in seinem einsamen Weg dem sozialpsychologischen Problem menschlicher Kommunikation. Die Schicksale der Familie des Kunstprofessors Wegrat, des alten Malers Julian Fichtner und des sterbenskranken Dichters Stephan von Sala sind in Wien um 1900 tragisch miteinander verwoben und enden schließlich alle in der Einsamkeit.

70 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon